10. Oktober 1920: Volksabstimmung in Kärnten – was sagt uns das heute?

Kann man heute noch eine kontroverse Abstimmung, die in der Vergangenheit oft missbraucht wurde, feiern? Ja, man kann, wenn man sie historisch richtig einordnet und in die Zukunft blickt. Die Gedenkfeier in Villach macht das seit einiger Zeit und das ist gut so. Man sollte solche Tage nicht den Ewiggestrigen und den Rückwärtsgewandten überlassen. Aus diesem Grund habe ich auch die Einladung, die Festrede zu halten, gerne angenommen. Auch wenn die Erinnerungstafel an der Kirche, vor der die Feier stattfand, vom „Kampf – im großen Krieg von 1914 bis 1918 – für das Deutschtum“ spricht und manche Teile der Zeremonie mir als unzeitgemäß erschienen, so war der Tenor einer der Versöhnung und der Gerechtigkeit für alle.

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Die Abstimmung von 1920 als gutes Beispiel?

Am 10. Oktober 1920 hat die zur Abstimmung aufgerufene Bevölkerung in Kärnten sich für Österreich und damit für eine gewohnte wirtschaftliche Verbindung aber letztendlich auch für Freiheit gestimmt. Eine Freiheit, die allerdings durch den Nationalsozialismus und den furchtbaren 2. Weltkrieg unterbrochen wurde.

Was diese Abstimmung zu allererst zeigt, ist, dass Gewalt nicht immer zum Ziel führt, wenn die Menschen selbst die Möglichkeit haben zu entscheiden – bei einem international beobachteten und fairen Verfahren.

Vielleicht wäre eine solche Lösung auch für die Krim und die Ostukraine eine Möglichkeit, den Konflikt zu beenden. Warum können sich die Machthaber in Russland und der Ukraine nicht auf eine solche Vorgangsweise einigen? Wenn sie sich sicher sind über die Einstellung der Bevölkerung dann sollte das kein Problem sein. Was 1920 möglich war, sollte auch heute möglich sein.

Mehrheit und Minderheit – Gewinner und Verlierer

Sicher, Volksabstimmungen bzw. Referenden haben neben Gewinnern immer auch Verlierer – auch wenn das Ergebnis relativ eindeutig ausfällt, wie im Kärntner Fall. Noch komplizierter ist das zum Beispiel im Falle der Brexit Abstimmung, wo England und Wales für den Austritt aus der EU waren und den Ausschlag gaben und Schottland und Nord Irland für ein Verbleiben in der EU gestimmt haben.

Oder nehmen wir den besonders krassen Fall der Abstimmung über den Friedensvertrag zwischen der Kolumbianischen Regierung und der Guerillabewegung FARC. Eine knappe Mehrheit der Bevölkerung stimmte bei einer geringen Beteiligung bei der Abstimmung dagegen und dennoch erhielt Präsident Santos den Friedensnobelpreis.

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Weder Frieden noch Minderheitenrechte können durch Volksentscheid aufgehoben werden oder allein dadurch gesichert werden. Referenden und Volksabstimmungen sind nie das Ende eines schwierigen Trennungs- bzw. Vereinigungsprozesses. Der Mehrheit muss genüge getan werden – das ist ein Gebot der Demokratie – aber auch die Minderheit hat Recht auf Anerkennung und Respekt – auch das verlangt die Demokratie.

Wie wir sehen, dauern solche Prozesse sehr lang. Zu viele Vorurteile und Misstrauen sind am Werk. Aber wie man auch am Beispiel Kärnten sehen kann, können Kompromisse – und ohne solche geht es nicht – gefunden werden, die Lage auch beruhigen und Spannungen abbauen.

Ich möchte das besonders betonen, weil heute Kompromisse fast immer mit dem Adjektiv „faul“ versehen werden. Kaum empfiehlt man einen Kompromiss empfängt man die Aufforderung: „machen sie keine faulen Kompromisse“!

Aber der ganze Einigungsprozess in Europa kann nur auf Kompromissbasis erfolgen. Es können nie alle Recht haben und Recht behalten. Und es hat auch nie nur Einer Recht.

Nationalismus versus Patriotismus

Die Nationalisten hingegen behaupten das jeder für sich. Das Eigene ist immer das Beste. Das betrifft die eigene Moral, die eigene Religion, die eigene Sprache. Aber genau das unterscheidet sie von den Patrioten.

Der Patriot bekennt sich zum eigenen Staat und dessen Kultur, Sprache etc. Aber er stellt sich mit diesem Bekenntnis nie arrogant gegen Menschen anderer Staaten und anderer Lebensauffassungen. Wir sollten uns daher hüten, den Patriotismus in einen sturen und überheblichen Nationalismus zu verformen.

Angesichts von Globalisierung und Wanderung sowie angesichts verstärkter Flüchtlingsbewegungen ist die Gefahr groß, dass der Stolz auf unsere Eigenschaften von der Sprache bis zur Religion, von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bis zu den mühsam errungenen Elementen der Aufklärung, in Arroganz und Ablehnung des Anderen und der Anderen umschlägt.

Selbstbewusstsein und Stolz dürfen aber nicht mit Überheblichkeit und Intoleranz verwechselt werden.

Toleranz

Im Übrigen hat Toleranz unsere Gesellschaften immer nur vorwärts gebracht -zum Unterschied zur Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit. Schon in der Österreichisch Ungarischen Monarchie war es so, dass in Phasen der Toleranz und des Ausgleichs Frieden herrschte und der Wohlstand zunahm.

Wenn ich nun in Villach von Toleranz spreche so bin ich sehr stolz, dass ich eingeladen wurde, als Präsident des Kuratoriums des Denkraums Fresach die neuen aber inzwischen schon bewährten Toleranzgespräche im kleinen Ort Fresach nahe bei Villach mitzugestalten. Und ich möchte der Stadt Villach und insbesondere dem Bürgermeister der Stadt für die großzügige Unterstützung herzlich danken.

Das neue Europa, zum Unterschied vom Europa der Bürgerkriege und der Religionskriege sowie der beiden von Europa ausgehenden Weltkriege, ist auf dem Grundsatz der Toleranz aufgebaut.

Aber solche Grundsätze wie Toleranz, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind niemals für immer gesichert. Sie müssen immer wieder erkämpft und auch weiterentwickelt werden.

Europa braucht Kompromisse und Toleranz

Die noch immer im Aufbau befindliche Europäische Union braucht beides, Kompromissfähigkeit und Toleranz. Aber damit nicht genug. Als begeisterter Europäer würde ich mir mehr Vision und Bereitschaft zu Reformen wünschen. Nichts an der EU sollte für selbstverständlich genommen werden.

Europa muss stärker eine Verbindung zu und mit den BürgerInnen finden. Sonst ist die EU in Gefahr, auseinander zu fallen und maximal als Freihandelszone weiter zu existieren.  Wir müssen uns auf jene Aufgaben konzentrieren, die die Mitgliedstaaten und Regionen nicht allein erfüllen können. Wenn die EU nicht mehr ihre Notwendigkeit und Nützlichkeit demonstrieren kann, wird sie kaum überlebensfähig sein.

Neue Grenzen würden aufgezogen werden und der Nationalismus würde erstarken. Und das würde nicht zuletzt auch das Kärntner Grenzland betreffen, das durch Österreichs Beitritt zur EU mehr in die Mitte unseres Kontinents gerückt ist.

Regionales Bewusstsein und Denken über die Grenzen hinaus

Damit würden wir aber vor allem unserer Jugend viele Chancen nehmen. Gerade sie braucht aber ein Denken in größeren Zusammenhängen.

Ein solches Denken widerspricht aber nicht, dass wir auch wieder mehr auf unsere Regionen Wert legen. Es wäre eine völlig falsche Interpretation von Europa, würde man nicht die Bedeutung der einzelnen Regionen und der Pflege der kulturellen Eigenarten und der lokalen Wirtschaft als wichtig für die europäische Identität sehen.

Diese besteht ja sogar aus der Vielfalt und Vielfältigkeit. Das macht ja Europa aus.

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Im Übrigen haben wir alle eine mehrfache Identität, weil wir von vielen identitätsbildenden Faktoren beeinflusst sind: unsere Familie, unsere Religion die geographische Herkunft etc.

Anderseits ist nur ein Europa, das über seine Grenzen hinausschaut, fähig unseren Menschen Wohlstand und Sicherheit zu bewahren. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel, die heute so oft kritisiert wird, die ich aber bewundere, hat das unlängst klar ausgedrückt:

„Wenn ich als deutsche Bundeskanzlerin dafür sorgen will, dass es uns Deutschen gut geht, dass die Europäische Union zusammenhält, muss ich mich darum kümmern, dass es in Europas Nachbarschaft so zugeht, dass Menschen dort Heimat auch als Heimat empfinden können.“

Für uns ÖsterreicherInnen und nicht zuletzt für die KärntnerInnen beginnt diese Nachbarschaft am Balkan. Noch immer gibt es dort politische Kräfte, die ethnische Zugehörigkeit über das Menschsein als solches stellen. Die letzten Wahlen in Bosnien-Herzegowina haben das erst jüngst wieder gezeigt: Serben wählen Serben, Bosniaken wählen „ihre“ KandidatInnen etc.

Der ethnische Nationalismus führt aber genauso wenig zu Fortschritt und Wohlstand wie der staatliche Nationalismus. Und das gilt auch für den religiös beeinflussten Extremismus, der vor allem in Syrien und im Irak sein tödliches Unwesen treibt. Und in Afrika, nicht zuletzt in Libyen, finden wir öfters einen stammesbedingten Nationalismus, der zu Bürger- und zwischenstaatlichen Kriegen führt.

Das neue Europa als moralische Instanz

Europa kann aber nur als moralische Instanz wirken, wenn dieses Europa den Nationalismus und den Extremismus überwindet. Wenn Patriotismus und Stolz auf die eigenen, oft mühsam erkämpften Errungenschaften, nicht anderen mit Arroganz entgegengehalten werden.

Vielmehr sollten unsere oft erst kürzlich erzielten Werte, wie zum Beispiel die Gleichberechtigung von Mann und Frau, als Beispiele in einen vorurteilsfreien Dialog eingebaut werden.

Und da könnten gerade wir als ÖsterreicherInnen, lernend von unserer eigenen Geschichte, viel für unsere unmittelbare Heimat und unser gemeinsames Europa tun. Genau das kann uns dann besonders stolz machen.

1920 und heute

1920 hatte Europa gerade einen furchtbaren Krieg überwunden. Die USA nannten und nennen ihn den Großen Krieg. Das neue Österreich mit einem wieder zusammengefügten Kärnten ist aus diesem Krieg erstanden.

Aber bald sollte ein neuer Krieg auf Grundlage von Nationalismus und Rassenhass auch dieses Land ins Unglück stürzen. Die hohe Arbeitslosigkeit und die Verarmung, auch von unteren Mittelschichten, hat den Demagogen Vorschub geleistet. Und heute?

Noch nie hatten wir so lange Frieden und wirtschaftliches Wachstum. Aber Arbeitslosigkeit und die Angst, dass Chaos und Terrorismus auch auf unsere Europa und auch auf Österreich übergreifen könnten, manche die Menschen unsicher.

Die Politik muss darauf eine Antwort finden. Nicht indem sie Angst schürt, sondern die Ängste ernst nimmt und Sicherheit schafft. Und gerade Österreich und das Bundesland Kärnten, die soviel geleistet haben, sollte nicht in Pessimismus verfallen, sondern einen gesunden Optimismus entfalten. Pessimismus ist nie ein guter Lehrmeister.

Mit Stolz auf die Heimat aber ohne Überheblichkeit, mit Patriotismus aber ohne Nationalismus, können wir ein neues Europa, das noch lange nicht fertig ist, aufbauen.

Und wir können weiter ein Europa ohne innere Grenzen entwickeln, wenn wir die äußeren Grenzen schützen, ohne eine unüberwindbare Festung zu errichten. Und wir können und sollen dafür Sorge tragen, dass die Menschen überall ihre Heimat auch als Heimat empfinden und nicht fliehen müssen.

Und dann können wir auch jenen helfen, die nicht anders können als ihre geographische Heimat zu verlassen. Aber das sollten möglichst wenige sein müssen.