Brexit und was nun?

Klare aber dennoch differenzierte Entscheidung

Die Briten haben sich zum Austritt aus der EU entschieden, allerdings knapp, wie alle solche Entscheidungen heutzutage ausfallen. Hätten nur die Frauen abgestimmt, wäre – knapp – das Vereinigte Königreich in der EU geblieben. Hätten nur die Jungen abgestimmt, wäre der Brexit deutlich abgelehnt worden. Und das gleiche gilt für Schottland und Nord-Irland. Letzteres wird sicherlich seine Unabhängigkeitsbestrebungen neu auf die Tagesordnung setzen. Aber die Gesamtentscheidung war nun mal für den Brexit. Das ist – soweit man den Analysen glauben darf – vor allem für Großbritannien selbst nachteilig. Aber auch für die EU ist das sicher ein Rückschlag. Natürlich kann man sagen, dass das Vereinigte Königreich nie wirklich in der EU angekommen ist. Wenn man dauernd die EU und „Brüssel“ fundamental kritisiert und alles Böse aus Brüssel kommt, so kann man dann nicht plötzlich für den Verbleib in der EU werben, jedenfalls ist dieses Werben dann nicht von Erfolg gekrönt.

Die Chance muss genützt werden

Aber auch die EU muss sich jetzt überlegen was „ihr“ Beitrag zu dem negativen Votum war. Auch wenn man mit Recht davon ausgehen kann, dass der heute auch in den USA tonangebende Populismus – siehe Donald Trump – nicht so sehr mit der EU als solches zu tun hat, kann es nicht ein „weiter so“ geben. Die BürgerInnen sahen eine vielfach zerstrittene und ineffiziente EU. Es gab viel zu viel Streit innerhalb der Europäischen Union und zu wenig Lösungen für wichtige Probleme. Und das liegt vor allem am den Regierungsvertretern, also am Rat.

Es gelang nicht die Arbeitslosigkeit zu überwinden und mehr für die Beschäftigung zu tun. Zu lange haben wir die wachsende Verteilungsungerechtigkeit akzeptiert und für das Flüchtlingsproblem konnten keine gesamteuropäischen Lösungen gefunden werden. Und es war überdies ein Kardinalfehler nur mit Großbritannien einige Korrekturen für die EU zu verhandeln und nicht eine generelle Reform anzustreben. Da hätte man Zeit gewonnen und hätte eine grundsätzliche Debatte mit der Bevölkerung organisieren können, um auch entsprechende Reformen vorzubereiten und auch durchzuführen, bevor man zu einem oder mehreren Referenden gekommen wäre.

Populismus is en vogue

Aber man soll sich auch keine Illusionen machen. Die geringsten Ursachen für die generelle Skepsis gegenüber der EU und ähnliche Eliten befinden sich in der EU als solches. Wir befinden wir uns in einer Situation, in der viele Probleme entstanden oder zumindest sichtbar sind, die nicht so einfach zu lösen sind, wie das von den Menschen erwartet wird. Jedenfalls nicht kurzfristig und zur Zufriedenheit aller. Die Konfrontation mit all den Problemen und Entwicklungen auf dieser Welt mittels der Medien schafft Ängste und den Wunsch nach raschen, einfachen und schmerzfreien Lösungen.

Für viele, vor allem in reichen aber wachstumsschwachen Ländern, also in Europa, entsteht ein „Bild“ der Welt wo die Probleme die Lösungen übersteigen und die Politik kapituliert. Sie kapituliert vor den wachsenden Giganten wie China und deren Billigimporten, sie kapituliert vor den Flüchtlingen und den Wirtschaftsmigrantinnen, vor dem Einfluss angeblich europafremder und aggressiver Religionen wie dem Islam etc. Und da kann dann nur der Nationalstaat helfen, an dem man sich gewöhnt hat und wo man glaubt, durch ihn die „alten“ Verhältnisse wieder herstellen zu können.

Und je mehr die Menschen das „multikulturelle“ Zusammenleben nicht wirklich erleben bzw. nicht Vorteile daraus ziehen, drücken sie ihre Angst und ihr Unbehagen in Wahlen und bei Referenden aus. Man hat auch beim Brexit Referendum gesehen, dass die jüngeren und die in größeren – multikulturellen – Städten lebenden Menschen den Brexit ablehnen, zum Unterschied von denen in den ländlichen Regionen und in alten Industriezonen lebenden und zum Teil arbeitslosen Menschen.

Gemeinsame Problem gemeinsam lösen

Ja, wir könnten die Flüchtlinge generell zurückweisen, auch wenn das dem internationalen Recht widerspricht. Und im Endeffekt könnten wir den Schussbefehl der am Eisernen Vorhang gegen die Menschen die aus ihren – kommunistischen – Ländern hinaus wollten, angewendet wurde, nun gegen die Flüchtlinge, die zu uns hinein kommen wollen, reaktivierten. Aber kann eine kleine und immer kleiner werdende Minderheit der Menschheit, nämlich die Europäer, die große Mehrheit der Menschheit mit Waffengewalt in Schach halten?

Natürlich können wir nicht alle einladen zu uns zu kommen, das wäre absurd. Aber als noch immer reiches Europa könnten wir gemeinsam helfen die wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Rest der Welt voranzutreiben und Frieden zu stiften. Lange genug hat Europa das Gegenteil bewirkt und das ist mit ein Faktor, warum wir jetzt mit Migration und Flucht konfrontiert sind. Wer kann das allein schaffen? Nicht einmal eine Insel wie Großbritannien, die noch dazu durch Kolonialismus und Neokolonialismus zum heutigen Elend beigetragen hat, kann das. Aber als gemeinsames Europa können wir das tun und zwar gar nicht so sehr aus schlechten Gewissen heraus sondern im Interesse unseres Wohlergehens und des friedlichen Zusammenlebens in unserem Europa und der Welt insgesamt.

Wir brauchen also zweierlei. Wir müssen unserer Bevölkerung „reinen Wein“ einschenken und auf die Schwierigkeiten, mit denen wir konfrontiert sind, hinweisen. Aber wir müssen uns auch bemühen mehr gemeinsame Lösungen finden.

Das betrifft nicht nur die Flüchtlingsfrage sondern auch das ebenso schwierige Problem, neue Arbeitsplätze zu schaffen, die mit dem Ziel der Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Entwicklung verwendbar sind. Und wir müssen die ungleicher gewordene Verteilung der Einkommen und Vermögen wieder auf ein früheres Niveau zurückführen, auf ein Niveau, das durchaus mit Investitions- und Innovationsbereitschaft vereinbar ist.

Ein neues pragmatisches Verhältnis zum Nutzen beider

Und  wie sollte nun das Verhältnis der EU zu Großbritannien bzw. umgekehrt gestaltet werden? Wir müssen eine vernünftige und pragmatische Lösung finden wie das Vereinigte Königreich an die EU angebunden werden kann, so wie zum Beispiel die Schweiz. Aber es kann keine Privilegien geben. Auch der Austritt aus der EU hat seinen Preis. Man kann sich nicht nur die Rosinen aussuchen. Wer Vorteile haben will, muss auch manche Nachteile in Kauf nehmen. Auch die Schweiz muss das tun und auch sie zahlt ins EU Budget ein, um Vorteile zu haben.

Und auch wenn Großbritannien größer ist, ändert das nichts an diesen Tatsachen. Andernfalls wäre der Brexit Anreiz für andere Länder, sich auch einseitig Vorteile herauszuholen. Aber dann gäbe es bald keine Länder mehr, die sich bereit erklären würden, anderen zu helfen und sie finanziell zu unterstützen. Dann wären wir wieder in einer Situation wo der nationale Egoismus die Politik bestimmt. Abgesehen vom Moralischen würde das vielleicht kurzfristig einzelnen Staaten helfen, vor allem den Nettozahlern innerhalb der EU, aber nur kurzfristig. Und wenn schon kein Krieg aus diesem Nationalismus herauswachsen würde, so würde auch eine wirtschaftliche Abschottung unseren KonsumentInnen und ArbeitnehmerInnen schaden. Die heutige Wirtschaft ist arbeitsteilig.

Und gerade Österreichs Wirtschaft und Arbeitsplätze sind von unseren Exporten abhängig. Insbesondere von Exporten nach Deutschland. Daher wäre es auch besonders widersinnig würde sich Österreich durch einen Austritt aus der EU von der deutschen Wirtschaft abschotten. Das wäre reiner Masochismus. Und bezüglich der Referenden ist generell anzumerken, dass sie zwei Nachteile haben. Erstens die jeweilige Minderheit wird zum Unterschied zu Wahlen negiert und das ist bei sehr knappen Ergebnissen problematisch. Und überdies sind Ergebnisse der Referenden, selbst wenn die Mehrheit nachträglich zu einem anderen Ergebnis kommt als ursprünglich, abgestimmt und nicht so schnell zu korrigieren wie Wahlen. Und das gilt vor allem für Austrittsentscheidungen wo der Partner, also in diesem Fall die EU, nicht jederzeit wechselnde Wünsche akzeptieren kann.

Starke Eurozone, gemeinsame Sicherheitspolitik und Rückführung mancher Kompetenzen

Aber wie soll es mit der EU als solches weitergehen. Sollen wir den Austritt des größten Nicht-Euro-Mitglieds zum Anlass nehmen, die Eurozone als Kernzone der EU zu stärken und auszubauen. Oder sollen wir nicht die EU renationalisieren, um den nationalen Institutionen mehr Einfluss auf Entscheidungen zu geben. Diese beiden Ansätze stehen nicht unbedingt im Widerspruch zueinander. Einige Probleme sind nur gemeinsam zu lösen. Die erwähnten Probleme, wie die Herausforderungen der Flüchtlingsbewegungen und die wirtschaftliche Zukunft des Kontinents bzw. der Kampf für eine nachhaltige globale Entwicklung, können nur gemeinsam gelöst werden.

Andere Fragen wiederum können auch durch verschiedene Lösungen auf nationaler Ebene angegangen werden. Vielleicht müssen wir uns nicht fragen wo Probleme besser gelöst werden können, sondern wo sie einerseits nur (!) auf europäischer Ebene gelöst werden können und wo sie anderseits auch auf nationaler Ebene gelöst werden können, auch wenn das dann nicht optimal gelingt. Das gilt auch für Fragen, die eine große Wichtigkeit haben, wie Gesundheitsschutz (z.B. Warnaufschriften auf Zigarettenschachteln) und Naturschutz (z.B. Natura 2000).  Es geht nicht darum, die „wichtigsten“ Fragen auf europäischer Ebene einheitlich zu lösen sondern die Fragen, die nur auf dieser Ebene lösbar sind. Im Übrigen kann es durchaus einen Wettbewerb vom „optimalen“ Lösungen zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten geben, die dann im Laufe der Zeit zu einheitlichen Lösungen führen können, wenn die Länder so wollen.

Und für die nur auf europäischer Ebene zu lösenden Fragestellungen sollte die Eurozone eine Führungsrolle spielen. Denn sie hängen immer auch mit der Frage der wirtschaftlichen Stärke und Kompetenz zusammen. Und eine starke Eurozone kann mit entsprechendem Gewicht auch in den internationalen Wirtschaftsorganisationen auftreten. Das schließt dann auch nicht eine pragmatische Kooperation mit Großbritannien aus, wenn es zu einer solchen Zusammenarbeit auf Gegenseitigkeit bereit ist.

Aber das heutige und zukünftige Europa muss wieder auch eine faszinierende Idee werden. Sieht man es nur als ökonomisches Projekt, wo immer die Kosten und die Nutzen abgewogen werden, dann ist es zum Scheitern verurteilt. Die grandiose Friedensidee muss unter neuen Vorzeichen wiederbelebt werden. So sehr der EU die zumindest ursprünglich vorhandene Weltoffenheit Großbritanniens abgehen mag, die oft nur wirtschaftliche Betrachtungsweise der EU durch dieses Inselreich war oft hinderlich in Europa mehr zu sehen als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Und da muss die EU auch wieder als Wertegemeinschaft an Anziehungskraft gewinnen. Die Menschen müssen wieder die Idee, die hinter einer Europäischen Union steht erkennen. Darum muss auch die Auseinandersetzung mit Ungarn und Polen hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit, der Medienfreiheit etc. klar und ohne faule Kompromisse geführt werden.

Der Austritt Großbritanniens aus der EU hat natürlich auch für die Sicherheitspolitik Konsequenzen. Zwar haben nicht zuletzt die britischen Regierungen immer wieder eine stärkere sicherheitspolitische Zusammenarbeit verhindert. Aber jetzt ist auch jegliches Band der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit innerhalb der EU durchschnitten. Das gibt der NATO ein größeres Gewicht, was nicht unbedingt einen Vorteil darstellt. Um dem noch stärkeren Übergewicht der angloamerikanischen Länder entgegenzuwirken wäre eine engere sicherheitspolitische, vielleicht auch verteidigungspolitische Kooperation innerhalb der EU notwendig.

Über all diese Fragen und Lösungsmöglichkeiten ist eine offene und breite Diskussion zu führen. Die Gegner und Skeptiker einer europäischen Union müssen dann auch Farbe bekennen und sagen, was sie wieder auf die nationale Ebene bringen wollen. Wir müssen wegkommen von einer generalisierenden pro und contra Diskussion zu einer Diskussion über die Ausgestaltung einer EU, wie sie unseren Bedürfnissen und Interessen entspricht.