BRÜSSEL: BALKAN, TÜRKEI, CETA und MARTIN SCHULZ

Ich hatte mir nach meinem Ausscheiden aus dem EU Parlament vorgenommen, nicht allzu oft nostalgisch nach Brüssel zu blicken und hinzureisen. Ich habe mich auch daran gehalten. Aber ab und zu – wenn es einen konkreten Anlass gibt – dann besuche ich Brüssel und natürlich auch das EU Parlament. Mitte November war es wieder so weit. Und wieder erlebte ich, wie eine Unzahl wichtiger Themen im EU Parlament verhandelt werden, aber wie schwierig es ist, die kontroversen Stellungnahmen und Debatten den BürgerInnen zu vermitteln. 

Balkan

Das Zentrum für Demokratie und Versöhnung in Südosteuropa (CDRSEE) mit Sitz in Saloniki stellte im EU Parlament die neuen Geschichtsbücher vor, die die Geschichte der Region aus unterschiedlichen – nationalen – Gesichtspunkten darstellen. Zweck dieses Unterfangens ist der Versuch, den GeschichtslehrerInnen und in der Folge den SchülerInnen zu vermitteln, dass ein und dasselbe Ereignis aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und beurteilt werden kann. Das Zentrum in Saloniki hat diesbezüglich ein Team von HistorikerInnen eingesetzt, die diese Bücher – in englischer Sprache – verfasst haben. Aber jetzt geht es darum, sie auch in die entsprechenden Sprachen der Region zu übersetzen. Und da braucht das Zentrum öffentliche und/oder private Mittel.

Im Anschluss an die Präsentation fand die Sitzung des Vorstands (board) des Zentrums statt und der bisherige Präsident des Zentrums, Erhard Busek, schlug mich als seinen Nachfolger vor. Ich wurde auch einstimmig gewählt und habe nun eine zusätzliche interessante aber auch schwierige Aufgabe. Wie bei vielen dieser NGOs gibt es nie genügend Geld, um die angestrebten Arbeiten zu erledigen und vor allem die notwendige Infrastruktur zu erhalten. Was wir jetzt versuchen, ist mehr private Sponsoren zu finden, aber das machen natürlich auch viele andere ähnliche Organisationen und daher befinden wir uns in einem großen Wettbewerb, nicht nur um die knapper werdenden öffentlichen sondern auch um die privaten Mittel.

Ich bin aber überzeugt, dass wir die Arbeit hinsichtlich Demokratie, Versöhnung und gegenseitiges Verständnis am Balkan fortsetzen müssen. Die Konflikte der Vergangenheit sind nicht vergessen und ein neuer Nationalismus macht sich breit. Und das in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Die Vergangenheit zu verstehen und nicht in alte Denkmuster von Vorurteil und Hass zu verfallen ist dringend notwendig. Übrigens nicht nur am Balkan, sondern in ganz Europa und darüber hinaus.

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Türkei

In ganz Europa wird diskutiert, wie wir als EU die Beziehungen zur Türkei gestalten sollen. Noch ist die Türkei Kandidat für einen Beitritt zur EU. Aber erst wenige Beitrittskapitel sind verhandelt worden. Das liegt auch am Veto, vor allem von Zypern, das, solange es nicht zu einer Wiedervereinigung kommt, viele Verhandlungen torpediert. Dabei hat sich der türkische Teil der geteilten Insel in einem Referendum für den auch von der EU unterstützen „Annan Plan“  zur Wiedervereinigung ausgesprochen. Der griechische Teil jedoch hat diesen Plan abgelehnt und so blockiert die griechisch-zypriotische Regierung die EU-Türkei- Verhandlungen gerade über die wichtigsten Kapitel, nämlich hinsichtlich Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit.

Inzwischen allerdings hat Erdogan und die AKP nach anfänglichen konstruktiven Schritten zu inneren Reformen die Türkei immer weiter weg von der EU gebracht. Falls die Türkei die Todesstrafe wieder einführen würde, wäre das ein weiteres Signal dafür, dass die Türkei kein Mitglied der EU sein will. Und man sollte auch der europäischen und türkischen Öffentlichkeit klar machen, dass es ja die Türkei bzw. Erdogan selbst ist, die sich von einer möglichen Mitgliedschaft schon weit weg bewegt haben.

Darüber diskutierte ich vor allem mit der Türkei-Berichterstatterin des EU Parlaments Kati Piri. Ich hatte mit ihr, als sie noch Mitarbeiterin meines Kollegen Jan Marinus Wiersma und dann der Fraktion war, viel zusammengearbeitet. Inzwischen ist sie selbst EU Abgeordnete der Niederlande. Sie hatte erst vor wenigen Tagen das Einfrieren der Verhandlungen gefordert. Nach wie vor wollen einige im Parlament sogar den endgültigen Abbruch der Verhandlungen. Solange Erdogan als Präsident der Türkei diese furchtbare und die Grundsätze der Demokratie verletzende Politik betreibt, ist an einen Beitritt natürlich überhaupt nicht zu denken.

Aber sowohl hinsichtlich der Flüchtlingsfrage als auch der Suche nach Friedenslösungen in Syrien brauchen wir die Türkei. Und da sich jetzt die wieder aufgenommenen Verhandlungen über die Wiedervereinigung von Zypern in einer kritischen Phase befinden, wäre ein totaler Bruch mit der Türkei auch nicht das Beste. Aber natürlich darf Europa zu den gravierenden Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen. Putin tut das ohnehin und auch von Trump ist diesbezüglich nicht viel zu erwarten. Die EU insgesamt muss also eine schwierige Balance zwischen Realpolitik und Eintreten für die Menschenrechte finden.

CETA

In der Sitzung der sozialdemokratischen Fraktion (S&D Fraktion) wurde unter anderem das Handels-Abkommen mit Kanada (CETA) diskutiert. Das EU Parlament muss ja auch der provisorischen Inkraftsetzung zustimmen. Das soll zwar erst in der Sitzung im Dezember passieren aber natürlich bedarf es dazu ausführlicher Beratungen. Paul Magnette, der Premierminister von Wallonien, war zu dieser Diskussion, an der auch der Parlamentspräsident Martin Schulz teilnahm, eingeladen.

Paul Magnette bzw. das wallonische Parlament als belgisches Regionalparlament hat ja knapp vor dem anvisierten EU-Kanada Gipfel das ausgehandelte Abkommen nachmals in Frage gestellt. Durch eine verschärfte Zusatzerklärung konnte dann die Zustimmung von Wallonien erreicht werden. Dabei ging es vor allem darum, dass investierende Unternehmen nicht bei gesetzlichen Änderungen Schadenersatz von den Regierungen verlangen können. Mit einer solchen Drohung könnten sie nämlich demokratische Entscheidungen unterminieren.

Etliche Mitglieder der Fraktion sprachen sich aber trotz des gefundenen Kompromisses aus grundsätzlichen Überlegungen gegen eine Zustimmung des EU-Parlaments aus. Martin Schulz und andere wieder meinten, dass gerade mit Kanada, das eine ähnliche Einstellung zu vielen wichtigen gesellschaftlichen Fragen wie Europa und gerade jetzt eine fortschrittliche Regierung unter Premierminister Trudeau hat, ein Handelsabkommen abgeschlossen werden sollte.

Ich persönlich stimme dem auch zu, meine aber auch, dass wir in der EU eine grundsätzliche und offene Debatte über den Nutzen solcher Handelsabkommen abhalten sollten. Und das Abkommen mit den USA – TTIP – sollte ohnedies, wenn überhaupt, neu begonnen werden. Die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten ist ein weiterer Grund gegenüber den USA vorsichtig zu sein. Wenn Trump fordert: ‚Let’s make America great again“ sollten wir Europäer sagen: „Let’s make Europe great, finally“! Es ist ja schon bemerkenswert, dass viele rechte EU-KritikerInnen große Sympathien für einen amerikanischen Präsidenten hegen, der Amerika gegenüber Europa und damit auch gegen die Mitgliedsstaaten stärken möchte. Da ist ein starker Masochismus bemerkbar.

Martin Schulz

Auch diesmal wieder stattete ich Martin Schulz einen kurzen Besuch ab. Ich hatte ihn ja schon in der Fraktion bei der CETA Debatte gesehen. Ich habe ja viele Jahre eng mit ihm zusammengearbeitet und wir sind in Freundschaft verbunden. Und auch Meinungsverschiedenheiten, die es bei einer solchen politischen Kooperation geben muss, konnten nichts an unserer Freundschaft ändern. Ich halte ihn für einen jener wenigen PolitikerInnen, die klare Ziele vor Augen haben und auch den Willen, sie durchzusetzen. Natürlich betrifft das auch persönliche Ziele, sie sind aber bei ihm nie Selbstzweck.

Leider kann es sein, dass Martin Schulz der europäischen Ebene verloren geht. Nämlich dann wenn er im EU Parlament keine Unterstützung für die Verlängerung seiner Präsidentschaft bekommt. Das mag aus der Sicht anderer politischer Parteien verständlich sein, aber für den politischen Einfluss und die Sichtbarkeit des Parlaments wäre das ein großer Verlust. Für Martin Schulz winkt allerdings die eine oder andere wichtige Aufgabe in Deutschland. Um ihn mache ich mir also keine Sorgen und auch eine wichtige Rolle in Deutschland ist für Europa von Vorteil. Ist doch Deutschland das Land, das Europa am stärksten zusammenhält.

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Neben Martin Schulz traf ich viele Parlamentarier und Mitarbeiter des Parlaments sowohl im Rahmen der österreichischen Delegation aber auch aus vielen anderen Delegationen. Und auch mit meinen engsten Mitarbeiterinnen während der Zeit als Fraktionsvorsitzender hatte ich ein interessantes Abendessen. Es war sehr angenehm viele von denen zu treffen, mit denen ich über Jahre ausgezeichnet zusammengearbeitet habe. Viele von ihnen haben bedauert, dass die heutige Situation in Europa aber auch im EU-Parlament mehr von Tristesse und Rückschritt gekennzeichnet ist als von Freude, etwas Neues in Europa und für seine Menschen zu schaffen.

Was mich ein wenig traurig gestimmt hat ist, dass ich so wenige gefunden habe, die mit neuen Ideen aufwarten oder die bereit sind, die EU neu anzudenken. Damit aber überlässt man denen, die die EU zerstören wollen das politische Feld. Und es gibt genügend Kräfte von außerhalb der EU, denen ein starkes Europa ein Dorn im Auge ist. Und denen sollten wir ein starkes aber besser organisiertes Europa entgegenhalten, ein Europa das sich auf die wichtigsten Aufgaben konzentriert und sie auch effizient erfüllt. Es geht also nicht darum die EU wie sie heute existiert fortzuschreiben, sondern um eine gezielte und verbesserte Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses.

Es war nicht Wehmut sondern diese Trauer mit der ich Brüssel wieder verließ. Aber die Rückschläge bei der europäischen Einigung, ja überhaupt bei der Durchsetzung einer toleranten und offenen demokratischen Gesellschaft werden mich nie entmutigen. Die Geschichte ist nicht von einem unaufhaltsamen Strom von Fortschritt und Verbesserungen im Zusammenleben der Menschen gekennzeichnet. Es hat immer wieder Rückschläge gegeben, zum Teil katastrophale wie Weltkriege. Zwar sollten wir aus der Geschichte lernen, aber anscheinend müssen die Menschen bestimmte Erfahrung immer wieder selbst machen. Ich hoffe nur wie könnten uns die schlimmsten Erfahrungen ersparen.