CAVTAT, ZAGREB, FRESACH, MINSK, PARIS UND IMMER WIEDER WIEN – EIN(!) EUROPA?

Die Distanz zwischen Cavtat südlich von Dubrovnik und der weißrussischen Hauptstadt Minsk beträgt auf der Straße über 2.000 km. Von dort nach Paris ist es etwas mehr als 2.000 km. „Dazwischen“ liegt Wien, das ja von WienerInnen gern als im Mittelpunkt von Europa gesehen wird. Liegen diese Orte, die ich innerhalb eines Monats besuchte, alle im selben Europa? Paris ist die Hauptstadt eines Gründungsmitglieds der EU. Cavtat und Zagreb liegen im jüngsten EU Mitglied Kroatien. Und Minsk ist die Hauptstadt eines Landes, das sich nach Jahren, der gegen das Land verhängten Sanktionen, um eine Normalisierung der Beziehungen zur EU bemüht. Es bemüht sich unter anderem um eine „Vermittlerposition“ zwischen West und Ost, um nicht ganz in Abhängigkeit vom großen Bruder Russland zu geraten bzw. um aus einer solchen Abhängigkeit heraus zu kommen.

Im kleinen Kärntner Ort Fresach haben wir – die Organisatoren der Toleranzgespräche nach dem gleichnamigen Ort benannt – in diesen Tagen versucht, uns durch Diskussionen dem „Sehnsuchtsort Europa“ zu nähern. Um dem bei dieser Veranstaltung stattfindenden Bürgerdialog einen Rahmen zu geben, habe ich ein entsprechendes Manifest verfasst:

„Europa – Sehnsuchtsort für die Welt?

Der europäische Kontinent – insbesondere einige Staaten der EU – sind ein Sehnsuchtsort für viele Menschen unseres Globus geworden. Frieden, Toleranz und Wohlstand werden mit Europa vielfach gleichgesetzt und erwecken bei vielen Menschen eine Sehnsucht nach einem Leben in Europa, das sich oft drastisch von dem in ihrer eigenen Heimat unterscheidet. Die frühere Sehnsucht der Europäer nach neuen, „unberührten“ Orten wurde von der Sehnsucht der Armen und Unterdrückten nach Wohlstand und Freiheit abgelöst. Daher sind die wohlhabenderen und weltoffeneren Staaten besonders als Zufluchtsorte begehrt. Wie auch in Europa selbst bemerkbar, Zuwanderung auf Grund von Attraktivität schafft mehr Chancen als Abwanderung auf Grund von Hoffnungslosigkeit.

Wenn Europäer in andere Kontinente reisen nehmen sie die Unterschiede zwischen Europa und den armen Ländern stärker wahr als im Alltag zu Hause. Sie erkennen dabei oft nicht die Diskrepanz zwischen ihrer eigenen Kritik an den Verhältnissen in Europa und der Attraktivität unseres Kontinents für andere. Europa muss allerdings auch für die eigene Bevölkerung ein Ort der Sehnsucht sein, um nicht in Selbstgefälligkeit zu verfallen. Es gilt Europa, wie es heute ist, an das wie es morgen sein könnte, heranzuführen. Dabei sind auch viele Spannungen innerhalb Europas zu überwinden.

Die über viele Jahrhunderte errungene Attraktivität beruht nicht zuletzt auf Ausbeutung und ungerechtem Handel. Dieser europäische Egoismus – in Verbindung mit lokalen Kräften der Korruption – führte und führt noch immer zu Armut und Chancenlosigkeit, vor allem auch für die Jugend benachbarter Kontinente. Nur eine neue Allianz mit demokratischen und progressiven Kräften in ärmeren Ländern kann der betroffenen Jugend die Möglichkeit bieten, in ihrer Heimat ein menschenwürdiges Leben zu entfalten. Und nur ein solches Leben schafft eine wirksame Alternative zu Flucht und Emigration nach Europa.

Parallel zu einer solchen neuen Politik der Partnerschaft mit den ärmeren Ländern dieser Welt muss Europa seine Tore offen halten, um denen, die vor Verfolgung fliehen, eine neue Heimat zu gewähren. Eine wirksame Kontrolle der europäischen Außengrenze steht nicht im Widerspruch zu einer humanen Asylpolitik.

Europa als Heimat muss sich dabei immer neu definieren und all jenen Möglichkeiten bieten, die bereit sind, an dieser Weiterentwicklung der europäischen Heimat mitzuarbeiten. Wandel und Toleranz im Sinne der Anerkennung anderer Lebens- und Glaubensstile waren immer mit der europäischen Identität und Heimat vereinbar. Es waren Glaubenskriege und Intoleranz, die zur Zerstörung der europäischen Heimat geführt haben.

Aber auch Menschen, die nur zeitweilig in Europa bleiben wollen oder können, muss mit Fairness und Gastfreundschaft begegnet werden. Umgekehrt kann ein gastfreundliches und offenes Europa verlangen, dass europäisches Recht befolgt und den europäischen Regeln des Zusammenlebens Respekt entgegen gebracht wird.

Die europäische Identität muss auch soziale Gerechtigkeit und Solidarität einschließen. Dabei gilt es nicht „Inländer“ gegen „Ausländer“ auszuspielen. Menschen in Not benötigen, unabhängig von Herkunft und Religion, Hilfe und Unterstützung. Und europäisch ist diese Hilfe dann, wenn sie sowohl auf öffentliche als auch private Mittel zurückgreift. Es geht dabei nicht um Almosen sondern um die Sicherung eines Rechtsanspruchs. Caritative Hilfe ist eine notwendige Ergänzung der allgemeinen Unterstützung.

Europa ist aber auch ein Kontinent der Kultur. Diesbezüglich muss Europa allerdings neue Wege gehen. Auch wenn die EuropäerInnen stolz auf viele kulturelle Errungenschaften sein können, für Kulturimperialismus oder Kulturarroganz besteht kein Anlass. Dabei gilt es nicht nur außereuropäische Kulturen zu rezipieren und zu integrieren, sondern wir müssen auch ernsthaft darüber nachdenken, wie wir mit unseren Museumsbeständen zweifelhafter Herkunft bzw. ungeklärten Erwerbes – vor allem aus Afrika – umgehen sollten. Dazu bedarf es eines offenen Dialogs mit den Herkunftsländern und einer gemeinsamen Ausstellungspolitik über die Kontinente hinweg.

Europa ist mit Recht stolz auf seine Natur. Aber auch sie ist Veränderungen unterworfen. Nicht zuletzt ist es der Tourismus, der einerseits zur Aufrechterhaltung des Lebens in verschiedenen Regionen, die von Abwanderung bedroht sind, beiträgt aber anderseits auch die Zerstörung von wertvollen Landschaften bewirken kann. Nachhaltigkeit muss zum Prinzip aller Veränderungen werden, das gilt im Besonderen für den Tourismus. Aber auch hier muss Europa die globale Karte spielen. Denn die weltweite Erwärmung betrifft unseren Kontinent direkt aber auch indirekt durch massive Umweltschäden in unserer Nachbarschaft, vor allem in Afrika und im Nahen Osten. Die schädlichen Auswirkungen der Erderwärmung können nur durch globales Handeln begrenzt werden.

Europa kann nicht ein abgeschlossener Kontinent sein. Er war es in den letzten zweitausend Jahren nicht. Lange Zeit war es ein Kontinent von Aggression und Kolonialisierung nach außen aber auch von inneren Kriegen und gegenseitiger Unterdrückung. Zum ersten Mal in der europäischen Geschichte haben die verantwortlichen politischen Kräfte jetzt die Chance, allen EuropäerInnen die Möglichkeit für eine friedliche Heimat zu schaffen aber auch zu gerechten internationalen Beziehungen beizutragen. Heimat und Offenheit dürfen sich nicht ausschließen, genauso wenig wie Toleranz und die Anerkennung und Durchsetzung von gemeinsamen Regeln des Zusammenlebens.

Die heutigen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen aber auch die natürlichen Lebensgrundlagen sind Ergebnis von jahrhundertelangen, inneren Auseinandersetzungen aber auch vom Streben wissenschaftliche und geographische Grenzen zu überwinden. Es war immer der Blick nach Außen, der Europa weiter gebracht hat. Allerdings hat die Sehnsucht der Europäer nach der Erforschung der „unzivilisierten“ Natur und nach dem „Wilden“ oftmals zu Unterdrückung, Sklaverei und zu Kriegen geführt.

Das Europa von heute sollte ohne Kriege ein nachhaltiges Gleichgewicht von Bewahren und Verändern finden. Respekt der Vielfalt und Kreativität um Neues zu entwickeln sollte Europa ermöglichen einen friedlichen Wettstreit mit andern Mächten und Kontinenten einzugehen. Heimat kann nicht durch das Errichten von Mauern entstehen sondern nur durch die Verflechtung von externen Einflüssen und Neuem mit Überlieferten, das sich bewährt hat.“

Viele darin angeschnittenen Themen und Forderungen wurden auch von den DiskussionsteilnehmerInnen aufgeworfen und diskutiert. Europa ist und bleibt für viele ein Sehnsuchtsort, der manches von den Versprechungen und Erwartungen erfüllt hat, aber wo noch viel zu tun bleibt. Und manches muss man sicher auch korrigieren.

Aber man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass manche Bewegungen nach rückwärts zu beobachten sind. Demokratie, Toleranz und Meinungsfreiheit sind keineswegs überall am Fortschreiten. Entwicklungen in Ungarn und Polen machen allen, denen Demokratie und Medienfreiheiten große Anliegen sind, große Sorgen. Und war die politische Einstellung zu Flucht und Integration von Flüchtlingen betroffen, so sind auch viele Äußerungen der künftigen Regierungspartner in Italien besorgniserregend. Das trifft auch auf manche wirtschaftspolitische Vorstellungen der zukünftigen italienischen Regierung zu. Angesichts dieser Ungewissheiten und Unsicherheit innerhalb der EU wächst auch die Skepsis in manchen Kandidatenländern am Balkan und natürlich auch in der Türkei. Aber hier spielt auch das Verhalten von Präsident Erdogan eine größere Rolle. Dabei ist oft eine zwiespältige Haltung zu bemerken, dass manche ein ideologische Orientierung zum Beispiel in Richtung Russland haben aber natürlich ihre Kinder zum Studieren und Arbeiten in die EU schicken würden oder tatsächlich schicken.

Russland : Feind oder Konkurrent?

Eines ist auch offensichtlich, Europa ist größer als die EU und nicht alle europäischen Staaten und Gesellschaften können oder wollen in absehbarer Zeit aufgenommen werden. Natürlich gilt das vor allem für Russland aber auch für Staaten wie die Ukraine, Weißrussland, Moldawien, Georgien, Armenien etc. Es ist auch nicht verwunderlich, wenn gerade hier die Konfliktlinien zwischen der EU und Russland verlaufen bzw. der Wettbewerb um Sympathien und wirtschaftliche Verflechtung.

Was nun das Verhältnis der EU bzw. des Westens zu Russland betrifft war ich eingeladen, an einer Paneldiskussion des Europäischen Rats für Außenpolitik bei der Jahrestagung in Paris teilzunehmen. Da waren meine Bemerkungen sicher nicht immer konform zu denen, des mir sehr gut bekannten litauischen Außenministers. Als Vertreter eines baltischen Staates hat er schon aus der Geschichte heraus eine kritischere Haltung zu Russland. Und ich halte es für besonders tragisch, dass sich Russland nie offiziell für die groben Menschenrechtsverletzungen, vor allem in Zeiten der sowjetischen Besatzung, entschuldigt hat. Man kommt mit einer moderaten Haltung zu Russland dann leicht in die Rolle eines „Putinverstehers“. Und auch bei leiser Kritik an den Verhältnissen in der Ukraine wird man beschuldigt, das russische Narrativ hinsichtlich der Ukraine zu übernehmen. Ich gehe aber davon aus, dass Gespräche mit Russland ohne Aufgabe eines klaren politischen und rechtlichen Standpunkts durchgeführt werden können.

Vor Jahren versuchten einige im EU Parlament, so auch ich in meinem Russlandbericht, Russland als potentiellen strategischen Partner der EU anzusprechen. Aber die Zeiten sind leider vorbei. Wir sollten deshalb aber Russland nicht immer als Feind oder gar als den Hauptfeind des Westens bezeichnen. Russland ist ein Konkurrent in vieler Hinsicht. Aber Konkurrenzverhältnisse schließen Kooperationen, von denen beide profitieren, nicht aus. Das kann auch unsere unmittelbare gemeinsame Nachbarschaft aber auch Syrien sowie den Iran und Israel betreffen. Die EU und Russland haben konträre Ansichten, was das Regime in Syrien betrifft. Aber im Interesse der Bekämpfung des islamistisch begründeten Terrorismus und der Vermeidung einer – militärischen – Konfrontation zwischen Israel und Iran treffen sich unsere Ansichten. Jedenfalls ergeben sich hier viele Möglichkeiten und sogar Notwendigkeiten der Zusammenarbeit.

Europa ist heute viel weiter und größer als viele es wahrhaben wollen. Wollen wir – jedenfalls innerhalb der EU –  aber unsere Vielfalt, den inneren Frieden und den erreichten Wohlstand erhalten, müssen wir uns erst recht mit den unmittelbaren Einflüssen von außen beschäftigen. Und wir sollten ohne Scheu – aber sicherlich auch ohne Illusionen – friedenspolitische Initiativen aufgreifen und selber setzen. Und das beginnt schon bei unserer mentalen Haltung. Da sollten wir weniger von Feinden sondern von Konkurrenten reden. Und da sollten wir all jenen Ländern, die in  EU kommen wollen, die Hand reichen ohne auf die Einhaltung der Bedingungen zu verzichten. Es gibt genug Möglichkeiten uns näher zu kommen ohne allzu schnell den Beitritt zu vollziehen. Und auch Länder die nicht EU Mitglied werden können bzw. wollen sollten zu intensiver Mitarbeit eingeladen werden. Die gemeinsame Sicherheit auf unserem Kontinent und in unserer Nachbarschaft sollte  dabei im Mittelpunkt stehen. Solche Kooperationen über nationale und ideologische Grenzen hinweg können erfolgen ohne dass man seine eigenen Prinzipien und Werte aufgeben muss.

Zurück nach Wien: Krise der Europäischen Demokratie

In der jährlichen Wissenschaftlichen Konferenz des Sir Peter Ustinov Instituts hatten wir diesmal das Thema „Krise der Demokratie – Demokratie in der Krise“. Als Präsident habe ich versucht, einige – aus meiner Sicht oft vernachlässigte – Aspekte der Krise der Demokratie zu beleuchten. Allzu oft betrachten wir die unmittelbaren Ursachen und Verantwortlichen für die Verwerfungen der Demokratie. Aber die eigentliche Frage ist, warum sich Menschen so leicht von der Demokratie abwenden bzw. Parteien wählen, die die Demokratie unterminieren. Wir müssen auch jene gutmeinenden politischen Maßnahmen und PolitikerInnen „aufs Korn“ nehmen, die mit die Voraussetzungen schaffen, dass Menschen sich von anti-demokratischen Tendenzen angezogen fühlen. Meinen Beitrag mit dem Titel: „Das neue Europa und seine inneren Feinde“ bringe ich hier in seiner Grundstruktur.

1. Die Gründung des neuen Europas

Das neue Europa sollte das – alte – Europa der Kriege, der gegenseitigen Feindschaft, der gegnerischen Allianzen und des Nationalismus ablösen. Gegenseitiger Respekt, Verhandeln, um Kompromisse zu erzielen und gemeinsames Auftreten nach Außen sollten die neuen Tugenden sein. Ein gemeinsamer Markt sollte die nationalen Wirtschaften verflechten und überdies Europa wettbewerbsfähig machen. Vieles davon konnte verwirklicht werden und die EU wuchs – jedenfalls in Ansätzen – zu einer politischen Gemeinschaft zusammen. Eine Menschenrechtscharta ergänzte die politische Einigung.

Wenn es jetzt zu Rückschlägen kommt, dann kann man darüber streiten, ob der Integrationsprozess zu langsam oder zu schnell bzw. zu wenig mit Überzeugung und Vermittlung erfolgt ist. Sicher wären klarere Regeln und Mechanismen zur Verfolgung von Verletzungen demokratischer Grundsätze durch einzelne Staaten bzw. deren Regierungen wertvoll. Vor allem auch dann, wenn die EU Menschenrechte auf globaler Ebene vertreten möchte.

Im Übrigen sind auch manche Integrationsschritte auf halbem Weg stecken geblieben, so die Einführung einer gemeinsamen Währung und die Schaffung einer gemeinsamen Außengrenze, die Schengengrenze. Bei einem stärkeren „Ansturm“ auf diese Grenze wird die Absenz einer wirksamen Kontrolle bemerkbar. So haben viele Menschen das Gefühl, dass die Schengengrenze nicht zu mehr Sicherheit sondern eher zu Unsicherheit beigetragen hat. Und das Gefühl der Sicherheit bzw. eher der Unsicherheit ist für die politische Entwicklung in Europa von zentraler Bedeutung. Viele „Lösungen“ sind nur in ruhigen Zeiten zufriedenstellend aber sie sind nicht krisenresistent

2. Der Zusammenbruch der Sowjet Union

Der Zusammenbruch des sowjetischen Empires und der kommunistischen Systeme schienen den Prozess zu einem neuen Europa zu vollenden. Francis Fukuyama sprach sogar vom Ende der Geschichte: Das liberale Wirtschaftssystem mit Demokratie in engster Verbindung hat gesiegt. Aber schon in dem gleichnamigen Buch, das er nach dem berühmt gewordenen Artikel veröffentlichte, hat er auch die Möglichkeit angeschnitten, dass die Menschen gegen eine solche friedliche und glückliche Gesellschaft revoltieren.

Auch das liberale Wirtschaftssystem basierend auf rationalen ökonomischen Regeln kann die Emotionen nicht zum Verschwinden bringen. In einem unlängst in der französischen Zeitschrift „Commentaire“ erschienen Beitrag hat Francis Fukuyama seinen ursprünglichen Hinweis auf die Emotionen, die dem Ende der Geschichte einen Strich durch die Rechnung machen können unterstrichen. Und ein bekannter Ökonom Kenneth Boulding meinet dazu: “Die größte Schwäche der ökonomischen Analyse auf nicht ökonomische, soziale Phänomene angewandt ist, dass sie das menschliche Verhalten missachtet, das nämlich durch das „Heroische“ und die Suche nach Identität gekennzeichnet ist.“

Haben schon Hinweise auf das rationale Konsumverhalten im Rahmen der Wirtschaftssysteme selbst nicht immer überzeugt, gilt das noch mehr für die sozialen Verhältnisse und politische Wahlentscheidungen. Sie sind das Ergebnis viel komplexerer Entscheidungsprozesse mit starken emotionalen oder sogar leidenschaftlichen Einflüssen.

3. Die Folgen der Finanzkrise

Schon vor dem Ausbruch der Finanz- und in der Folge der Wirtschaftskrise haben manche Wirtschaftsforscher auf das Phänomen der stagnierenden Einkommen in den unteren sozialen Schichten aufmerksam gemacht. Und hinzu kam, dass der Umverteilungsprozess zu den Ärmeren gestoppt wurde und sich in manchen Ländern eine Umkehr diese Prozesses bemerkbar machte: Die Reichen wurden reicher, die Einkommen der unteren Schichten jedoch stagnierten oder sanken sogar real.

Einkommensverluste und hohe Arbeitslosigkeit brachten viele Leute in große finanzielle Schwierigkeiten und machten sie unempfänglich für die scheinbar rationale Erklärung der Krise. Nach Ansicht neo-liberaler bzw. konservativer Expertinnen und PolitikerInnen war die Ursache der Krise schnell gefunden: Ein überbordender Sozialstaat und entsprechende Unmäßigkeit der Menschen seien Schuld an den Entwicklungen. Daher seien finanzielle und wirtschaftliche Einschränkungen notwendig, um das Gleichgewicht, das mit dem Nulldefizit gleichgestellt wurde, wieder herzustellen.

Aber nicht an der oberen Einkommensskala wurden Einschnitte wirksam, sondern weit unten wurde tatsächlich gespart – vor allem auch durch die Kürzung öffentlicher Ausgaben. Und damit wurde noch mehr Arbeitslosigkeit hervorgerufen, nicht überall aber vor allem in strukturschwachen Regionen. Überdies wurden viele prekäre(!) Arbeitsplätze geschaffen – zum Teil anstelle von Vollarbeitsplätzen. Aber zu den wirtschaftlichen und sozialen Problemen kamen auch wichtige psychologische Faktoren.

Auf jeden Fall hat Sascha Mounk Recht, wenn er in seinem Werk „ Der Zerfall der Demokratie“ feststellt: „Die erste Annahme der Nachkriegsära – die Vorstellung, dass die Demokratien in wohlhabenden Ländern, in denen die Regierung bereits mehrmals durch freie Wahlen abgewählt worden ist, auf absehbare Zeit stabil bleibt – entpuppt sich als Wunschdenken.

4. Die Fehler der Oberschicht

Aus meiner Sicht gibt es gravierende Mängel des kapitalistischen Systems, die sich immer wieder bemerkbar machen. Aber auch jene Oberschichten, die die politische Macht ausübten haben die Konsequenzen ihrer Politik übersehen. David Brooks hat unlängst in der New York Times unter dem Titel „The strange failure of the educated elite“ darauf aufmerksam gemacht, dass die oberen Schichten, die „merokratische Elite“ die rationalen Argumentationen und die Sehnsucht der Menschen nach gesellschaftlicher Einbettung unterschätzen und nicht zur Kenntnis nahmen wie wichtig funktionierende öffentliche Institutionen sind.

Im Übrigen haben sie oft die Diversität als Endziel gesehen und nicht als Zwischenziel zu einer Gesellschaft in einem Staat, der von allen gleichermaßen getragen wird. Auf diesen Umstand hat auch Mark Lilla hingewiesen, der den liberalen Schichten den Vorwurf machte, dass sie die sozialen Probleme der Menschen durch ihre übertriebene Betonung der liberalen Werte und der Diversität missachtet haben.

Auch und vielleicht gerade in Zeiten der Aufklärung und der gesteigerten Autonomie suchen Menschen, die von Unsicherheiten bedroht sind, Geborgenheit in einer Gemeinschaft. Selbstverständlich können die Gemeinschaften in der vernetzten Welt und angesichts der globalen Ungleichheiten nicht als geschlossene existieren. Und das waren sie auch nie –  meist auch nicht in traditionellen Gesellschaften. Sie sind durchaus anpassbar und daraus können viele neue positive Synergien entstehen. Es ist eine Frage der Anzahl der neuen Impulse – wie Zuwanderung, internationaler Handel, technologische Erneuerungen etc. – und der Zeit, die man hat, um das Leben mit diesen Neuerungen aktiv zu gestalten, ob solche Anpassung reibungslos vor sich gehen oder zu Krisen führen.

Selbst wenn Krisen entstehen, können die Politik und die öffentlichen Institutionen bei der Anpassung und der Integration der Neuerungen helfen und alle(!) Mitglieder der Gesellschaft unterstützen. Eine große Unsicherheit bei starken Wanderungsbemühungen ist unvermeidbar, vor allem wenn die entsprechenden Ängste politisch noch geschürt werden. Wenn aber zu wenige Akteure da sind, die nicht nur argumentativ sondern durch Empathie und tatsächliche Hilfe den von Ängsten betroffenen helfen, dann werden solche Ängste noch verstärkt und die Populisten bekommen noch mehr Auftrieb. Die Antwort: „There is no Alternative“, die nicht nur Margaret Thatcher gab, war und ist für viele nicht überzeugend. Vor allem auch dann wenn solche Antworten von linker Seite gegeben wurden.

5. Die Rolle der Emotionen

Schon Francis Fukuyma hat in Schriften – begonnen mit „Das Ende der Geschichte“ – auf die Bedeutung der Emotionen hingewiesen. Dabei unterscheidet er die Mesothymia, also das Bestreben Anerkennung und Respekt zu bekommen und die Megalothymia, das Bestreben sich von anderen abzuheben, als besser im Vergleich zu anderen anerkannt zu werden. Entscheidend ist, dass die Politik versucht die Megalothymia zu vermeiden. das kann aber nur gelingen wenn die Menschen als solche Respekt und Anerkennung erhalten. In Zeiten der sogenannten VUKA, also in denen Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität weit verbreitet sind, ist es schwierig, dass sich Menschen zurechtfinden. Und wer sich nicht zurechtfindet und sich verloren vorkommt, der findet sich sicher nicht respektiert.

Im Besonderen erleben die Menschen den Mangel an Respekt in Regionen, die eine große Abwanderung erleben – vor allem auch durch die Abwanderung der besser Ausgebildeten. Solche Regionen findet man im Osten Deutschlands und auch in vielen osteuropäischen Ländern, wie zum Beispiel Bulgarien, aber auch in vielen ländlichen Regionen über ganz Europa verstreut. Die Abwanderung und damit die Entwertung dieser Regionen wird als Missachtung der eigenen Lebensumstände und –bedürfnisse interpretiert. Und die Aufforderung durch Aufnahme von Flüchtlingen die Abwanderung zu kompensieren, wird dann nicht als Lösung angesehen. Eher noch als zusätzliche Entwertung. Dazu hat vor allem Ivan Krastev in einigen Beiträgen, unter anderem in seinem Buch „Europadämmerung“, Erhellendes geschrieben.

Gerade in diesen „abgehängten“ Regionen sieht man sich besonders von den Eliten und den Versprechungen von „blühenden Landschaften“ enttäuscht. Und es ist auch nicht verwunderlich, dass die Ablehnung des Fremden bzw. der Fremden in ländlichen Regionen besonders stark ist. Die unterschiedliche Entwicklung auf dem Land und in der Stadt und das daraus resultierende unterschiedliche Wahlverhalten ist lang nicht beachtet worden.

6. Die Rache der Leidenschaft

Der unlängst verstorbene rumänisch-französische Philosoph Pierre Hassner spricht in einem seiner letzten Werke von der „Rache der Leidenschaft“. Er verwendet bewusst den stärkeren Ausdruck Leidenschaft statt Emotionen, weil der Protest gegen die „Systeme“, gegen die „Eliten“ dadurch besser abgedeckt scheint als bloß durch den Ausdruck Emotionen. Schon Raymond Aron, der Lehrer von Pierre Hassner hat in einer Debatte um die Zukunft Algeriens klar zu Ausdruck gebracht, dass es sich nicht nur um rationale Fragen handelt, ob Algerien bei Frankreich bleiben soll, sondern der Mensch ist ein emotionales und von Leidenschaften geprägtes Wesen. “Die, die glauben, dass die Menschen ihren Interessen mehr als ihren Leidenschaften folgen, haben nichts vom 20.Jahrhundert verstanden.“ Mit Pierre Hassner möchte ich hinzufügen, auch vom 21.Jahrhundert nicht.

Und Sigmund Freund hat darauf verwiesen, dass die innere Ruhe und das innere Gleichgewicht nur gewahrt werden kann, wenn es einen inneren oder äusseren Sündenbock gibt, auf die die Ablehnung projiziert werden kann. Allerdings kann man in Zweifel stellen, ob da eine Gesetzmäßigkeit vorliegt oder nicht bloß eine Tendenz, die korrigiert werden kann. Aber gerade die jetzigen Reaktionen innerhalb der Politik zeigen, dass die Neigung „Fremde“ bzw. „ImmigrantInnen“ als verantwortlich für die eigenen Probleme zu definieren, weit verbreitet ist. Allerdings finden wir auch ein hohes Maß an Hilfe und Empathie. Und Politik kann hier durchaus unterstützend eingreifen. Aber dazu bedarf es geeigneter öffentlicher und intermediärer Institutionen und nicht ein Kaputtsparen als politisches Prinzip.

7. Respekt und Anerkennung

Sicher kann man technologische, wirtschaftliche und zum Teil auch soziale Entwicklung – insbesondere in einer global vernetzten Welt – nicht einfach außer Kraft setzen oder beliebig verändern. Aber anderseits muss man sich keineswegs allen solchen Entwicklungen unterwerfen. Man kann technologische Erfindungen sozial verträglich anwenden, man kann eine aktive Wirtschaftspolitik betreiben. Man kann eine Flüchtlingspolitik und vor allem eine Integrationspolitik so gestalten, dass die Bürgerinnen Europas – die oftmals ja selbst zu früheren Zeiten zugewandert sind – nicht das Gefühl haben, unter die Räder zu kommen. Und zwar kann man das tun ohne die Flüchtling und die „AusländerInnen“ als Sündenböcke und als gesellschaftliche Gefahren zu diskriminieren.

8. Lernen aus der Geschichte

Bildung als solches ist kein Heilmittel gegen Vorurteile und Diskriminierung. Menschen mit hoher Bildung haben schon oft Furchtbares angestellt. Man sollte die – formale – Bildung daher nicht überschätzen. Aber man kann Bildung so gestalten. dass sie sich bewusst mit den Vorurteilen und deren Wurzeln auseinandersetzt. Dazu dient vor allem die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Dabei geht es nicht um das Wissen und das Erlernen von dem was war. Entscheidend ist, wie man mit den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft umgeht. Dafür kann man aus der Geschichte vieles lernen, aber diese zukunftsorientierte Absicht und Zielrichtung ist wichtig.

Das ist nun heute in Bezug auf den Nationalsozialismus immer schwieriger, da wir immer weniger Zeitzeugen haben. Aber ein Lernen über die Vergangenheit, das die Herausforderungen des Heute und der Zukunft aufgreift, kann das Manko vom Verschwinden der Zeitzeugen kompensieren. Flucht und Vertreibung der Menschen aus Syrien, Irak, Afghanistan und die Behandlung dieser Menschen kann – wie im Jüdischen Museum in Wien gemacht – mit der Flucht und Vertreibung der Juden aus Europa konfrontiert werden.

9. Lernen mit der Diversität zu leben

In Gesellschaften in denen autoritäre, hierarchische, Strukturen und strenge Regeln nicht mehr das Zusammeneben definieren und bestimmen und die durch globale Vernetzung und Migration gekennzeichnet sind, steigt die Diversität. Einige können sich dadurch gefährdet fühlen, aber jedenfalls bedarf es einer Anpassung an die geänderten Verhältnisse. Dabei tritt diese Diversität schon im Kindergarten und in der Vorschule auf. Daher ist es wichtig, schon im frühen Alter auf eine solche geänderte Gesellschaft vorzubereiten – was wir vom Ustinov Institut mit einem gezielten Projekt bereits unternehmen.

Generell gilt es, unsere Lehrpläne zu entrümpeln und die neuen Informationsmedien und Möglichkeiten so zu nützen, dass die für das Zusammenleben in modernen Gesellschaften wichtigen Fähigkeiten und Einstellungen vermittelt werden. Wir leben unter radikal geänderten Verhältnissen mit stark veränderten Technologien und haben unsere Lehrmethoden nicht daran angepasst. Der sinnvolle, selektive und kritische Umgang mit neuen Medien ist genauso wichtig wie die Vorbereitung auf radikal geänderte Arbeitsbedingungen und demographische Veränderungen wie z.B. eine stärkere Migration.

10. Demokratie und neue Technologien

Neben wirtschaftlichen und sozialen Faktoren haben aber auch die neuen Technologien, insbesondere im Bereich der Kommunikation, so wie die sogenannten sozialen Medien einen direkten Einfluss auf die demokratischen Verhältnisse. Sie führen vielfach zu einer De-Emotionalisierung der persönlichen Beziehungen und verstärken die “rationalisierenden“ Effekte der modernen Wirtschaftsverhältnisse. Das kann durchaus auch befreiend wirken und neue Chancen bieten. Entscheidend ist, wie Menschen mit den neuen Möglichkeiten umgehen.

Prof. Radermacher von der Universität Ulm, meinte unlängst, dass die neuen Technologien zu drei verschiedenen Formen der Gesellschaft führen können: der Herausbildung von „Insektenstaaten“ mit straff organisierten Gesellschaften, zu Gesellschaften mit extremem Individualismus, die nur mühsam zusammengehalten werden können, oder aber zu aufgeklärten Demokratien.

Aber auch aufgeklärte Demokratien müssen auf die Emotionen und Leidenschaften Rücksicht nehmen. Zwar stimmt die Analyse von Jean-Marie Guehénno:“ Die Menschen der postnationalen Epoche wünschen sich keine grenzenlose Solidarität, sondern Grenzen für den Bereich der Solidarität.“ Aber Politik kann dem durchaus entgegen wirken.

Die politischen Institutionen und Parteien müssen es schaffen, die Sehnsucht nach Gemeinschaft, Respekt, Gleichbehandlung und Solidarität so zu berücksichtigen, dass es keine ausschließenden Werte werden und dadurch zur Spaltung der Gesellschaft beigetragen wird. Gerade angesichts der neuen Technologien und der Gefahren für die Beschäftigung schlechthin bzw. für bestimmte Berufe sind die Emotionen und Leidenschaften von der Politik so aufzunehmen, dass eine integrative Wirkung auf alle Mitglieder einer Gesellschaft ausüben.

Zusammenfassung

Die Krise der Demokratie hat sicherlich viele Wurzeln. Sie ist nicht zuletzt eine Reaktion auf Fehler und Mängel im wirtschaftlichen und politischen System. Der Mangel an Respekt, Anerkennung und Unterstützung sowie das Gefühl erhöhter Unsicherheit, den viele angesichts der raschen und zum Teil radikalen Veränderungen spüren, sind wesentlich für die Krise verantwortlich. Unakzeptabel ist dabei das Verhalten medialer und politischer Kräfte, die diese Ängste schüren und zum Teil durch fake news verstärken. Unakzeptabel ist aber auch das Verhalten mancher neo-liberaler bzw. technokratischer Kräfte, die nicht bereit sind, diese Ängste und ihre Ursachen zur Kenntnis zu nehmen.

Keiner der simplen Rückgriffe auf alte – linke oder rechte – Muster kann uns aus der Patsche helfen. Nur ein offener Dialog, der schon im Kindergarten beginnen muss, kann die Jugend auf die bestehenden und kommenden Unsicherheiten so vorbereiten, dass sie damit verantwortungsvoll und selbstbewusst umgehen können.“

Soweit die Eckpunkte meiner Rede bei der letzten Ustinov Tagung in Wien.

Von der Vision zur Realität und zurück

Dieses Europa ist sehr divers und von einer Vereinheitlichung des demokratischen Europas ist wenig zu spüren. Kritisch könnte man sogar von einer Vereinheitlichung in Richtung autoritärer Regierungen sprechen. Die neue Regierung in Italien, das Wahlergebnis in Slowenien – mit entsprechenden Unterstützungen durch Viktor Orban im Wahlkampf zeigen eine problematische Tendenz auf. Die Flüchtlinge sind der Feind, der von unseren Ländern fern zu halten ist. Und mit der Drohung, dass die Balkan Route wieder offen ist, die ja angeblich vom jetzigen österreichischen Bundeskanzler geschlossen wurde, wird wieder Stimmung gegen die Flüchtlinge gemacht – so auch in Österreich. Diese inneren Spannungen kommen zu den äußeren Spannung hinzu. Noch ist die Europäische Union ein attraktiver Zusammenschluss von demokratischen Ländern. Aber für eine steigende Anzahl von PolitikerInnen und WählerInnen geht es darum, die Attraktivität dieses Europas zu verringern. Flüchtlinge und natürlich WirtschaftsmigrantInnen sollten von der EU ferngehalten werden. Und auch die Länder des Balkans sollten nicht zu eng und nicht zu stark an die EU gebunden werden.

Das Problem dabei ist, dass nicht nach Wegen gesucht wird, wie durch eine aktive Außen- und Sicherheitspolitik die Probleme gelöst werden können, ohne die Attraktivität Europas bzw. der einzelnen Staate der EU zu schmälern. Außer dem französischen Präsidenten Macron und der deutschen Bundeskanzlerin Merkel denkt heute kaum einer nach, wie Europa weiter entwickelt und effizienter gemacht werden kann. Die meisten wollen eine Rückführung der demokratischen Entwicklung und der Öffnung zu neuen Wegen. Eine Flüchtlingspolitik, die nicht allen MigrantInnen die Tür nach Europa aufmacht und vor allem den Menschen vor Ort und nahe ihrer Heimat hilft, ist möglich. Aber man muss sie wollen.

Und den Ländern des Balkans kann man auch im eigenen EU-Sicherheitsinteresse helfen ohne auf eine rasche und unkritische Aufnahme in die EU zu setzen. Zu beiden Themen habe ich schon anderorts Stellung genommen. Beide Themen, so wie auch das Verhältnis zu Russland, sind nicht einfach zu behandeln. Aber wenn der Wille vorhanden wäre, dann könnte Europa Fortschritte auf all diesen Gebieten erzielen. Die Einen müssten auf das Ausschlachten von Vorurteilen verzichten, die anderen auf die Aufrechterhaltung eines klaren Feindbildes.

In der jüngsten Ausgabe des Französischen „magazine litteraire“ wird die Frage gestellt, wie man die EU aus der Realität wieder in die Dimension der Phantasie zurück bringen kann. Brüssel wird geradezu ein Verrat an der Vision eines offenen und vielfältigen Europas vorgeworfenen. Dabei geht es den AutorInnen darum, die Zukunft zu gestalten und nicht so sehr die Vergangenheit zu bearbeiten. Im Leitartikel der Ausgabe vom Mai 2018 verlangen die Autoren, dass „der Kampf gegen die Nationalisten, welche Europa hassen und gegen die Neoliberalen, die Europa hassenswert machen“ geführt werden muss. Es geht darum sich wieder die Idee von Europa anzueignen. Camille de Toledo unterscheidet das technokratische und im Kern neoliberale Europa, das er mit Jacques Delors verbindet, das Huntingtonsche Europa, das eine engstirnige Auffassung eines christlichen und nationalistischen Europas vertritt und dasjenige, das er mit dem Namen Walter Benjamin verbindet. Es ist das Europa, das ein hybrides ist, das eine Vielfalt von Ethnien und Sprachen bejaht. Nun, so einfach sind die Dinge nicht. Und die Realität muss sich von der Vision immer unterscheiden. Die Frage ist allerdings wie groß die Unterschiede sind!

Die Gegenüberstellung der europäischen Realität mit der Vision geht immer zu Ungunsten der Realität aus. Aber man soll sich nicht mit dieser Feststellung zufrieden geben. Will man Menschen für das europäische Projekt gewinnen, so braucht es auch positive Emotionen. Sie sind sicher schwerer zu wecken als es möglich ist, negative Emotionen zu schüren. Positive Emotionen schalten die Vernunft nicht aus. Sie können sich sogar gegenseitig befruchten. Die Umsetzung der Idee eines demokratischen und allen Respekt und Anerkennung entgegen bringenden Europas braucht beides, und es braucht auch die Forderung an alle, Respekt gegenüber den anderen auszudrücken. Dazu gehört auch der Respekt gegenüber den Regeln für ein friedliches Zusammenleben.