Das Jahrhundert der Deportationen

EU_Parlament_Strassburg_Zinner-079Am Montag dieser Woche gedachte das EU-Parlament der Massendeportationen aus den baltischen Ländern. Für die SozialdemokratInnen gab ich im Plenum folgende Erklärung ab.

Heute gedenken wir in besonderem Masse der Vertreibungen und Massen-Deportationen aus den baltischen Ländern. Diese Vertreibungen gehören zu den dunkelsten Ereignissen der europäischen Geschichte. In der Tat, das vergangene Jahrhundert wird nicht zuletzt deswegen und nicht zu Unrecht als ein Jahrhundert der Vertreibungen genannt. Und wir verbeugen uns vor allen Opfern dieser unmenschlichen Handlungen. In diesem Zusammenhang fordern wir eine lückenlose Aufklärung der sowjetischen Geschichte und insbesondere der Gräueltaten des Stalinismus. Und das heutige Russland sollte dies nicht als einen politischen Angriff verstehen, sondern als eine Unterstützung in der Aufarbeitung der eigenen Geschichte, die genau wie die Geschichte vieler anderer Länder durch Sonnen- und Schattenseiten gekennzeichnet ist.

So wie wir an die Opfer aus den baltischen Ländern denken, denken wir an die Armenier, die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts aus der Türkei vertrieben wurden. Wir gedenken des sogenannten Bevölkerungsaustausches zwischen der Türkei und Griechenland. Einen besonderen Höhepunkt erlangten die Deportationen in der Mitte des Jahrhunderts durch das Naziregime und dann das kommunistische Regime der Sowjetunion. Auch die Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg haben tiefe Wunden geschlagen und ebenso die Vertreibungen während des Jugoslawienkrieges. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass viele Kolonialherrschaften durch Vertreibungen gekennzeichnet waren.

Wir müssen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen verschiedenen Formen der Vertreibung und deren Begründungen einfordern und dazu gehört auch eine Klärung der Schuld und die Bestrafung der Schuldigen, soweit das noch möglich ist – wie jetzt im Falle Mladic.

Aber die entscheidende Antwort ist die europäische Einigung und ein klares Bekenntnis zur Fortsetzung des noch keineswegs abgeschlossenen Einigungsprozesses in Europa. Diese historische Aufgabe ist, was wir nicht nur uns selbst, sondern auch den Opfern der Vertreibungen schuldig sind. Viele PolitikerInnen aus allen Ländern Europas, aus Ost und West, haben in den vergangenen Jahren daran gearbeitet, den Versöhnungsprozess in europäischem Geist voranzutreiben. Denken wir zum Beispiel an die „Danziger Erklärung“ durch den polnischen Präsidenten Kwasniewski und den deutschen Bundespräsidenten Rau.

Weil wir aus der Vergangenheit lernen wollen, müssen wir wachsam sein auch gegenüber ersten Ansätzen der Vertreibung wie im Falle der Roma. Wir müssen alle Aussagen wie die, man solle die arabischen Zuwanderer wieder in Booten übers Mittelmeer zurückschicken, sofort und unmissverständlich zurückweisen. Wir müssen uns wehren, wenn einige die Errungenschaften des Europas ohne Grenzen wieder aufheben und zu einem neuen, engstirnigen Nationalismus zurückkehren wollen.

Verneigen wir uns in Ehrfurcht vor allen Opfern der Vertreibungen und der Deportationen. Aber bekennen wir uns zur Fortsetzung der europäischen Einigung als Garantie gegen eine Politik, die im vergangenen Jahrhundert so viel Unglück über die Menschen in Europa, aber auch darüber hinaus gebracht hat. „Niemals vergessen“ und „Niemals wieder“ waren Forderungen, die vor allem nach den Zweiten Weltkrieg geprägt wurden. Sie haben nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Am besten sind sie in einem gemeinsamen Europa aufgehoben.