Demokratie in Europa

Als ich unlängst in Wien bei einer Haltestelle der Linie 49 auf die Straßenbahn wartete, sprach mich ein Herr mittleren Alters an und meinte hinsichtlich der unglücklichen Entscheidung im Zusammenhang mit Zypern: „Es gibt doch so viele Beamte in Brüssel, warum bringen die denn kein einheitliches Steuersystem zusammen?“

 

Leider ist diese Vorstellung einer großen, allmächtigen, aber unfähigen Bürokratie – da oben – in Brüssel häufig anzutreffen. Noch immer wird die Vielfältigkeit der europäischen Konstruktion und Entscheidungsverhältnisse nicht verstanden. Durch das ständige Kritisieren und Abschieben der Verantwortung auf Brüssel durch die nationale Politik wird natürlich diese Vorstellung immer wieder neu genährt.

 

Interessant ist an der obigen Aussage, dass alle ihrer Elemente nicht stimmen. Weder gibt es im Verhältnis zur regionalen und staatlichen Ebene viele Beamte, noch sind sie allmächtig, noch sind Steuerangelegenheiten ihre Kompetenz. Gerade diesbezüglich brauchen sie die Zustimmung der nationalen Regierungen. Und in Steuerfragen ist diese besonders schwer zu erreichen.

 

Dass die europäischen Entscheidungsmechanismen besonders undurchschaubar sind, wurde in den letzten Tagen am Beispiel der Zypern-Krise deutlich sichtbar. Durch die unfassbare Stümperhaftigkeit der Entscheidung, die rasch zu einer Nichtentscheidung wurde, wurde das mehr als sichtbar. Die EU-Kommission, die Europäische Zentralbank, der Internationale Währungsfonds und die Finanzminister der Eurozone inklusive dem zypriotischen Finanzminister nahmen an diesem Entscheidungsprozess teil. Und einer nach dem anderen distanzierte sich danach davon.

 

Und so kam es, dass sich die Zyprioten – natürlich durch die versuchte Belastung auch der kleinen Bankguthaben verstärkt – als Opfer einer undemokratischen Entscheidung sahen. Wieder einmal wurde die „EU“ als eine ferne, autoritäre Organisation gedeutet. Und so wurde allmählich aus einer besonders durch die zypriotischen PolitikerInnen mitbestimmten Entscheidung, eine den ZypriotInnen von außen aufgezwungene Entscheidung.

 

Die für Zypern ursprüngliche gefundene Lösung war besonders unüberlegt und einfältig, aber auch unsozial. Wenn man bedenkt, wie lange man Zeit hatte, sich auf diese Entscheidung vorzubereiten, ist das besonders unerklärlich. Aber andererseits ist es grundsätzlich schwierig, in einer komplexen zusammenwachsenden Welt und insbesondere in Europa Entscheidungen zu treffen, die die verschiedenen Interessen angemessen befriedigen.

 

Und wenn heute zunehmend nach demokratischer Legitimierung europäischer Entscheidungen gerufen wird, so meinen die meisten natürlich Abstimmungen auf nationaler Ebene. Die einen gehen prinzipiell von parlamentarischen Entscheidungen aus – mit der Suche nach einer diesbezüglichen Unterstützung durch nationale Verfassungsgerichte. Andere wieder wie Beppe Grillo, der neue Politstar in Italien, wollen laufende Abstimmungen über‘s Internet verankert sehen. Dazwischen gibt es noch diejenigen, die immer wieder Volksabstimmungen einfordern. Aber eigentlich alle fordern die demokratische Meinungsbildung und Entscheidung auf nationaler Ebene – auch bei europäischen Entscheidungsnotwendigkeiten.

 

Wie sollen dann aber europäische Entscheidungen getroffen werden? Und wenn nicht durch europäische Entscheidungen, wie soll man denn sonst den Finanzmärkten eine Antwort geben, wie soll man unsere Länder auf internationale Wettbewerbsverhältnisse vorbereiten? Wie soll man angesichts der internationalen Datenvernetzung Datenschutz wirksam verankern? Soll jedes Land für sich entscheiden, ob und wie es internationalen Migrationsbewegungen begegnen will? Und wie sieht es mit dem Kampf gegen den globalen Klimawandel aus, soll der auch nationalen Entscheidungen unterworfen werden?

 

Es ist schon schwer genug, durch europäische Entscheidungen globale Verhältnisse zu beeinflussen. Aber durch einen Fleckerlteppich nationaler Entscheidungen bzw. Nichtentscheidungen kann man globale Verhältnisse und Entwicklungen wahrlich nicht mitbeeinflussen.

 

Sicher aber ist, dass die europäische Demokratie das Funktionieren nationaler Informations-, Diskussions- und Entscheidungsstrukturen voraussetzt. Der Fall Zypern zeigt ja, dass hier auf nationaler Ebene dies alles nicht gestimmt hat. Denn schon seit vielen Monaten ist bekannt, dass Zypern Hilfe braucht. Aber ebenso war bekannt, dass auch Zypern selbst etwas zur Abwehr der Krise tun wird müssen. Aber anscheinend hat sich niemand von den zypriotischen PolitikerInnen dazu etwas überlegt. Und das trifft nicht nur Zypern, sondern auch eine Reihe anderer Staaten vorher. Selten kamen sie mit eigenen Vorschlägen. Und so konnte ihnen umso leichter ein strenges und oftmals auch unsoziales Austeritätsprogramm aufgezwungen werden.

 

Und das wieder führte zum Widerstand und zur Kritik an einer undemokratischen EU. Und das Verhalten der Troikas in den einzelnen Ländern – Beamte ohne jede demokratische Legitimation – hat diesen Eindruck noch verschärft. Hinzu kamen überhebliche Bemerkungen von – vor allem deutschen – PolitikerInnen, die die Stimmung in den entsprechenden Ländern noch verschlimmerten. Solange die nationalen PolitikerInnen ihre Verantwortung nicht ernst nehmen und unangenehme Entscheidungen immer „Brüssel“, also Europa zuordnen, wird sich an dieser Situation nichts ändern. Und dies führt oftmals auch zu einer Unterbewertung der Möglichkeiten des Europäischen Parlaments. Das wiederum verursacht eine geringe Wahlbeteiligung und das Erstarken populistischer Kräfte bei den europäischen Wahlen. Und der Teufelskreis schließt sich.

 

Ich habe keine ausgereifte Antwort auf die Frage nach einer verbesserten europäischen Demokratie. Aber die Erneuerung muss auf den regionalen und nationalen Ebenen anfangen. Von der Auswahl der KandidatInnen für die verschiedenen Funktionen, auch für das Europäische Parlament, bis zu den verbesserten Informations- und Diskussionsstrukturen muss uns einiges einfallen. Die neuen Medien können und sollen sicherlich dabei eine größere Rolle spielen. Aber wir brauchen keine Abstimmungsmaschinen. Demokratie heißt auch Selbstmobilisierung mit aktiver Information und Diskussion. Und die Politik muss sich diesen Herausforderungen stellen. Sie darf sich nicht davor fürchten, sondern muss selbst Wege aufzeigen, wie man die Demokratie erneuern und beleben kann. Sonst wird sie Opfer der Vereinfacher und der Populisten.