DIE PERIPHERIE FORDERT DAS ZENTRUM HERAUS

Anfang November fand in Berlin – in unmittelbarer Nachbarschaft zum Brandenburger Tor – die diesjährige Konferenz der Aktion „A Soul for Europe“ statt. Die Organisatoren, mit denen ich seit Anfang an eng verbunden war, hatten den bulgarischen Schriftsteller Georgi Gospodinov und mich gebeten, zur Diskussion über das Thema „Peripherie und Zentrum“ Einleitungsreferate zu halten. Beide stellten wir die Begegnung bzw. Konfrontation der verschiedenen Peripherien in den Mittelpunkt.

Berlin Collage Hannes Swoboda

Vor einiger Zeit ereilte uns die Meldung von Thomas Friedman: „The world is flat“. Wir sollten uns auf eine „flache Welt“, in der letztendlich alle größeren Unterschiede verschwinden, vorbereiten. Genauso wie das „Ende der Geschichte“ war auch diese Nachricht etwas voreilig. Zentrum und Peripherie oder besser Zentren und Peripherien existieren nach wie vor und es gibt viele alte und neu Gräben und Mauern, die diese beiden Zonen trennen – weniger für das Kapital aber für die Menschen.

Allerdings, manchmal brechen die Menschen aus der Peripherie aus, überwinden vorhandene Hindernisse, umgehen neu geschaffene und manchen sich auf den Weg ins Zentrum, wie wir das bei der jüngsten Flüchtlingswelle gesehen haben. Ihre eigene Hoffnungslosigkeit und der Wohlstand im Zentrum bewegt sie, das Risiko einer Flucht ins Zentrum auf sich zu nehmen. Während in vergangenen Jahrhunderten das Zentrum die Peripherie erobert und davon profitiert hat bzw. erst viele Nachbarn zu „unserer“ Peripherie gemacht hat, versuchen jetzt viele Menschen der Peripherie das Zentrum zu „erobern“.

Die – westliche und nördliche – EU als Zentrum

Wenn wir die Dinge aus einer europäischen Sicht, also Europa im Sinne der EU als das Zentrum betrachten, dann sind unsere Nachbarn im Osten und Süden unsere Peripherie. Aber auch innerhalb der EU gibt es Länder der südlichen und östlichen Peripherie in Beziehung zum Westen und Norden. Zuletzt gibt es, unabhängig von der geographischen Verortung, innerhalb der EU Menschen, die in der gesellschaftlichen Peripherie leben – manchmal mitten im Wohlstand. Inzwischen sind oft die verschiedenen Peripherien untereinander in Konkurrenz und im Widerstreit um einen Platz im Zentrum.

Peripher lebende Menschen und Regionen sind sichtlich durch ein geringeres Einkommen bzw. Vermögen gekennzeichnet. Darüberhinaus kann man generell von verminderten Chancen der Teilnahme und der Teilhabe ausgehen und zwar immer in Beziehung zum besser gestellten Zentrum. Die Peripherie zeichnet sich auch dadurch aus, dass die Menschen von dort eher auswandern wollen und zwar ins Zentrum. Insofern hat Friedman recht: Es hat eine Verflachung stattgefunden und bestehende oder sogar neu errichtete Mauern und Zäune werden immer wieder umgangen und überwunden.

In diesem Zusammenhang ist die Entdeckung und Verbreitung des Begriffs „Armutswanderung“ erwähnenswert. Dieser wurde und wird keineswegs wertneutral verwendet und wurde schon mit der Zuwanderung aus Rumänien und Bulgarien geprägt. Wir müssen aber generell in einer Welt, wo Zentrum und Peripherie nicht so stark zu trennen sind, mit der – sichtbaren – Anwesenheit von Armut rechnen. Dabei wurde der Kampf gegen diese Armut dadurch erschwert, dass durch die extreme Rechte eine „Ethnisierung“ der sozialen Probleme stattgefunden hat. Nicht allen sozial Schwachen soll geholfen werden, denn der „fremde“ sozial Schwache wird primär oder fast ausschliesslich als Fremder behandelt. Solidarität unter den sozial Schwachen und mit Ihnen wird dadurch untergraben.

Das Zentrum gestaltete die Peripherie

Man darf aber dabei nicht vergessen, dass das was heute Peripherie ist, wesentlich durch das Zentrum und zwar durch Besetzung, Krieg und Kolonialismus beeinflusst und gestaltet wurde. Die Folgewirkungen der Besetzung des italienischen Südens, der Balkankriege und des Kolonialismus im Nahen Osten und in Nordafrika sind noch heute erkennbar und nachvollziehbar. Und all die durchaus begrüßenswerten Maßnahmen der EU zur Stabilisierung unserer näheren oder weiteren Nachbarschaft waren nicht ausreichend, um die Menschen von der Zukunft ihrer Länder zu überzeugen. Zuwenig Rücksicht wurde dabei auch auf die konkreten Bedingungen und Voraussetzungen für die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Entwicklung genommen. Der Hegemon ist meist interessiert, die Abhängigkeiten zu verstärken, aber das hat schon oft der Existenz des Hegemons und den Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie geschadet. Es ist Zeit, neue Wege zu gehen.

Selbst innerhalb der einzelnen peripheren Regionen wie dem Balkan oder dem Nahen Osten ist das Entwicklungspotential unterschiedlich. Geschichte, Religion und Kultur beeinflussen die Möglichkeiten und Geschwindigkeit der Entwicklung. Aber das Zentrum ist immer auch dadurch gekennzeichnet, dass es diese Differenzierungen nicht zur Kenntnis nehmen möchte und alle Länder nach ihrem Modell „modernisieren“ möchte. Dazu gehören auch die simplen neoliberalen Wirtschaftsreformen, die oft mit Arbeitslosigkeit und Entwurzelung verbunden sind. Und wenn diese Länder unsere Vorstellungen nicht akzeptieren wollen, dann glauben auch viele sogar Gewalt anwenden zu müssen, wie im Irak oder in Libyen.

Auch Moskau ist ein Zentrum

Aber das europäische Zentrum im Sinne der EU hat keine Monopolstellung. Und so hat auch der Einfluss des russischen Zentrums seine noch heute erkennbaren Auswirkungen, vor allem im Osten Europas bis in den Kaukasus. Allerdings hat das heutige russische Zentrum nur für einen geringen Teil der Bevölkerung aus der Peripherie eine Anziehungskraft zum Unterschied zum europäischen Zentrum. Meist ist es nur ein Teil der russischsprachigen, orthodoxen Bevölkerung, die sich vom Zentrum in Moskau angezogen fühlt.

In den ethnisch und sprachlich gemischten Staaten wie der Ukraine, Moldawien und Georgien kommt es dann zwischen der EU und Russland zu Konflikten der Anziehungskraft dieser beiden Zentren. Und auch Russland hilft allzu gerne mit Gewalt nach, um seine Machtvorstellungen um- und durchzusetzen. Dabei ist der Machtanspruch Russlands unter Putin und der des Westens bzw. der EU keineswegs unmittelbar vergleichbar oder gleichwertig. Aber die Überschneidung der Einflusssphären in der gemeinsamen Peripherie birgt ein großes Konfliktpotential in sich.

Kulturelle Überheblichkeit

Unabhängig von den wirtschaftlichen bzw. sozialen Benachteiligungen sind die Peripherien auch durch eine kulturelle Missachtung und Geringschätzung seitens des Zentrums betroffen. Auch die Erweiterung der EU war vielfach durch skeptische und ablehnende Haltungen begleitet. Manche sahen in den Erweiterungsländern und deren Bevölkerungen keine „wirklichen“ Europäer. Und so geht es heute auch den Menschen die aus den islamischen Ländern kommen. Sie sind oftmals vorschnell mit dem Verdacht konfrontiert, ihr Glauben und ihre Kultur ist mit der europäischen unvereinbar. Ihnen wird sogar manchmal unterstellt, sie hegen quasi automatisch als Muslime terroristische Absichten. Und dabei wird Islam mit Islamismus und der wieder mit Terrorismus gleichgesetzt.

Vielfach weigert man sich im Zentrum, sich mit den kulturellen und religiösen Besonderheiten der Peripherie auseinander zu setzen. Das haben vor allem auch die jungen Zuwanderer in den französischen Banlieues zum Ausdruck gebracht. Aber nur eine solche ernsthafte Auseinandersetzung schafft die Möglichkeit, die gemeinsame und friedliche Entwicklung von Zentrum und Peripherie in Gang zu setzen. So wie aus den Peripherien die Präsenz des Zentrums nicht mehr wegzudenken ist, so ist es auch umgekehrt. Das europäische Zentrum ist ohne Gegenwart der Peripherie auch in Gestalt von Zuwanderern und Flüchtlingen inklusive der Roma aus dem Osten Europas nicht mehr zu denken. (Und das war übrigens auch für mich als Vorsitzender der Kommission Berlin Mitte, das ausschlaggebende Argument dafür, dass das neu aufgebaute Schloss im besonderen Maße den außereuropäischen Kulturen zu widmen sei.)

Konflikte zwischen den Peripherien

Vielfach wird nur von den Konflikten zwischen den Peripherien und dem Zentrum gesprochen. Aber in Wirklichkeit geht es oftmals um einen Konflikt zwischen den unterschiedlichen Peripherien. Das konnte und kann an dem Streit um die Verteilung der Flüchtlinge auf die einzelnen EU Länder abgelesen werden. Die meisten östlichen Länder waren skeptisch bis ablehnend, wenn es um die Aufnahme von – vor allem muslimischen Flüchtlingen – ging. Ein wenig anders ist es bei den südlichen Ländern, die das multikulturelle Zusammen-leben als Anrainer des Mittelmeers eher gewohnt sind. Griechenland, das Großteils von der Türkei besetzt war, ist dabei eher eine Ausnahme. Auch das Umgehen mit der Roma Bevölkerung ist vor allem im Osten deutlich diskriminierender als im Süden, obwohl es überall positive wie negative Ausnahmen gibt.

Aber auch innerhalb der Länder des Zentrums sind es vor allem die peripher lebenden Menschen, die das größte Problem mit dem Flüchtlingszustrom haben. Und da sind es manchmal die vor einiger Zeit zugewanderten Personen, die erst kaum aus der extremen Peripherie entkommen sind, die besonders ablehnend reagieren. Generell fühlen sich diejenigen, die sich noch immer in oder nahe der – nationalen oder gesellschaftlichen – Peripherie befinden, besonders in ihrer gesellschaftlichen Position durch Zuwanderung gefährdet.

Peripherie im Wohlfahrtsstaat

Man vergisst, übersieht und verdrängt oft, wie viele Menschen innerhalb der EU und vor allem auch von Wohlstandsgesellschaften in der – wirtschaftlichen und gesellschaftlichen – Peripherie leben. Die lang andauernde Wirtschaftskrise mit hoher und zum Teil Langzeitarbeitslosigkeit bzw. prekären Arbeitsverhältnissen hat die Anzahl dieser Menschen in den meisten Mitgliedstaaten in den letzten Jahren deutlich erhöht. Die Zuwanderung aus der südlichen außereuropäischen Peripherie – und darüber hinaus – hat die Ängste dieser Menschen verstärkt. Sie befürchten eine weitere Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Situation und der Chancen ihre Lebenslage zu verbessern. „Und wo bleibe ich?“ drückt eine vielfach anzutreffende angstvolle Stimmung aus. Große und wachsende Ungleichheit sind für den Zusammenhalt jeder Gemeinschaft gefährlich.

Nun handelt es sich dabei nicht um ein Nullsummen-Spiel, wo der gesellschaftliche Wohlstand entweder den Flüchtlingen oder den „Einheimischen“ zugute kommt. Aber viele in der Peripherie sehen es so. Und die politischen Reaktionen entspringen den Wahrnehmungen und den Gefühlen und beruhen nicht auf volkswirtschaftlichen Berechnungen. Und in vielen Städten findet man nach wie vor viele Zuwanderer und deren Kinder in einer diskriminierten, peripheren Situation. Sowohl materiell als auch hinsichtlich ihrer Anerkennung und Würde befinden sie sich weit außerhalb des Zentrums. Und das wiegt oft schwerer als die materielle Ungleichheit.

Zentrum und Peripherie in Partnerschaft

Zentrum und Peripherie befinden sich infolge von Wanderungsdruck aus der Peripherie und den damit verbundenen Konflikten in einem kritischen Verhältnis. Man sieht das in Europa genauso wie an den gespannten Verhältnissen an der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Das Heil wird dann vielfach darin gesehen, mit Gewalt neue Grenzen zu ziehen und Zäune sowie Mauern zu errichten. Alle Fälle von solchen Grenzziehungen zeigen allerdings die Hinfälligkeit und Lückenhaftigkeit solcher Maßnahmen. Und selbst die chinesische Mauer und der römische Limes konnten Einbrüche nicht verhindern.

Die Alternative besteht in einer gemeinsamen Politik zur Verringerung der Unterschiede, um den Menschen Hoffnung auf Verbesserung zu geben. Das ist sicher ein Langfristprojekt und kann nicht allein vom Zentrum aus geleistet werden. Auch in diesem Fall muss der Wohlstand des Zentrums zur Entwicklung in den peripheren Regionen beitragen. Den Wohlstand im Zentrum zu verteidigen heisst, ihn mit der Peripherie zu teilen. Entweder die Bevölkerung der Peripherie kommt durch legale Zuwanderung innerhalb der EU, Flucht und illegale Migration ins Zentrum, um dort am Wohlstand und der Freiheit zu partizipieren oder wir versuchen verstärkt durch Handel und Investitionen die wirtschaftliche, soziale und letztendlich auch demokratische Entwicklung in der Peripherie zu fördern. Das gilt für die Regionen innerhalb der EU, in Bezug zum weiteren Europa aber sicher auch für die außereuropäische Peripherie.

Parallel dazu müssen aber auch die kulturellen Eigenheiten und die Vielfalt anerkannt werden, die gerade auch die Peripherie auszeichnen. Sicher hat auch jede Peripherie ihre eigene Geschichte, nicht zuletzt mitgeprägt durch das Zentrum. Das Zentrum muss die ihm eigene kulturelle Überheblichkeit ablegen und einen ernsthaften Dialog eingehen.

Solche wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Konzepte und deren Umsetzung können sicher nur in Partnerschaften entwickelt werden. Die in letzter Zeit „modern“ gewordenen militärischen Interventionen in der südlichen Peripherie außerhalb der EU sind sicher kein solcher Beitrag. Nur mit Geduld und einer langfristigen Orientierung sowie Anreizen zu lokalen Initiativen kann eine Trendwende der Entwicklung erreicht werden.

Kein Ende der – europäischen – Geschichte

Wir sind aber noch keineswegs am „Ende der Geschichte“ angelangt. Viele machen uns drauf aufmerksam, dass der Klimawandel noch weitere Wanderungsbewegungen aus der Peripherie hervorrufen wird. Im Hinblick auf die Konsequenzen des Klimawandels in mehreren Regionen der Welt gilt es dann auch für weiter entfernte Peripherien Partnerschaften der Entwicklung zu organisieren.

Aber dennoch müssen wir uns auf eine Gesellschaft größerer Diversität sowohl im Zentrum als auch in der europäischen Peripherie vorbereiten. Dazu braucht es keiner von oben herab verordneten – deutschen- Leitkultur, die erst wieder Ausdruck einer noch dazu rückwärts gewandten Überheblichkeit des Zentrums darstellt. Aber sicher brauchen wir eine Debatte über ein nach vorne gewandtes – europäisches (!) – Leitbild über das künftige Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher kultureller, religiöser etc. Herkunft. Da genügt wahrscheinlich ein „Verfassungspatriotismus“ wie ihn auch Habermas forderte nicht. Dieser ist sicher die selbstverständliche und notwendige Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben. Aber darüber hinaus braucht es ein gesellschaftliches Selbstverständnis, das über das rechtliche hinausgeht. Aber ein solches Leitbild verlangt nicht nur Anpassungen der Menschen aus der Peripherie sondern auch aus dem Zentrum. Und darüber hinaus muss es zum Abbau von Diskriminierungen, Vorurteilen und ungerechtfertigten Differenzierungen beitragen.

Ein solches gemeinsames Projekt zwischen Zentrum und Peripherie ist not-wendig, soll Europa nicht gefährdet werden. Dabei geht, wie Ivan Krastev kürzlich feststellte, die Desintegration nicht von der Peripherie aus, sondern vom Zentrum. Und zwar dann, wenn sich die Gewinner der Integration – wie Deutschland – als Verlierer sehen. Und das wäre dann der Fall, wenn sich das Zentrum durch die Peripherie geschwächt sähe. Und rechte, anti-europäische Kreise arbeiten fleißig daran – in unterschiedlicher Form in Deutschland, Österreich, Frankreich, Schweden etc. die BürgerInnen von dieser Schwächung zu überzeugen. Darum bedarf es eines geneinsamen europäischen Projekts, das die Gegnerschaft zwischen Peripherie und Zentrum, sowie zwischen den verschiedenen Peripherien überwindet.