Ein blutiger Sommer

Ein blutiger Sommer – der für viele kein wirklicher Sommer war – geht langsam zu Ende. Viel Blut ist geflossen, vor allem im Nahen Osten und auch im Osten der Ukraine. In all diesen Fällen allerdings konnte keine Lösung der Konflikte gefunden werden und es ist zu befürchten, dass das Blutvergießen weitergehen wird.

Israel und Hamas: zwei Partner im Krieg

Was die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas betrifft, so gab es diesen Sommer eine Neuauflage, die sich die Extremisten auf beiden Seiten immer wieder wünschen. Die meisten Opfer „liefert“ die Zivilbevölkerung. Aber die Opfer sind nicht die Sorge derjenigen, die immer wieder einen Krieg beginnen, wissend, dass sie den Gegner verwunden und schwächen, aber nicht vernichten können. Hamas und Netanyahu brauchen sich und bestärken sich gegenseitig. Sieger sehe ich keine, Verlierer viele. Übrig bleiben diejenigen, die nach wie vor in Armut, ohne Arbeit und Chancen leben. Denn es stimmt, was immer wieder betont wird: Gaza ist ein großes Gefängnis, in dem der Großteil der Bevölkerung seiner wichtigsten Chancen beraubt ist.

Der einseitige Abzug der Israelis – Siedler und Soldaten – hat daran nichts geändert, denn die israelische Blockade ist geblieben oder wurde sogar verstärkt. Und gerade das hat die Hamas, die ja von Israel sogar als Gegengewicht gegen die PLO unterstützt wurde, radikalisiert und ihr Unterstützung in der Bevölkerung gebracht. Viele wollen das bei uns in Europa, gerade auch in Österreich, nicht hören. Aber sie sollten einmal in die besetzten Gebiete inklusive dem Gazastreifen fahren, sie sollten wenigstens einmal die israelischen Wachposten und Checkpoints zu Gaza bzw. zur Westbank passieren und sehen, wie es den PalästinenserInnen dabei ergeht. Sie sollten die unmenschliche Mauer, die zum Teil quer durch palästinensisches Gebiet und die Felder einzelner Bauerngüter gezogen wurde, sehen und den täglichen Landraub durch die Ausbreitung der Siedlungen etc. Wer immer nur nach Israel fährt, kann das nicht erleben und erfühlen.

Und dennoch ist der bewaffnete Kampf der Hamas gegen Israel dumm und sinnlos. Die USA, Europa und viele andere werden niemals die Vertreibung der Israeli zulassen – mit Recht. Wer das nicht einsieht, muss blind und/oder fanatisch sein. Nur ein gemeinsames palästinensisches friedliches Vorgehen kann weltweit jene Sympathien wecken, die Druck auf die verschiedenen israelischen Regierungen ausüben können, eine Lösung des Konflikts zu akzeptieren. Und dazu bedarf es vor allem der Einforderungen der Grund- und Freiheitsrechte für alle BewohnerInnen der Region. Warum wird einem Palästinenser/einer Palästinenserin weit weniger an Berufschancen und Bewegungsfreiheit zugestanden als einem Israeli oder einer Israelin? Das müsste der Ausgangspunkt der Konfliktlösung sein und nicht die institutionellen Fragen der Zwei- oder Einstaatenlösung. Und Europa müsste in diesem Zusammenhang besonders aktiv sein, denn uns in der EU liegen ja die Menschenrechte besonders am Herzen. Die Wahrung und Durchsetzung der Grund- und Freiheitsrechte sind geradezu ein Gründungselement der EU.

Zerfällt der Irak?

Die BewohnerInnen von Syrien und der Irak hatten auch diesen Sommer kaum Grund zu Freude. Die gewaltsamen und zum Teil kriegerischen Auseinandersetzungen gingen weiter. Neu hinzu kam die Ausbreitung der besonders extremen terroristischen Gruppe „Islamischer Staat (IS)“. Aus dem bewaffneten Konflikt in Syrien kommend, konnte sie zunehmend auch wichtige Gebiete im Irak besetzen und dort ihr brutales Unwesen treiben. Auch die Kurden der autonomen Region hatten Mühe, ihr Terrain zu verteidigen. Sie waren auf westliche Waffenlieferungen angewiesen. Ich habe selbst noch in diesem Frühjahr bei meinem Besuch in Erbil den erfolgreichen Aufbau dieses kurdischen Substaates gesehen und war sehr beeindruckt. Leider hat es der irakische – schiitische – Ministerpräsident Maliki nicht verstanden, weder die Sunniten noch die Kurden in einen gemeinsamen föderalen Staat zu integrieren. Dabei ging es natürlich um derart handfeste Angelegenheiten wie die Aufteilung der Erlöse aus den Erdöl- und Erdgasexporten. Ich hoffe, dem neuen, ebenfalls schiitischen Kandidaten zum Ministerpräsident gelingt die Integration der verschiedenen Gruppen im Irak besser als seinem Vorgänger.

Wahrscheinlich bleibt den USA gar nichts anders übrig, als durch Bombenangriffe den Kampf gegen diese terroristischen Gruppierungen zu unterstützen. Aber Hillary Clinton liegt meiner Meinung nach falsch, wenn sie Barack Obama vorwirft, dass er in den Syrienkrieg nicht militärisch eingegriffen hat. Sie meinte unlängst, so hätte man die Ausbreitung der Gruppe „Islamischer Staat“ verhindern können. Sieht sie denn nicht, dass alle westlichen militärischen Interventionen der letzten Jahre in den islamischen Ländern die Lage nur noch verschlimmert haben?

Ich leugne nicht, dass Saddam Hussein ein furchtbarer Diktator war. Aber was hat die amerikanische Intervention gebracht? Ich empfehle bei dieser Gelegenheit den Roman von Najem Wali „Bagdad Marlboro“, der die Gräueltaten aller Beteiligten sehr anschaulich schildert. Und ähnliches ist über Gaddafi und Assad zu sagen. Im Falle Libyens hätte der Westen, vor allem Frankreich und Großbritannien, die Struktur der einzelnen Stämme und die Anwesenheit der vielen Söldner aus Afrika mehr studieren und beachten sollen. Und vielleicht hätte man sich im Falle Syriens eine Strategie der Konfliktbeilegung überlegen sollen, die die Besonderheiten gerade dieses Landes berücksichtigt hätte. Dieses primitive über einen Kamm Scheren und der Glaube an segensreiche Revolutionen in allen arabischen Ländern zur Durchsetzung der Demokratie waren sehr primitiv. Jetzt müssen wir uns mit den Folgen herumschlagen. Und Hillary Clinton, die ja im Unterschied zu Barack Obama der Irakintervention zugestimmt hatte, sollte sich bei ihren forschen Beurteilungen zurückhalten – genauso wie viele neo-konservative Anhänger von Präsident Bush.

Ein Land, das in dieser Region eine große, positive Rolle spielen könnte, wäre die Türkei. Man wird sehen, welchen Weg der neue Präsident Erdogan und der von ihm auserkorene Nachfolger als Ministerpräsident, Sancho Davutoglu, einschlagen werden. Sehr erfolgreich war ja die regionale Außenpolitik in den letzten Jahren nicht. Es war Davutoglu, der eine Nachbarschaftspolitik ohne Konflikte propagierte. Es war nun nicht nur seine Schuld, dass diese nicht gelungen ist. Aber seine Vorstellungen von einer neuen Ära einer stark türkisch dominierten islamischen Welt werden sich kaum herstellen lassen. Ein neues, türkisches Selbstbewusstseins in Kombination mit einer starken Verbindung zur EU, den USA und Russland könnte die Türkei in der Tat zu einem positiven und vermittelnden Machtfaktor entwickeln lassen. Ich würde es diesem großen Land und seiner Bevölkerung wünschen. Aber das setzt voraus, die Lage in der Nachbarschaft etwas realistischer zu sehen und sich nicht von Phantasievorstellungen beherrschen zu lassen. Die Ära eines osmanischen Imperiums ist längst vorbei.

Russlands imperiale Strategie

Wer geglaubt hat, in Europa habe ein neues friedliches Zeitalter begonnen, der hat geirrt. Ja, innerhalb der EU ist trotz aller Konflikte und Streitereien eine kriegerische Auseinandersetzung undenkbar. Aber das vielfach gespannte Verhältnis zwischen der EU und Russland hat sich insbesondere seit der neuerlichen Präsidentschaft Putins in einen offenen Konflikt verwandelt. Putins Neuorientierung an manchen zaristischen Vorbildern hat seine inneren und äußeren Auswirkungen. Im Inneren ist die demokratische Entwicklung gestoppt worden oder sogar im Rückzug. Und was das Äußere betrifft, so sieht Putin Russland als Schutzmacht aller RussInnen oder russischsprachigen Bevölkerungsteile auch in den Nachbarländern, so in Georgien, Moldawien und besonders in der Ukraine. Diese russische, konservative und nationalistische Konzeption widerspricht krass der Grundphilosophie der EU. Es ist allerdings nicht überraschend, dass diejenigen, die in der EU selbst diese offene, antinationalistische und grenzüberschreitende Philosophie ablehnen, wie die Rechtsextremen, offene Sympathie für Putin und seine Politik haben.

Die USA und die EU waren jedenfalls auf diese russische Reaktion auf die EU-Nachbarschaftspolitik schlecht vorbereitet. Zwar haben einige „antirussische“ Kräfte, vor allem aus Polen und dem Baltikum, immer vor einem russischen Imperialismus gewarnt und Putin als den neuen Stalin bezeichnet. Aber wie ich auch während meiner jüngsten Reise ins Baltikum feststellen konnte, ist der russische Expansionsdrang viel älter als der Kommunismus und insbesondere als der Stalinismus. Und aus vielen anderen Gründen ist der Vergleich Putins mit Stalin unsinnig und schlicht historisch falsch. Dennoch müssen wir versuchen, dieser neuen bzw. wieder aufgelebten russischen nationalistischen Politik etwas entgegenzusetzen. Wir können Annexionen und Okkupationen, die nicht nur dem Völkerrecht, sondern auch rechtskräftigen Verträgen widersprechen, nicht einfach akzeptieren.

Ich habe allerdings meine Zweifel, dass mit Sanktionen bzw. mit Sanktionen allein, Putin in die Knie gezwungen werden kann. Weder die Annexion der Krim noch die permanenten Infiltrationen in die Ostukraine können einfach hingenommen werden. Und die Wortwahl von Putin und Außenminister Sergej Lawrow lassen keine Zweifel an deren expansionistischen Einstellung aufkommen.

Dennoch müsste man versuchen, einen Durchbruch zu einer pragmatischen Lösung der Krise zu erzielen. Die Neutralität der Ukraine und damit der Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft könnten mit der Zeit ein neues Verhältnis zu Russland ermöglichen. Dabei ist aber vor allem eine neue innere Struktur des Landes notwendig. Das Land und die Bevölkerung sind vielfach gespalten. Das politische System ist sehr fragil, wie vor allem die letzen Parteiwechsel prominenter Politiker wieder gezeigt haben. Nicht nur die Separatisten sind zurückzudrängen, sondern auch die ukrainisch-nationalistischen Rechtsextremen. Denn diese Nationalisten spielen genau in die Hände Putins, wenn sie die russischsprachige Bevölkerung nicht respektieren. Die Einheit des Landes ist nur als multisprachiges und multikulturelles Land zu bewahren.

Das ist auch kürzlich vom Vorsitzenden der Münchner Sicherheitskonferenz und ehemaligen deutschen Spitzendiplomaten Wolfgang Ischinger zum Ausdruck gebracht worden: „Schließlich besteht die beste Reaktion auf Putins Politik, die Stabilität und Integrität der Ukraine auszuhöhlen, darin, die Entwicklung von Demokratie, Stabilität und Rechtsstaatlichkeit in diesem Land nachdrücklich zu unterstützen.“ Europa und die Nato müssen sicherlich auch die militärische Kapazität der Ukraine unterstützen, aber die ukrainische politische Klasse muss sich ihrer Verantwortung bewusst sein und entsprechend handeln

Beide extremistischen Seiten spalten das Land und beide müssen zu einem Kompromiss bereit sein. Und die Führung des Landes, insbesondere Präsident Petro Poroschenko, müsste nicht nur die äußere Aggression sehen und nach Hilfe rufen, sondern auch selbst die notwendigen Reformen in Angriff nehmen. Die angekündigten Neuwahlen des Parlaments für den Herbst sind eine Chance – vielleicht die letzte –, das politische System zu erneuern. Aber nur dann, wenn auch die Menschen im Osten der Ukraine an den Wahlen teilnehmen (können) und außerdem die gewählten VertreterInnen dieser Region gehört und in eine Neuorganisation des Landes mit einbezogen werden.

Alte Probleme, neue Führung der EU

In den letzten Tagen ist die Führungsgruppe der EU nach der Wahl von Jean Claude Juncker im EU-Parlament im Juli komplettiert worden. Der Rat wählte den polnischen Ministerpräsident Donald Tusk zum neuen Ratsvorsitzenden und die junge italienische Außenministerin Federica Mogherini zur EU „Außenministerin“. Als Vizepräsidentin der EU-Kommission muss sie zwar noch vom EU-Parlament bestätigt werden, aber davon ist auszugehen. Die Kritikpunkte hinsichtlich ihrer mangelnden Erfahrung sind zwar richtig, aber ich schätze sie als eine sehr engagierte und ausgleichende Persönlichkeit. Und so kann sie manche „Einseitigkeit“ des aus Polen stammenden Ratsvorsitzenden ausgleichen. Auch Tusk kenne ich schon seit längerem, er ist ein Konservativer, aber durchaus eine Persönlichkeit, die die Aufgabe eines Ratsvorsitzenden erfüllen kann. Juncker, Tusk und Mogherini haben nun außenpolitisch ein schweres Erbe anzutreten und es ist zu hoffen, dass sie trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen gut zusammen arbeiten und breite Unterstützung bekommen.

Die neue Führung muss sich unter anderem damit auseinandersetzen, dass uns gerade jetzt, wo wir Russland brauchen könnten, um die Probleme im Nahen Osten schrittweise zu lösen, dieses Land als Partner verloren geht. Aber das darf nicht zu einer prinzipiell anti-russischen Haltung führen. Und es darf auch nicht dazu führen, dass wir nur den USA kopflos und unbedingt folgen, einem Land, das sowohl von Russland (auch wirtschaftlich gesehen) als auch von den Kriegsschauplätzen im Nahen Osten weit entfernt ist. Und das viele der heutigen Probleme mit verursacht hat. Auch diesbezüglich müssen wir pragmatisch bleiben. Das können wir allerdings nur, wenn wir eigenständig und geschlossen bleiben und nicht nur reagieren, sondern auch eine langfristige außenpolitische Strategie entwickeln. Daran wird die neue „Troika“, bestehend aus Juncker, Tusk und Mogherini, zu messen sein.