Widersprüchliche Eindrücke in der Ukraine

Meinen jüngsten Besuch in der Ukraine zusammenzufassen, fällt mir nicht leicht. Zu widersprüchlich sind die Eindrücke und jeden Tag, ja beinahe jede Stunde kommen neue Nachrichten aus der Ukraine selbst und bezüglich des Konflikts mit Russland. Sicher ist, dass die Entwicklungen der letzten Monate nicht vorhersehbar waren, oder jedenfalls nicht vorher gesehen wurden – weder in der Ukraine selbst noch seitens der Europäischen Union.

Ich bin schon einige Zeit nicht in der Ukraine gewesen. Und ich habe auch nicht am „Maidan-Tourismus“ teilgenommen, habe also nicht die DemonstrantInnen am zentralen Kiewer „Maidan“ Platz mit Versprechungen und Zusagen überhäuft, wie das manche meiner KollegInnen gemacht haben. Nun, ich war keineswegs gegen den Besuch von EU-ParlamentarierInnen, aber ich wollte dann kommen, wenn sich die Lage geklärt und „normalisiert“ haben würde. Davon kann aber leider auch heute nicht die Rede sein. Dennoch, die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen waren sicher ein gegebener Anlass, die Lage auch vor Ort zu eruieren.

Die Geschichte der Ukraine ist eine sehr Bewegte. Allein in den letzten 100 Jahren hat sie vor allem Faschismus, Kommunismus und Oligarchenherrschaft kennengelernt. Denn auch die „Orangene Revolution“, die damals von vielen meiner KollegInnen mit orangenen Schals im Plenarsaal gefeiert wurde, hat an der grundsätzlichen oligarchischen Struktur des Landes nichts geändert. Und heute meinen viele junge VertreterInnen der Maidanbewegung, dass noch immer die Oligarchen die Politik beherrschen und auch die neue Regierung nichts unternimmt, um diesem Übel abzuhelfen.

Jedenfalls hat die Ikone der Orangenen Revolution, Julia Timoschenko, die sich auch jetzt wieder um das Präsidentenamt bewirbt, ihre Chance, das Land grundsätzlich zu verändern, vertan. Dass Präsident Janukowitsch sie ins Gefängnis steckte, hat sie zwar zum Opfer stilisiert, aber nichts an ihrem offensichtlichen Versagen geändert. Noch heute leidet das Land am Streit zwischen Timoschenko und dem damaligen Präsidenten Juschtschenko, die die orangene Revolution vermasselt und kaum grundsätzliche Reformen eingeleitet haben.

Nachdem Janukowitsch der Wahlfälschung überführt wurde, hat er nochmals kandidiert und bei freien Wahlen gewonnen. Aber die Verhandlungen mit der EU über das Assoziierungsabkommen hat er nicht ehrlich geführt und sich jedenfalls zuletzt dem Druck Moskaus gebeugt. Und der war sehr stark und angesichts Moskaus Informationen über die persönliche Bereicherung des Präsidenten und seines Sohnes war Janukowitsch doppelt erpressbar: in seiner Funktion als Präsident und als Oberhaupt einer Oligarchenfamilie.

Nun, Moskau hat ein vielfaches Interesse daran, seinen Einfluss auf die Ukraine nicht zu verlieren. Es ist wirtschaftlich, vor allem auch über oligarchische Strukturen mit dem Land verbunden. Aber sicherlich geht es um mehr. Der heutige russische Präsident Vladimir Putin ist nicht mehr derselbe wie der vor einigen Jahren. Er hat sich mehr und mehr zu einem aggressiven Nationalisten gewandelt, der seine Hände in die Nachbarschaft ausstreckt. Ich glaube nicht, dass er davon träumt, die Sowjetunion wiederherzustellen. Aber er versucht zumindest, seine Machtinteressen durch das Schüren von Konflikten in der Nachbarschaft Russlands auszuspielen. Ob in Georgien, ob in Moldawien oder jetzt in der Ukraine: Immer wieder versteht es Putin, seine Gebietsansprüche durch solche Konflikte deutlich zu machen.

Nun ist Russland geo-politisch gesehen der große Verlierer des Zusammenbruchs der Sowjetunion und des damit verbundenen Sicherheitssystems. Viele Russen bzw. russischsprachige BürgerInnen waren plötzlich in eine Minderheitenposition versetzt. Sie wurden dabei nicht immer gut behandelt. Das betrifft zum Teil auch die baltischen Staaten. Und Putin und mit ihm auch die russisch-orthodoxe Kirche konnten sich nicht mit dem Konzept multi-ethnischer und multisprachiger Gesellschaften abfinden. Dabei haben die verschiedenen Nationalisten in den Nachfolgestaaten, auch von ihrer Seite aus, die Multikulturalität in Frage gestellt. Und darum unterstützen auch Marine Le Pen und die FPÖ Putin in seiner nationalistischen Politik. Im Übrigen ist die Kooperation von Putin und der russischen Orthodoxie eine, die zur gemeinsamen Ablehnung der europäischen, westlichen Demokratie und Freizügigkeit führt. Beide bezeichnen den Westen auch als eine amoralische, von Schwulen und Lesben beherrschte Gesellschaft.

Und auch die Faschismuskeule wird seitens der russischen Propaganda schnell geschwungen, gerade auch im Falle der Ukraine. Auch diesbezüglich gibt es eine kleine, aber aktive Minderheit von faschistoiden und mit Nazi-Symbolen arbeitenden Gruppierungen, die leider von den wirklich europäisch orientierten Kräften nicht rechtzeitig und stark genug zurückgewiesen wurden. Bei meinem Besuch auf dem Maidan habe ich sie auch persönlich gesehen. Auch die Regierungsbeteiligung der weit rechts stehenden Svoboda-Partei ist keineswegs hilfreich.

Der Maidan bestand aber keineswegs nur aus diesen rechtsextremen Gruppierungen, sie waren und sind eine Minderheit! Und auch die heute glücklicherweise noch bestehenden Maidan-Kräfte sind diejenigen, die am stärksten für grundsätzliche Reformen der gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen arbeiten. Die Oligarchen und deren Herrschaft sind ihnen ein Dorn im Auge, auch wenn sie wissen, dass sie deren Einfluss auf die Politik nur schrittweise abbauen können. Die Maidan-Kräfte in Kiew sind dabei etwas realistischer als diejenigen in Charkow (Kharkiv) in der Ost-Ukraine, wo wir auch gewesen sind. Aber auch sie waren durchaus gesprächsbereit.

Am Tag, bevor wir nach Charkow fuhren, wurde dem Bürgermeister von Charkow, Gennady Kernes, in den Rücken geschossen und er wurde schwer verletzt. Premierminister Yazenyuk meinte uns gegenüber, das sei ein Warnschuss pro-russischer Kräfte an andere Oligarchen (z.B. an Rinat Akhmetov), die sich so wie Kernes auf die Seiten der pro-ukrainischen Kräfte schlagen könnten. Und die Maidan-Leute von Charkow unterstrichen, dass Kernes ein „Mafiaboss“ sei, aber man habe mit ihm gute Gespräche über den Erhalt der ukrainischen Einheit geführt.

Die Nachricht vom Attentat auf Gennady Kernes erhielten wir übrigens, als wir gerade das Gespräch mit einem anderen Oligarchen begannen, mit Petro Poroschenko, dem ukrainischen „Schokoladenkönig“. Er ist der aussichtsreichste Kandidat für die nächsten Präsidentschaftswahlen und wahrscheinlich auch der beste. Wie auch immer, wichtig wären freie und korrekte Wahlen. Aber ob das Russland bzw. die von Putin unterstützen Kräfte zulassen, ist zweifelhaft. Denn sie fürchten die Stärkung der Einheit des Landes durch einen demokratischen Wahlprozess, dem dann Parlamentswahlen im Herbst dieses Jahres folgen könnten.

Mit Poroschenko und einem Kandidaten aus dem ehemaligen Lager von Yanoukovich, Serhiy Tigipko, aber auch mit dem Übergangspräsident Oleksander Turchinov und Premierminister Arseniy Yatsenyuk besprachen wir die angekündigte Dezentralisierung des Landes. Wie mir die Regionalvertreter in Charkow berichteten, ist das eine langjährige Forderung vor allem der östlichen Regionen und hat mit der russischen Forderung nach Föderalisierung nichts zu tun. Dennoch haben viele in Kiew Angst – nicht nur von einem Machtverlust, sondern auch vor der Förderung separatistischer Bewegungen durch mehr Macht für die Regionen. Deshalb gibt es auch Bestrebungen, mehr die Städte und Gemeinden zu stärken, was jedenfalls gut wäre.

Man erkennt aber aus all den Gesprächen, dass die Ukraine einen großen Nachholbedarf an Reformen hat, da die Orangene Revolution durch die eigenen FührerInnen verraten wurde. Aber der Weg zu einem modernen demokratischen Staat wird sehr mühsam werden. Die oligarchischen Strukturen und der Druck aus Russland sind da nicht hilfreich. Auch die tiefe Religiosität, die man bei dem Besuch der vielen Kirchen und Klöster sehen kann, ist sicher nicht förderlich, wenn es um mehr persönliche Freiheit und Selbständigkeit geht.

Nicht alle politischen Kräfte haben erkannt, dass die Ukraine vor allem selbst an einer Änderung des politischen Systems arbeiten muss. Für allzu viele ist die tatsächliche russische Aggression, nicht zuletzt durch die handstreichartige Annexion der Krim, ein Alibi für mangelnde Reformen im Inneren. Insofern ist zu hoffen, dass der „vernünftige“, und das heißt reformorientierte und zugleich realistische Kern der Maidan-Bewegung weiterhin Einfluss auf die Entwicklung des Landes nimmt.

Das Geld der EU, der USA und aus dem Internationalen Währungsfonds kann sicherlich helfen, die dringendsten wirtschaftlichen Probleme zu lindern. Aber manche Reformen, wie der Abbau der Subventionen und die dadurch steigenden Energiepreise werden nicht gerade die Popularität der Reformen und des europäischen Weges steigern. Die EU sollte daher sehr auf eine hohe Flexibilität bei der Umsetzung der Reformen drängen, wenn es um soziale Härten geht. Bei der Forderung nach Abbau oligarchischer Strukturen hingegen sollte sie hart bleiben.

Parallel dazu muss sich Europa bemühen, mit Russland ins Gespräch zu kommen. Angesichts der Politik von Vladimir Putin wird das nicht leicht sein. Er wird auch sicherlich nicht die von ihm angestachelten pro-russischen Kräfte einfach in Stich lassen. Er braucht sie, um auf Russlands Nachbarn immer wieder „Einfluss“ zu nehmen. Aber eigentlich sollte er genug Probleme an seinen eigenen Grenzen, vor allem im Kaukasus, haben. Und auf Dauer wird er auch nicht durch eine aggressive Außenpolitik von den internen Problemen, so zum Beispiel von den Modernisierungsschwächen und dem Bevölkerungsrückgang, ablenken können. Aber wir sollten uns auf einen länger andauernden Konflikt vorbereiten.

PS.: Die jüngsten Ereignisse im Osten und Südosten der Ukraine haben meine schlimmsten Befürchtungen übertroffen. Ich verstehe jede Regierung, die mit illegalen Besetzungen und Aufständen konfrontiert ist, dass sie reagieren möchte und die legale Situation wieder herstellen will. Aber dennoch möchte ich die Klugheit des jetzigen militärischen Vorgehens in Frage stellen. Denn durch die Reaktion eines Teils der betreffenden Bevölkerung wurde klar, dass es sich nicht nur um wenige von Russland eingeschleuste Extremisten handelt. Ach wenn ich den Einfluss der unglaublichen russischen Propaganda auf die russischsprachige Bevölkerungen nicht unterschätzen möchte, allein die Propaganda der letzten Monate kann nicht einen solchen Widerstand hervorrufen.

Und im Übrigen gibt es, wie die Vorfälle in Odessa zeigen, auf beiden Seiten unverantwortliche Extremisten. Wobei mir diese Vorfälle besonders wehtun. Ich habe diese Stadt mit ihrer faszinierenden multikulturellen Geschichte und Gegenwart mehrfach besucht. Gerade sie könnte ein Symbol für eine multikulturelle, mehrsprachige Ukraine sein.

Ich habe allerdings den Eindruck, dass geradezu – von einigen jedenfalls – ein russisches Eingreifen provoziert werden sollte. Ob die führenden PolitikerInnen der heutigen Ukraine, die der Partei von Julia Timoschenko angehören, die Präsidentschaftswahlen torpedieren wollen? Angesichts der geringen Aussichten, dass sie die Wahlen gewinnen könnte, kann dieser Verdacht nicht ganz von der Hand gewiesen werden. Ich will mich allerdings nicht in Spekulationen verlieren.

Was aber leider keine Spekulation mehr ist, sind die vielen Toten, die die Ereignisse der letzten Tage gekostet haben. Es muss ein Weg gefunden werden, um durch positive Maßnahmen das Vertrauen aller Bevölkerungsteile zu gewinnen. Und es muss ein Weg gefunden werden, alle Extremisten zu isolieren. Sonst geht das Experiment einer einigen und friedlichen Ukraine auf dem Weg nahen Europa schief.