EINE NEUE HAUPTSTADT FÜR EIN NEUES EUROPA

Meine Gedanken zur Gründung einer Hauptstadt für die neu zu bildenden Vereinigten Staaten von Europa beginne ich in Venedig ins IPad zu tippen. Man kann sich kaum eine bessere Gelegenheit dazu vorstellen als nach einem Novemberabend – Spaziergang auf der Guidecca weit von den derzeit ohnedies schwachen Touristenströmen über die „optimale“ Stadt nachzudenken. Auf dem Flug nach Venedig las ich überdies nochmals Italo Calvinos “ Die unsichtbaren Städte „, ein Werk, das mir noch zusätzliche Gedanken und Ideen lieferte und vor allem immer neue Überraschungen bot, wie dies auch Städte tun (sollten) . Nach einem kurzen aber durchaus informativen Besuch der heurigen Architekturbiennale sitze ich bei typisch venezianischem Essen und Wein in einem kleinen Restaurant. Soeben kommen die ersten, unvermeidlichen Touristen. Aber schließlich bin ich ja selbst einer. Dennoch will man ja immer der einzige Besucher sein, und die Stadt wie ein Einheimischer erleben. Aber wer ist eigentlich ein Einheimischer? Wieviel Jahre nach der Zu- bzw. Einwanderung wird man Einheimischer oder ab welchen Sprachkenntnissen. Aber dazu später.

venedig

Welche Stadt der Zukunft?

Wie sollte man sich nun die optimale europäische Stadt vorstellen, so wie Venedig? Oder eher so wie die im französischen Pavillon der Biennale durchaus kritisch dargestellten „grosszügigen“ Planungen und Entwicklungen der Nachkriegszeit? Oder sollten wir uns an das in Beton ausgeführte „wohlfahrtsstaatliche Barock“ anlehnen, das im britischen Pavillon präsentiert wurde. Oder sollten wir lieber an den ebenfalls im britischen Pavillon in Erinnerung gerufenen Vorstellungen der „Gartenstädte“ von Ebenezer Howard Anleihe nehmen? Oder sollten wir von allem eine wenig in unsere neue Hauptstadt einbauen nach guter eklektischer Art. Sicher kommen wir ohne Beispiele und Anleihen nicht aus, und heute bietet nicht nur Europa solche Besipiele. Vor allem auch wenn es um Städteneugründungen geht.

Venedig ist sicher zu romantisch und zu pittoresk um als generelles Beispiel zu dienen. Und vor allem sind viele, vornehmlich junge BewohnerInnen aus Venedig abgewandert. Die Attraktivität für Touristen ist gleich geblieben oder sogar gewachsen, aber viele BewohnerInnen – die es konnten – sind geflohen. Was auch ein Hinweis drauf ist, wie wichtig es ist den Tourismus in einer sanften, stadtverträglichen Form zu entwickeln. Ja man kann und soll von Venedig lernen, und nicht nur von Las Vegas, wie es Venturi und Brown empfohlen haben. Aber auch aus dem Beobachten und Erleben vieler anderer Städte kann und muss man Schlüsse ziehen – im positiven und negativen. Jede Stadt-Utopie setzt sich auch aus schon realisierten Elementen zusammen und versucht das schon schief gelaufene zu vermeiden.

Es wird auch bei besten Bemühungen nicht gelingen das „Neue Jerusalem“ zu errichten. Aber der Traum von einer idealen Stadt ist ein sehr alter Traum und man sollte nicht aufhören davon zu träumen. Anderseits sollten wir auch realistisch genug sein, um den Fakten in die Augen zu sehen. Allerdings Städte sind immer in Bewegung und nie fertig. Außer sie sind im Absterben. Sie sind soviel von Veränderungen und notwendigen Anpassungen betroffen, dass man nicht einmal sagen kann, ob sie sich dem gewählten Ideal annähern. Es gibt kein Ende der Geschichte, schon gar kein Ende der europäischen Geschichte und seiner Städte.

Im Vorwort zum Kursbuch über “ Die Welt von Morgen“ schrieb Hans Magnus Enzensberger von „der prinzipiellen Unmöglichkeit, den gesellschaftlichen Prozess vorherzusehen, einem allgemeinen Kalkül zu unterwerfen und von oben her zu beherrschen. Dies gilt nicht nur für den Extremfall. Der nämlich macht nur sichtbar, dass der schaukelnde, instabile Gang der Dinge das Normalste, und das heißt auch das Unberechenbarste der Welt ist.“ Genau auf diese „schaukelnde, instabile“ Welt muss sich Politik einstellen, heute mehr denn je.

Das Entscheidende ist ob sie sich die Flexibilität erwerben und erhalten, die notwendig ist, um die notwendigen Anpassungen an das “ Unberechenbare“ immer wieder zu meistern und dabei dennoch ihre „Identität“ bewahren. Das gilt für Städte genauso wie für Europa insgesamt. Und für die Hauptstadt Europas sollte das besonders gelten.

Weder die kapitalistische Kolonialisierung alle Lebensbereiche noch eine überbordende Bürokratisierung des Lebens können diese Flexibilität gewährleisten. Das erste führt zu einer Monetarisierung aller Beziehungen, also dazu, dass man alles und jedes kaufen und oft nur kaufen kann. Eine überbordende Bürokratie führt zum Absterben aller Initiativen und Innovationen. Die neue Stadt muss eine Balance von gemeinsamen und einsichtigen Regeln einerseits und von Chancen individueller Initiativen anderseits bieten.

Genau darum geht es bei der Wahrung und Weiterentwicklung der europäischen Identität. Entscheidend ist dabei, dass der Begriff der Identität in all seiner Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit und Wandelbarkeit interpretiert wird und nicht engstirnig oder gar nationalistisch. Dann hat das mit Europa nichts zu tun.

Es wächst zusammen, was zusammen gehört

Aber zurück bzw. nach vorne zum eigentlichen Thema: eine Hauptstadt für die Vereinigten Staaten von Europa. Da stellen sich dann zwei Fragen: brauchen wir die Vereinigten Saaten von Europa und wenn, brauchen diese dann eine Hauptstadt. Zur ersten Frage möchte ich nicht viel Stellung nehmen, ist das doch nicht mein Thema. Und überdies was sind die Vereinigten Staaten von Europa? Jedenfalls nicht der viel befürchtete Europäische Zentralstaat. Denn das sind ja die USA auch nicht, auch wenn sie einen einzigen Präsidenten haben und nicht mehrere wie Europa derzeit. Wie dem auch sei, wir benötigen in bestimmten Bereichen ein mehr und mehr zusammen wachsendes Europa, das vor allem auch nach außen stark und mit einer deutlich vernehmbaren Stimme auftritt. Gerade auch wenn man, wie Robert Menasse vom Europa der Regionen träumt – und ich verstehe unter Träumen etwas Positives – dann braucht dieses Europa einen starken Kern der diese Regionen zusammen hält. Und dabei handelt es sich um die europäische Hauptstadt.

Ersetzt Dezentralisierung die Zentren?

Ich bin fest davon überzeugt, dass Dezentralität und die Vernetzung von Personen und Organisationseinheiten in Zukunft eine stärkere Bedeutung haben werden. In vielen Fällen wird der WeQ, also das Wissen der Mehreren wichtiger sein als der IQ des Einzelnen. Aber auch Kooperation und Vernetzung muss organisiert und koordiniert werden, und bedürfen daher eines „Zentrums“, das die Dinge zusammen führt und nach außen vertritt. Und für meinen Teil will ich kein Zentrum als Verknüpfungs- und Koordinationspunkt, das rein technischer und bürokratischer Natur ist und sich wie in „The Circle“ in Dave Eggers so betitelten Roman darstellt. Nein es sollte in eine funktionierende, lebendige und nicht von Zombies bewohnte “ normale “ Stadt eingefügt sein. Die Tatsache, dass auch in Europa immer mehr Menschen in urbanen Räumen leben und die besonderen Problem der Städte kommen ohnedies in den europäischen Entscheidungen viel zu wenig zum Ausdruck.

Spuren der Vergangenheit

Sicher gibt es auch funktionierende auf der grünen Wiese gegründete Hauptstädte wie Brasilia für Brasilien oder Astana für Kasachstan, oder wie ehedem das in einem Sumpfgebiet gebaute Washington. Aber würden solche Stadtgründungen einem Kontinent wie Europa mit all seiner – tragischen und glücklichen- jedenfalls wechselhaften Geschichte – gerecht werden? Ich glaube nicht. So wie Europa “ auf den Trümmern eines von Kriegen verwüsteten Kontinents “ entstand ( Robert Menasse ) so sollte auch seine Hauptstadt die Verwüstungen der Vergangenheit überwinden. Im Gesicht einer zukünftigen europäischen Hauptstadt, in seinen Falten sollte sich die vergangenen Ereignisse abzeichnen, ohne dass sie allerdings den Alterungsprozess beschleunigen. Aber zum Unterschied zum Menschen können sich Städte immer wieder erneuern und verjüngen. Sie können und sollten das immer wieder aktiv betreiben, auch wenn das manchen „Alteingesessenen“ nicht behagt. Vor allem die inner- europäische aber auch außer – europäische Zuwanderung werden dazu beitragen, dass unsere Städte nicht „überaltern“.

Aber auf welche Vergangenheit sollte eine europäische Hauptstadt aufbauen. Auf den Gräueln der innereuropäischen “ Bürgerkriege „oder gar der Shoa. Auschwitz wurde gennant. Man kann es auch pragmatischer geben und auf Industrieruinen aufbauen, Ruinen die vom vorangegangenen europäischen Aufschwung und den „goldenen Zeiten“ zeugen. Wie auch immer, eine Neugründung auf „jungfräulichen“ Boden würde das Thema verfehlen. Die Vergangenheit unseres Kontinents sollte sichtbar sein, ohne allerdings das Leben und Wirken in der europäischen Hauptstadt allzu sehr zu belasten. Denn bei den Vereinigten Staaten von Europa geht es um ja um die Zukunft unsres Kontinents. Aber ohne, dass wir uns unserer Vergangenheit bewußt sind, werden wir die Zukunft nicht gestalten können. Da müssen wir ein schwieriges aber wichtiges Gleichgewicht finden.

Das führt uns auch zur Frage der sichtbaren und unsichtbaren Stadt. Nicht alles was unsichtbar ist, ist unwirksam und ohne Einfluss. Italo Calvino hat das in seinen “ Unsichtbaren Städten “ eindrucksvoll dargestellt. So meint er im Kapitel “ Die Stadt und die Erinnerung“, dass die Stadt nicht so sehr aus den verschiedenen Gebäuden besteht “ sondern aus Beziehungen zwischen den Maßen ihres Raumes und den Ereignissen ihrer Vergangenheit“ und die Maße eines Raumes bemisst er an der „Höhe einer Straßenlaterne und dem Abstand vom Boden bis zu den baumelnden Füßen eines erhängten Usurpators“ ! Es ist also durchaus die tragische und grauenhafte Geschichte die in Calvinos Städten eine maßgebende Rolle spielt. Aber er verweist auch darauf, dass diese Geschichte überwunden werden kann – wenn die Bewohner der Stadt das auch wollen. Kurzum, Städte der Zukunft brauchen Geschichte und die zukünftige Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Europa braucht viel Geschichte, allerdings nicht mehr als sie „konsumieren“ kann. Denn es muss genug Kraft und Energie bleiben, um die Aufgaben der Zukunft zu bewältigen.

Veränderung durch Wanderung

Bevor ich aber zu diesen Aufgaben komme, möchte ich der Frage nachgehen, wer sind eigentlich die Bewohner unserer Hauptstadt. Nun in bewegten Zeiten wie den unseren ist das nicht so leicht. Denn Wanderungsströme verändern permanent die Bevölkerung und immer wieder werden nicht nur neue Stadtbewohner geboren sondern ziehen auch neue hinzu. Dabei können viel unvorhergesehne äußere Ereignisse, wie Naturkatastrophen, Hungersnöte oder Kriege eine große Fluktuation der Wanderung bewirken. Und unsere Hauptstadt sollte flexibel genug sein, um auf die veränderten Wanderungsströme rasch reagieren zu können. Wenn aber die Zuwanderung aus unterschiedlichen kulturellen und religiösen Regionen und Kreisen kommen – wie das in Zukunft vermehrt der Fall sein wird- ist eine besondere Integrationskraft gefragt.

Eine europäische Hauptstadt ist notgedrungen immer auch eine internationale und globale Stadt, nicht unbedingt der Größe nach, aber jedenfalls dem Charakter nach. Und so lange Europa wirtschaftlich, sozial oder in Bezug auf Menschenrechte attraktiv bleibt, werden wir immer ein Einwanderungskontinent bleiben. Auch wenn einige durch Verbreitung von Nationalismus und Xenophobie daran arbeiten, dass Europa diese Attraktivität verliert, so möchte ich jedenfalls nicht, dass Europa ein Auswanderungskontinent wird.

Eine besonders wichtige Aufgabe im Zusammenhang mit den Zuwanderern und Asylsuchenden ist die Ausbildung. Denn ob die Menschen im Lande der Zuwanderung bleiben, oder ins Land der Auswanderung zurückkehren sie brauchen eine gute Ausbildung um die Integration oder Reintegration bewältigen zu können. Auch so könnten wir einen Teil unsere kolonialen Schuld abtragen.

Ein besonderer „Platz“ für die Roma

Eine besondere Gruppe von Europäern, deren tatsächliche bzw. als Schreckgespenst an die Wand gemalte Wanderung viel Diskussion hervorruft sind die Roma und Sinti. Nach wie vor werden sie in ihren Heimatländern besonders diskriminiert. Zusätzlich zur generellen Armut, die auch viele andere Bevölkerungsgruppen betrifft kommt hier eine auf die Volksgruppe bezogene Diskriminierung hinzu. Und nun werden sie auch in den Ländern in die sie auswandern oftmals diskriminiert und beschimpft.

Für sie sollte in der europäischen Hauptstadt besonders und beispielhaft gesorgt werden. Und zwar nicht um alle Roma und Sinti aus ganz Europa anzulocken, sondern um ein Beispiel zu geben wie man diese Bevölkerungsgruppe integriert ohne sie voll zu assimilieren, ihnen also gleichzeitig mit Respekt begegnet. Und das heißt, dass man ihre Kultur, Sprache und Geschichte als wertvollen Bestandteil unserer gemeinsamen Vergangenheit betrachtet, einer Vergangenheit die auch heute und in Zukunft ihren Platz in Europa hat. Und ich selbst habe neben vielen furchtbaren in Europa kaum vorstellbaren Verhältnissen auch viele hervorragende Beispiel der Integration von Roma und Sinti gesehen, die genau dies geschafft haben: Integration in die Gesellschaft und Anerkennung der eigenständigen Kultur. Es geht also nicht um das Abschieben der Integrationsaufgabe auf die europäische Hauptstadt, sondern alle Verantwortlichen sollten an ihre Pflicht erinnert werden. Und es soll ihnen das Argument genommen werden , diese Bevölkerungsgruppe könne nicht integriert werden.

Im Übrigen gilt ähnliches für Aufnahme und Integration der Flüchtlinge. Die meisten Flüchtlinge fliehen ohnedies in die armen Nachbarländer der Konfliktherde. Die im Verhältnis dazu wenigen, sie zu uns kommen sollten wir auch als Gäste behandeln. Auch da sollte die Hauptstadt beispielhaft wirken, ohne auch nur den Anschein zu erwecken, alle Probleme selbst lösen zu können.

Harmonie und Konflikte

Nicht nur die Stadt-Utopien sondern auch die Städteplaner träumen von harmonischen Städten. Und Harmonie ist im gesellschaftlichen Leben sowie in der Musik durchaus angebracht. Aber die Momente der Harmonie werden immer wieder durch Konflikte und Auseinandersetzungen unter- und durchbrochen. Henri Lefebvre hat das vielleicht am klarsten ausgedrückt: „Der Fortbestand von Konflikten zwischen Unterschieden und Eigenheiten ebenso wie von denen zwischen den gegenwärtigen Interessen und Möglichkeiten ist kaum zu vermeiden. Dessen ungeachtet definiert sich das Städtische als der Ort, wo die Unterschiede sich kennen, und indem sie sich erkennen, erproben – wo sie sich also bestätigen oder aufheben.“

Nun ist es verständlich, dass sich die Menschen in Zeiten massiver politischer, gesellschaftlicher und technischer Veränderungen nach Ruhe und Homogenität sehnen. Und daher sind viele auch anfällig für die populistischen, xenophoben und nationalistischen Versprechungen, die mitunter das rassistische Reinheitsgebot predigen. Aber die große gesellschaftspolitische Aufgabe ist es für Sicherheit und Geborgenheit auch in mobilen Gesellschaften zu sorgen. Das müssten die Vereinigten Staaten von Europa genauso erfüllen wie die Hauptstadt dieses Europa. Segregation schafft keinen Frieden, wie gerade auch im Hinblick auf den israelisch – palästinensischen Konflikt demonstriert werden kann, die Mauer hat die Situation noch verschlimmert. Nein es geht um Kontakte und Austausch und um „Differenz in Gleichheit“, wie Lefebvre es ausdrückte.

Planung und Flexibilität

Wir müssten grundsätzlich unsere neue Hauptstadt auf eine große Flexibilität und Anpassungsfähigkeit vorbereiten. Am zweiten Tag meines Venedigaufenthalts kam Hochwasser. Aber schon am Tag zuvor waren die Stege, die das Überwinden der überschwemmten Gehsteige und Plätze trockenen Fußes ermöglichen sollten vorbereitet und in der Früh standen sie gut aufgestellt und die alten und neuen Venezianer waren darüberhinaus mit ihren Stiefeln und Hochwasserhosen bestens ausgerüstet. Nun die Venezianer können im allgemeinen die Hochwasser voraussagen. Aber wir wissen vielfach nicht was und wann neue Herausforderungen auf uns zukommen. Manches kann man planen, manches nicht. Das erinnert an Bertolds Brecht Aussage in der “ Dreigroschenoper“ : “ Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht, und mach dann noch’nen zweiten Plan, gehen tun sie beide nicht.“ Nun ganz so schlimm muss es nicht sein. Aber Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gehören zu den wesentlichen Eigenschaften einer erfolgreichen und nachhaltigen Stadt.

Unsichtbare Städte

Manchmal passiert die Anpassung über die unsichtbaren Teile der Stadt. Die verschiedenen Schwarzmärkte sind Teile der unsichtbaren Stadt. Sicher muss man die auf dem schwarzen Arbeitsmarkt stattfindende Ausbeutung ( vor allem der Zuwanderer und Flüchtlinge ) und die auf den schwarzen Güter- und Dienstleistungen vollzogene Steuerhinterziehung bekämpfen. Aber realistisch gesehen wird das nur teilweise gelingen. Kontrolle und ausreichend Flexibilität der offiziellen Märkte können ein Überborden der Schwarzmärkte verhindern. Je mehr unsere Städte in Europa flexibel und anpassungsfähig sind, desto mehr kann die Integration des Neuen und des Überraschenden in der sichtbaren Stadt erfolgen. Je weniger sie das sind, desto mehr wird sie in den unsichtbaren Teil vollzogen werden (müssen). Aber ein Stück Unordnung und Ungereimtheit wird jede interessante Stadt aufweisen, so auch unsere neue Hauptstadt, sei sie noch so gut geplant. Immer wieder wird sich ein Stück Chaos einschleichen.

Aber bei den unsichtbaren Ebenen der Städte geht es nicht nur um mehr oder weniger illegale Aktivitäten. Es geht um die den BürgerInnen vermittelten Stimmungen, und das schwer fassbare Ambiente das durch viele wirtschaftliche aber auch künstlerische Aktivitäten gestaltet und gefördert wird. Es entstehen ja im Laufe der Zeit immer wieder neue Möglichkeiten und Wünsche auf die Städte reagieren müssen, denken wir nur an die in jüngster Zeit durch die Digitalisierung möglich gewordenen start-ups. Um nochmals Italo Calvino zu zitieren, der meint es gebe nicht die Unterscheidung zwischen glücklichen und unglücklichen Städten, sonder nur die Einteilung :“ in jene, die über die Jahre und die Veränderungen hin fortfahren, den Wünschen ihre Form zu geben, und jene, in denen es den Wünschen entweder gelingt, die Stadt auszulöschen, oder sie von ihr ausgelöscht werden.“

Was nun die Wünsche betrifft, so geht es heute vor allem um einen Job, um ein leistbares und attraktives Wohnen, um eine nicht zuviel Zeit in Anspruch nehmende Mobilität und eine nachhaltige Umweltsituation.

Arbeiten, Wohnen und Mobilität

Hinsichtlich der Arbeitsplätze darf sich unsere künftige Hauptstadt nicht auf die Beamten und Angestellten der Lobby Gruppen verlassen. Sie gehören dazu und alle öffentlichen Dienstleistungen sind Teil der Jobs in einer Stadt. Aber das kann nicht genug sein. Nun, große Industriebetriebe haben sich generell rar gemacht und sind sicher nichts um einen neue industrielle Basis aufzubauen. Ohne in eine Klein- und Mittelbetriebe Euphorie zu verfallen, so sind sie doch wahrscheinlich die Basis einer nachhaltigen und anpassungsfähigen Stadt. Ihnen eine ausreichende Entfaltungsmöglichkeit zu geben ist eine wesentliche Aufgabe einer städtischen Wirtschaftspolitik. Dabei geht es um einen gesunden Mix von Industrie und Dienstleistungen insbesondere auch im Bereich der Bildung und Ausbildung.

Nicht allzu weit von den Arbeitsplätzen sollten viele Wohnmöglichkeiten für die Arbeitnehmer angeboten werden. Eine Stadt der kurzen Wege sollte das Ziel sein. Aber dabei dürfen wir keine Illusionen haben. Menschen wechseln öfters ihren Wohnort, um eine den neuen Familienverhältnissen angepasste Wohnung bzw, eine verbesserte Wohnqulität zu erwerben . Sie wechseln auch oft ihren Beruf bzw. Arbeitsplatz, manchmal freiwillig, manchmal gezwungen.

Beim Wohnen handelt es sich aber nicht nur um ein individuelles Bedürfnis, sondern auch um ein Grundelement für den sozialen Zusammenhalt. Es soll Rückzugsmöglichkeiten schaffen und Intimität ermöglichen aber auch gesellschaftliche Kontakte und Beziehungen erleichtern. Das Ringen um ein optimales Verhältnis zwischen beiden und um einer entsprechenden architektonischen Umsetzung wird immer wieder eine Herausforderung sein. Und dabei soll das Wohnen auch für ärmere Schichten leistbar sein, ohne auf relative hohe, europäische Minimalstandards verzichten zu müssen.

Das städtische Verkehrswesen ist vor allem auch die Verbindung zwischen Arbeiten und Wohnen. Je mehr Alternativen angeboten werden : vom zu Fuß gehen, übers Radfahren bis zu verschiedenen Formen des öffentlichen Verkehrs, desto mehr kann aufs Auto verzichtet werden. Aber das Auto ist auch (!) ein städtisches Verkehrsmittel, aber eines das sehr selektiv und sparsam eingesetzt werden sollte. Ziel all der Verkehrspolitik muss es sein, den Verbrauch von Energie, und vor allem der fossilen CO2 erzeugenden Energie ständig zu verringern. Ebenso wie die Platzverschwendung durch Parkplätze z.B. durch car sharing etc.

Um Arbeiten, Wohnen und die Verkehrswege attraktiv zu gestalten bedarf es vor allem auch einer attraktiven Gestaltung des öffentlichen Raums der nicht nur technisch geplant werden soll, sondern als sozialer Raum fungieren sollte. Plätze in einer Stadt sind besondere Begegnungstätten. Dabei können große Plätze attraktiv sein oder kleine. Es kommt auf ihre Gestaltung an. Sind sie als Aufmarschplätze geplant, dann verlieren sie oft an Attraktivität. Vor allem sollten sie vernünftig räumlich gefasst werden und nicht irgendwie auslaufen. Nicht zufällig hatte z.B. Hans Hollein geplant, den Stephansplatz in Wien wieder wenigstens symbolisch zu fassen und vom Stock im Eisen Platz zu trennen. Leider wurden die dafür geplanten Säulen nie in Auftrag gegeben. Gerade was die Gestaltung öffentlicher Räume betrifft, sind die architektonische Gestaltung und die sozialen Ansprüche und Notwendigkeiten gut aufeinander abzustimmen.

Und natürlichen spielen Parks unterschiedlicher Größenordnung eine wichtige Rolle für den städtischen Freiraum. Sie mögen naturnahe gestaltet werden oder landschaftsarchitektonisch. Alle unterschiedlichen Gestaltungsmodelle haben ihre Berechtigung. Aus eigener Erfahrung weiß ich wie schwierig es oft ist, die verschiedenen Flächenansprüche unter einen Hut zu bringen. Und das Grün ist oft das schwächste Glied, insbesondere in wachsenden Städten. Aber gerade wachsende Städte mit vielen Kindern brauchen auch ausreichend Grünflächen, um ihren Bewegungsdrang nachgehen zu können.

Die Rolle der neuen Technologien

Jede Stadt der Zukunft wird sich der neuen Technologien, vor allem im Bereich der Information und der Kommunikation bemächtigen müssen und diese zum Wohl der Menschen einsetzen. Sie können das Leben besser gestalten und auch den Zugang zum Beispiel zu Verkehrsmittel beim Car – Sharing etc. erleichtern. Dennoch sollte die Verwendung der neuen Technologien nicht als Ersatz für die direkte „altertümliche“ Kommunikation aufgefasst werden und diese ersetzen. Öffentliche und halböffentliche Räume sind als soziale Räume unersetzbar und beim Entwurf der neuen Hauptstadt mit zu planen. Um Vorurteile abzubauen bedarf es vieler oft auch zufälliger Begegnungen und grade dazu dienen diese öffentlichen Räume.

Nachhaltigkeit und globale Verantwortung

Natürlich darf der Begriff der Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit der Gestaltung unserer zukünftigen Hauptstadt nicht fehlen. Ein letztes Mal soll Italo Calvino zitiert werden, der schon vor vielen Jahren auf die unheimliche Müllproduktion in unseren Städte hinwies. Seine Stadt Leonia “ erschafft sich jeden Tag neu“ durch eine ungeheuerliche Menge von „dem was jeden Tag weggeworfen wird, um Platz für Neues zu machen. … Eine Festung aus unzerstörbaren Überresten umgibt Leonia, überragt es auf allen Seiten, hoch wie ein Kranz von Bergen“ Calvino schwebt sogar die furchterregende Vorstellung vor, dass die verschiedeneren Städte versuchen ihre Müllberge sich gegenseitig zuzuschieben. Inzwischen haben wir einiges beim Vernichten des Mülls gelernt aber wenig beim Vermeiden. Da bleibt noch viel zu tun, vor allem weil wir als KonsumentInnen generell viel von unserer Umweltverschmutzung an ärmere, den „Schmutz“ produzierende Länder externalisieren. Es sind also nicht die europäischen Städte, die sich gegenseitig mit Müll belasten. Sondern die reichen Kontinente wie Europa verschieben einen Teil ihrer Abfälle in die ärmeren Länder.

Ein Zentrum für das Zentrum?

Zuletzt ist aber noch eine wichtige Frage zu klären. Ich für meinen Teil kann einem bestimmten Konzept der Vereinigten Staaten von Europa einiges abgewinnen. In Konsequenz braucht dieses Europa auch ein Zentrum, eine Hauptstadt – wieder in einer bestimmten und nicht beliebigen Ausformung. Aber braucht die neue, europäische Hauptstadt selbst ein Zentrum? Ich glaube ja, trotz Internet und Social Media sind persönliche Kontakte und Begegnungen von Vorteil, gerade auch für die BürgerInnen. Ein politisches und administratives Zentrum würde solche Vorteile bieten. Und man sollte die Zentren der politischen Macht auch sehen können.

Dazu braucht es keine enormen Paläste, wie sie unlängst die Präsidenten Erdogan in der Türkei und Sakashvili in Georgien für sich bauen haben lassen. Aber es sollten auch keine gesichtslosen Gebäude sein, wie die Zentren des Europäischen Rats in Brüssel. Die Kuratoren des österreichischen Pavillons auf der Biennale in Venedig haben dankenswerter Weise die Modelle vieler Parlamente auf den Wänden aufgehängt. Auffällig ist, dass ein Land, das in den letzten Jahrzehnten ohne aussagekräftiges Parlament „ausgekommen“ ist, das größte Parlamentsgebäude aufwies, nämlich Myanmar. Also die Mächtigkeit der offiziellen Gebäude entspricht nicht immer der tatsächlichen Macht, die darin beheimatet ist. Aber nichts – außer Ideologie – widerspricht der Forderung, dass gerade in einer Demokratie Politik auch durch jene Gebäude sichtbar gemacht werden soll, in denen im Namen und Auftrag von und für die Menschen und – so weit praktikabel auch direkt mit den Menschen – politische Entscheidungen getroffen werden. Politik sollte nicht protzen sich aber auch nicht verstecken.

Aber auch die andern wichtigen öffentlichen Aufgaben und Funktionen sollten eine angemessene, attraktive architektonische Form bekommen. Das betrifft die Stationen des öffentlichen Verkehrs genauso wie Schulen, Universitäten und Kultureinrichtungen. Das Öffentliche braucht in einer Hauptstadt Europas seinen erkennbaren architektonischen Ausdruck. Aber dabei kann durchaus sparsam mit öffentlichen Mitteln umgegangen werden, vor allem dann wenn auch die Funktionalität für die vielfältigen BenutzerInnen beachtet wird. In diesem Sinn kann und soll man durchaus dem Satz “ form follows function“ Rechnung tragen.

Zentrum – Peripherie

Aber jenseits „des“ Zentrums wie schaut es mit den übrigen Stadtteilen aus, ist das dann alles nur der Rest, die Peripherie, der Stadtrand? Nun viele Städte haben durch gesetzliche bzw. faktische Dezentralisierung an Gleichgewicht und Ausgewogenheit gewonnen. Neue Zentren sind entstanden, teilweise auf der Basis älterer Dorfkerne, das ist nicht nur in Wien so geschehen. Auch der Ausbau hochleistungsfähiger öffentlicher Verkehrsmittel wie der U Bahn haben manchen peripheren Orten ein neues Gewicht und eine dezentrale Zentralität verliehen. Und so müsste sich auch eine neue europäische Hauptstadt entwickeln, symbolisch auch für die Vereinigten Staaten von Europa.

Nicht alle können im Zentrum sein, weder In Europa noch in den einzelnen Städten. Die Lösung liegt auch nicht in der Aufhebung der Zentren – das ist zumindest geographisch schwer möglich. Aber die Nachrangigkeit der Peripherie und die Abfälligkeit mit der sie oder die Menschen, die dort wohnen betrachtet werden muss sich aufhören. Das gilt ja auch für die peripheren Regionen Europas und die dort lebenden Menschen, jedenfalls für den südlichen und vor allem den östlichen Rand Europas. Daher spricht auch vieles dafür, die neue Hauptstadt nicht wieder im westlichen Zentrum sondern nahe der östlichen Mitte zu bauen. Mindestens für mich, der ich nicht nur die sogenannte und vielfach abfällig gemeinte Osterweiterung befürwortete und politisch aktiv begleitete plädiere für einen solchen Standort.

Die Planung und Gründung einer europäischen Hauptstadt ist von denselben Widersprüchen begleitet wie die Gründung und Errichtung der Vereinigten Staaten von Europa. Jeder utopischen Anspruch wird von der Realität eingeholt. Und jede noch so sorgfältige Planung wird vom Unberechenbaren und Unvorhergesehenen durcheinander gebracht. Aber dennoch müssen wir uns bemühen, das “ richtige “ zu erreichen, denn Adorno hat mit seinem maximalen Anspruch in den “ Minima Moralia“ Recht, wenn er meint: “ Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Streben wir zumindest nach dem „Richtigen“!