EUROPA AM ANFANG ODER AM ENDE?

Gedanken anlässlich einer Diskussion mit Robert Menasse und Anna Kim aus Anlass der Präsentation des Europa Heftes der „Akzente“ und meines siebzigsten Geburtstages

Diesen Beitrag möchte ich mit den Schlusssätzen einer Einleitung von Jo Lendle und Robert Menasse zum Europa Heft der Zeitschrift Akzente beginnen. „Europa ist am Ende? Diese Nachricht ist falsch. Tatsächlich steht Europa noch immer oder wieder am Anfang. Das ist das Erschütternde – aber das fruchtbare Feld literarischer Fantasie.“

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Es fehlt die politische Fantasie

Die Frage, die ich mir stelle, ist, ob die gegenwärtige Lage von Europa auch „ein fruchtbares Feld für die politische Fantasie“ darstellt. Leider kann ich das nicht so positiv beantworten, vor allem wenn ich an die große Zahl „eindimensionaler Europäer“ denke, wie sie Robert Menasse in seinem Beitrag in eben dieser Zeitschrift beschreibt:

„Der eindimensionale Europäer, das ist der Mensch, der sich Europa nur als gemeinsamen Markt vorstellen kann (ich würde sagen, auch das ist schon für manche unvorstellbar H.S.) , auf dem Nationen ihre jeweiligen Interessen verteidigen, kann sich ein künftiges Europa ohne Nationen nicht vorstellen, aber er kann sich ja nicht einmal die Geschichte vorstellen, die historischen Erfahrungen nachvollziehen und die Konsequenzen akzeptieren, die schon einmal gezogen wurden.“

Die Stärke des Nationalstaates

Aber warum ist die Fantasie der Menschen so eingeschränkt, dass sie sich kein Europa ohne Nationen vorstellen können. Ich glaube es liegt vor allem an zwei Faktoren.

Erstens haben die Nationen während und zu ihrer Herausbildung und danach sehr viel mit Emotionen und Symbolen gearbeitet: Erzählungen vor allem mythische, Wappen, Fahnen, Hymnen etc. Aber das Minimum an solcher Symbolik wurde aus der EU Verfassung nach dem negativen Votum in Frankreich und den Niederlanden herausgestrichen. Und es ist kein Zufall, dass sich viele rechte Abgeordnete im EU Parlament weigern, zur Europa Hymne aufzustehen.

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Zweitens ist der, vor allem in Europa nach 1945 geschaffene, Wohlfahrtsstaat ein nationaler. Den Sozialstaat mit seinen spezifischen Ausprägungen an Sozialleistungen kann man sich nur als Nationalstaat vorstellen. Und Europa in der Form der EU wird nicht als Verteidiger des Sozialstaats gesehen sondern eher als Gefahr für den Wohlfahrtsstaat, als eine Organisation, die den Sozialstaat in Frage stellt.

Nun ist es nicht so einfach, wie das die rechten und linken EU Gegner darstellen. Aber manches an Aussagen führender Europäer und etliche europäische Gesetze haben genau in diesem Sinne gewirkt. Der möglichst entgrenzte Wettbewerb hatte und hat oftmals Vorrang vor sozialen Regeln. Und alles, wofür die EU auf dem Gebiet des Umwelt- und des Konsumentenschutzes kämpft, konnte und kann die Auswirkungen der Liberalisierung nicht wettmachen. Dasselbe gilt im Übrigen auch für die USA.

Marktradikalisierung und Liberalisierung als Wurzeln der Gegenrevolution

Und so spüren wir in den USA wie in Europa einen starken backlash, eine Art Gegenrevolution, weil die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der Liberalisierung – im Inneren und im Außenhandel – unterschätzt oder absichtlich herbeigeführt wurden. Insbesondere hat die mit der Deregulierung zusammenhängende Finanz- und in der Folge Wirtschaftskrise die Sozialkrise verschärft. Marktradikalisierung und Liberalisierung haben jedenfalls in den reicheren Staaten dieser Erde die zuvor bemerkbare langsame Verringerung der Einkommens- und Vermögensunterschiede wieder umgekehrt. Nicht in jedem Staat gleichermaßen aber insgesamt ist die Trendumkehr deutlich spürbar.

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Ein besonderer Faktor in diesem Zusammenhang ist die Globalisierung und der Freihandel. Soweit die Daten klare Aussagen zulassen, dürften diese beiden Phänomene zwar die Einkommensunterschiede zwischen den Staaten verringert aber innerhalb, vor allem der Industriestaaten, vergrößert haben. Pierre Rosanvallon, Professor für Neuere und Neueste Geschichte am College de France meint diesbezüglich:

„Diese Globalisierung rückt also die Nationen näher zusammen, während sie gleichzeitig überall die Kluft zwischen den Klassen, materiell und psychologisch, vertieft.“

Migranten und Flüchtlinge als Sündenböcke der Globalisierung

Für viele Menschen, vor allem auch in Europa, ist die verstärkte Migration und die Flüchtlingsströme das Symbol für dieses Zusammenrücken. Und wo die Menschen nicht selbst diese Zuwanderung spüren, wird es Ihnen durch die Medien und verschiedene politische Kräfte vermittelt. Der Migrant und auch der Flüchtling ist dann der Ausdruck dieses gefährlichen Zusammenrückens. Er wird schließlich zum Verantwortlichen für die persönliche wirtschaftliche und soziale Malaise, die sich statistisch als Trendumkehr in der Einkommens- und Vermögensverteilung ausdrückt. So wird der Migrant/Flüchtling der Sündenbock für die wachsende Ungleichheit in unseren Gesellschaften.

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Nun sollte ja niemand in die Flucht bzw. die Migration gezwungen werden. Im Gegenteil, gerade die EU sollte durch globale Zusammenarbeit und Unterstützung versuchen, die Lebensbedingungen in unseren Nachbarländern – und dazu gehören inzwischen alle Länder dieser Erde – zu verbessern. Aber ein Beitrag zur Linderung unvermeidbarer Not ist auch die Aufnahme von Flüchtlingen. Entscheidend ist, ob die Integration gelingen kann und ob daraus ein gemeinsamer Mehrwert für unsere Gesellschaften gewonnen werden kann.

Ungleiche Spielregeln

Es ist allerdings nicht so sehr die statistisch gemessene Ungleichheit als solches sondern das Gefühl vieler Menschen, vernachlässigt und zurückgelassen zu werden. Das gilt insbesondere für die traditionelle Arbeiterschaft und auch große Teile der Mittelschicht. Dabei sind das nicht immer solche, die arbeitslos sind oder bedroht sind, es zu werden. So meinte unlängst Tomasz Kurianowicz in einem Kommentar in der NZZ über die Jugend in den USA:

„Die junge Generation ist im Grunde nicht antikapitalistisch eingestellt. Sie ist das System gewohnt, ist bestens angepasst und spielt nach den Spielregeln des Marktes wie keine andere Generation zuvor. Umgekehrt bleibt das Gefühl, dass sich das System seinerseits an die Spielregel nicht hält.“

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Denken wir nur an die verschiedenen „Steuervermeidungen“ durch die reichen Steuer- bzw. Nicht-Steuerzahler und an die Steuerparadiese. Da ist es natürlich grotesk, dass ein prototypischer Vertreter der vermögenden Elite wie Donald Trump, der viele Steuerlöcher ausnützte,  bei denen punkten konnte, die unter dieser Ungleichheit gelitten haben. Aber ähnlich wie bei Berlusconi verzeiht man denen, die mit machoartigem und aggressiven Gehabe auftreten und sich zu ihren Gesetzesumgehungen mit Appellen an das Bauchgefühl bekennen mehr als vielen, die sich nur theoretisch und abstrakt mit Ungleichheit und ihrer Bekämpfung beschäftigen.

Spaltungen, Differenzierungen und die Gemeinschaft

Eine Gesellschaft mit starker bzw. wachsender Ungleichheit und dementsprechenden Verlustängsten ist immer auch eine gespaltene Gesellschaft, wo sich verschiedene Gruppen gegeneinander gestellt sehen. In Zeiten des wirtschaftlichen Wachstums und der Verringerung von Ungleichheiten konnten die Unterschiede von Geschlecht, Zugehörigkeit und Abstammung als positive Merkmale herausgestellt werden. Sie wurden zur Stärkung der individuellen Rechte – auch von kleinen Minderheiten – gleichzeitig aber auch zur Festigung des gemeinsamen Zusammenhalts verwendet.

Inzwischen jedoch, bei zunehmender Gefährdung von Arbeitsplätzen und verstärkter Präkarisierung der Arbeit sowie wachsender Ungleichheit ist das etwas anderes. Plötzlich fühlt sich der „Inländer“ gegenüber dem „Ausländer“ und der weiße Mann gegenüber der Frau, dem Schwarzen etc. diskriminiert.

So meinte auch Mark Lilla von der Columbia Universität in einem Beitrag in der New York Times, dass die Unterschiede zu „feiern“ ein großartiges Prinzip der moralischen Pädagogik darstellt, aber entsetzliche Folgen für die demokratische Politik in einem ideologischen Zeitalter hat. Er fordert daher ein Ende des „Identitäts-Liberalismus“ und eine neuerliche Betonung der Gemeinschaft von Individuen mit ihren Rechten und Pflichten.

Beginn eines autoritären Jahrhunderts oder Gründung einer europäischen Republik

Und damit komme ich auch zu einer zentralen Frage der Demokratie heute: Wie kann man in Zeiten einer starken Individualisierung gemeinschaftsbildende Politik betreiben und zwar jenseits von Populismus und der Schaffung autoritärer Strukturen?  Schon der liberale Soziologe und Politiker Ralph Dahrendorf hat vor einem „autoritären Jahrhundert“ gewarnt. Inzwischen sind wir in ebendieses – so hat es zumindest den Anschein – eingetreten. In einigen EU Ländern wie Ungarn und Polen ist das ziemlich deutlich und wir werden bald sehen, wie sich das in Österreich verhält.

Der Nationalstaat bietet wie keine andere politische Struktur und Ebene die Basis für die Herstellung autoritärer Strukturen, vor allem dann, wenn andere, wie zum Beispiel die europäische Struktur und Politik, versagen. Grotesk dabei ist allerdings, dass vielfach gerade die Nationalstaaten für dieses Versagen die Hauptschuld tragen.

Darauf hat ja gerade Robert Menasse immer wieder mit Recht hingewiesen. Im Beitrag von Ulrike Guerot und Robert Menasse wird daher die Idee einer „Europäischen Republik“ als Gegenstück zum von Nationalstaaten beherrschten Europa propagiert. Dazu hat Ulrike Guerot ein interessantes Buch mit gleichnamigen Titel geschrieben und Robert Menasse hat schon lange die europäischen Regionen zum Kern eines neuen postnationalen Europas erklärt. Es stellt sich allerdings die Frage, wie die EuropäerInnen über die Grenzen hinweg direkt am Aufbau eines neuen Europas beteiligt werden können.

David van Reybrouck macht dazu in seinem Buch „Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ einen interessanten Vorschlag. Durch Los sollte eine Anzahl von europäischen BürgerInnen ausgewählt werden, die parallel zum Europäischen Parlament, an der Beratung und Beschlussfassung von europäischen Gesetzen beteiligt werden. Das ist sicherlich ein unkonventioneller Vorschlag, der aber eine ernsthaften Diskussion wert ist.

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Ich würde dabei auch die Städte in die Pflicht nehmen. Gerade sie sollten zu Trägern eines postnationalen und multikulturellen Europas werden. Denn es sind die Städte mit ihrer vielfältigen Bevölkerung, die die verschiedenen europäischen und außereuropäischen Wurzeln zu neuen kulturellen Leistungen und Errungenschaften führen, wie das immer wieder in Europa der Fall war. Städte können am besten die soziale Integrationsarbeit leisten und damit auch die Basis für die europäische Integration legen.

Aus solchen Verbindungen entsteht eben keine Einheitskultur sondern vielfältige Äußerungen, die vor allem dem globalen Marktradikalismus gegenübergestellt werden können. Und so kann die Vielfalt im urbanen Raum durch den städtischen Rahmen auch zur Festigung der Gesellschaft beitragen. Die dabei wirksamen Netze der Zivilgesellschaft können grenzüberschreitend den europäischen Zusammenhalt fördern. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf das Buch „Lokaldemokratie und Europäische Union“ des Berliner Stadtforschers Dieter Hoffman-Axthelm verweisen.

Kulturelle Vielfalt, wirtschaftliche Chancen und soziale Gleichheit

Europa kann nur dann zu einer Gemeinschaft entwickelt werden, wenn es keinen Gegensatz zwischen der kulturellen und ethnischen Vielfalt auf der einen Seite und der Herausbildung von gemeinsamen Werthaltungen und Interessen zulässt. Anna Kim hat in ihrem Beitrag im Europa Heft der „Akzente“ völlig recht, wenn sie befürchtet, dass die „ethnische Homogenität auch in Europa (die) geheime Sehnsucht vieler, womöglich gar der Mehrheit“ ist. Aber sie war nie die Realität und nur in den finstersten Zeiten – vor allem im Nazi-Deutschland – wurde sie angestrebt und verbrecherisch umgesetzt. Wir brauchen eine andere Art der Gleichheit, nicht eine der erzwungenen Homogenisierung kultureller und religiöser Äußerungen sondern eine Gleichheit der wirtschaftlichen Chancen und der sozialen Rechte.

Um den Nationalismus zurückzudrängen und die Blockaden der Nationalstaaten gegen die europäische Einigung zu überwinden benötigen wir vor allem einen Kampf gegen die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit. Nur dann werden die kulturelle Differenzierung und die Fortschritte in der Emanzipation von der Mehrheit getragen. Die Vernachlässigung der sozialen Frage – in ihrer materiellen und psychologischen Dimension – wird von vielen als Diskriminierung empfunden. Dann werden die oft ohnehin zaghaften Schritte, gesellschaftliche Diskriminierung abzubauen, sogar als Privilegierung der „Minderheiten“ angesehen.

Bevor Regionen, Städte und die Zivilgesellschaft ein neues Europa aufbauen können, muss die sozialen Frage neu aufgerollt werden. Den Populismus zu überwinden, bedeutet unter anderem die Globalisierung neu zu gestalten, nicht indem man den Handel generell zurückschraubt, sondern indem man die sozialen Konsequenzen mitbedenkt und abfängt.

Vor allem aber gilt es, die Präkarisierung der Arbeit durch neu gespannte Netze der sozialen Absicherungen in eine positive Form der Individualisierung umzuwandeln. Wir werden die alten kollektiven Absicherungen – wie Kollektivverträge – nur zum Teil erhalten können, aber soziale Sicherheit darf nicht am Altar der Präkarisierung  geopfert werden. Vor allem zunehmende Automatisierung und Roboterisierung wird neue Formen der sozialen Absicherung verlangen.

Insofern stehen wir am Anfang einer ungeheuer schweren Aufgabe. Wollen wir ein gemeinsames Europa der Gleichen und Unterschiedlichen zugleich, müssen wir uns wieder verstärkt der sozialen Probleme annehmen aber gleichzeitig auch der konservativen und autoritären Gegenrevolution entgegentreten. Dann wird auch der Nationalstaat, der heute noch von vielen als Schutz gegen die neuen Unsicherheiten und Unbillen angesehen wird, leichter zu überwinden sein.