Europa eine Seele geben

Vor Jahren lud mich mein ehemaliges Pendant als Verantwortlicher für die Stadtentwicklung in Berlin, Volker Hassemer ein, an der Aktion „Europa eine Seele geben“ („A Soul for Europe“) aktiv teilzunehmen. Gerne hab ich diese Einladung angenommen, und ich bin besonders froh, dass diese Initiative sich als überlebensfähig erwiesen hat und gut gedeiht. Nicht immer konnte ich an den diversen Tagungen und Diskussionen beiwohnen. Aber diesmal ging es sich wieder aus an der „Berliner Konferenz“ teilzunehmen. Das Panel an dem ich mitdiskutierte, lief unter dem Titel „Democracy at Risk“ also „Demokratie in Gefahr“.

Gibt es eine europäische Seele?

Ich stellte die grundsätzliche Frage, ob es überhaupt eine europäische Seele gibt. Diese Frage ergibt sich insbesondere angesichts der neu erwachsenden Nationalismen und Regionalismen. Heute wird ja vielfach die “ nationale Seele“ beschworen und einige stellen ihr, eine regionale – katalanische, schottische bzw. flämische – Seele gegenüber. Nun, die Seele hat ja verschiedene Dimensionen und die nationale bzw. regionale  ist nur eine davon. Aber dennoch zeigt es die Schwierigkeit von einer eindeutig „europäischen“ Seele zu sprechen. Manche, vor allem aus dem künstlerischen Bereich, gehen von einer solchen klaren und eindeutigen Definition aus. Ich meine, wir müssen uns die europäische Seele aus vielen Elementen und Dimensionen erst erarbeiten. Ja, wir müssen sie aus unseren positiven Traditionen herausschälen.

Zurück zum Bürger oder besser vorwärts zu den BürgerInnen?

Eine der Thesen, die der Diskussion zugrunde lag, war die, dass die – europäische – Politik zum Bürger, zur Bürgerin zurückfinden muss. Aus all meiner politischen Erfahrung habe ich da eine andere Einschätzung des Verhältnisses Politik – BürgerInnen in der Vergangenheit.  Da wird mir ein allzu idealistisches Bild gezeichnet. In der Vergangenheit waren die BürgerInnen bereit, die Mitwirkung an der Politik auf die regelmäßig stattfindenden Wahlen zu beschränken. Heute, mit neuen Informations- und Kommunikationskanälen und –möglichkeiten, ist das anders. Viele BürgerInnen fühlen sich befugt und befähigt zu einer stärkeren Mitbestimmung. Und sie fordern diese auch ein.

Einer der Diskussionsteilnehmer, ein Künstler aus Cluj in Rumänien,meinte, Politik müsse anstatt durch Repräsentation durch Partizipation gekennzeichnet sein. Auch der US-amerikanische Zukunftsforscher Gerald Celente geht in diese Richtung, wenn er meint : „Die Menschen sollen wählen, ob es eine Banken- Entschuldung gibt oder einen neuen Rettungsschirm. So wie wir online Bankgeschäfte erledigen, können wir auch online abstimmen.“ Das halte ich für reichlich naiv. Es geht nicht um Partizipation anstatt Repräsentation, sondern um eine sinnvolle Kombination. In Wirklichkeit müssen wir erst eine neue demokratisch legitimierte Politik mit jedenfalls qualitativer Mitbestimmung erfinden! Es gibt sie noch nicht und hat sie nie gegeben.
Es geht also nicht zurück sondern vorwärts zu den BürgerInnen. Und wenn wir im Interesse der BürgerInnen deren Partizipation, aber auch eine verstärkte Entscheidungsfähigkeit der Politik wollen, müssen wir erst eine solche Kombination erfinden.

Die Rolle der Parlamente

Demokratie kann ohne Parlamente nicht auskommen. Am Vortag besagter Veranstaltung hat der Präsident des Deutschen Bundestags in seiner Einleitung zur Europarede von Martin Schulz gemeint, jedes Parlament hat seine Rolle in der  Europäischen Politik zu spielen  und die Notwendigkeit unterstrichen, dass die nationalen Parlamente bei der Formulierung der europäischen Politik mitentscheiden. Das ist sehr einleuchtend. Nur bei den – leider noch häufigen  Fällen der Einstimmigkeit auf der Ratsseite – kann das natürlich zu großen Schwierigkeiten führen. Die Regierungschefs und sonstigen nationalen Vertreter können schon oft genug in Verhandlungen kaum  Kompromisse finden. Wenn die Rolle der nationalen Parlamente verstärkt wird, kann dann ein einzelnes Parlament jegliche Einigung torpedieren.

Die Erwartung der BürgerInnen, dass die Politiker auf europäischer Ebene auch die anstehenden Probleme lösen, wird dann immer schwerer zu erfüllen. Ohnedies bereitet  uns die Globalisierung, vor allem der Finanzströme, schon größere Schwierigkeiten. Jetzt kommen dann noch meist national geführte parlamentarische Debatten und letztendlich Entscheidungen dazu. Wir müssen da einen Weg finden, wie europäische und nationale Parlamente konstruktiv zusammen arbeiten können und wie wir die Demokratie stärken können, ohne wichtige politische Entscheidungen zu blockieren.

Demokratie und Sozialstaat

Die Krise und die aus meiner Sicht verfehlte Krisenpolitik führt zu einer Erodierung und Unterminierung sozialstaatlicher Gefüge und Netze. Die Abwendung von europäischer Politik und der neue Nationalismus bzw. Regionalismus hat sicher auch mit den aktuellen und
potentiellen Gefährdungen auf dem Arbeitsmarkt und der sozialen Sicherheit zu tun. Jeder vernünftiger Mensch wird angesichts neuer globaler Wettbewerbsverhältnisse und der geänderten Altersstrukturen unserer Gesellschaften einsehen, dass wir Reformen der Sozialstaaten brauchen. Aber heute sehen wir in vielen Fällen nicht Reformen, sondern Zerstörungen der sozialen Netze und der Sozialpartner, vor allem der Gewerkschaften. Und das bedeutet, dass wir die von Reformen Betroffenen ausschalten, anstatt sie zu involvieren. Und das hat mit Demokratie nichts zu tun.

Europa plus

Wenn wir von Europa und EuropäerInnen reden, dann scheint uns klar zu sein, um wen es sich handelt. Aber in Wirklichkeit besteht eine größere Vielfalt als wir gemeinhin annehmen. Und diese Vielfalt, die wir in einen Europäischen Einigungsprozess einbringen, wird durch die Migration noch verstärkt. Zwar gibt es aus einigen Europäischen  Krisenländern auch wieder eine verstärkte Auswanderung zum Beispiel in ehemalige Kolonien, aber hier geht es um die Einwanderung nach Europa. Und zwar wird klar, dass die Immigration oft nicht eine vorübergehende, zeitlich begrenzte ist, sondern meist eine dauernde oder zumindest längerfristige.

Europa im Sinne der EU bekommt also nicht nur durch die Erweiterung neue BürgerInnen sondern wir bekommen auch durch die Einwanderung neue EuropäerInnen. Zumindest wenn wir sie auch integrieren und sie nicht am Rande stehen lassen. Wir müssen also aktiv Sorge tragen, dass wir Menschen, die eine Herkunft außerhalb der EU oder überhaupt außerhalb Europa haben, auch eine vollwertige, genuine Europäische Bürgerschaft anbieten. Das ist der Sinn einer „Europa plus“-Aktion, die ich gerne ins Leben rufen möchte. Wir sollten diese neuen EuropäerInnen nicht vor die Wahl stellen, sich entweder für Europa oder ihre alte Heimat entscheiden zu müssen. Sie alle, die nach Europa zugewandert sind, bzw. in einer folgenden Generation hier leben, sollten die Möglichkeit haben,  zusätzlich zu ihrer alten Heimat eine neue nationale und eine europäische Heimat zu gewinnen. Eine europäische Demokratie gibt es nicht ohne die aktive Einbeziehung unserer Zuwanderer.

Wir sehen also, dass Demokratie heute und in Zukunft noch nicht klar definiert und organisiert ist. Uns stehen also viel Arbeit und viele Diskussionen bevor. Ein wahrer Findungs- und Erfindungsprozess ist notwendig.