EUROPA: EINFLUSS DER FLUCHTBEWEGUNGEN AUF UNSERE GESELLSCHAFT

(Referat auf der UNI Wien/ Institut für interkulturelle Islamwissenschaft)

1) Eine neue Stufe der Globalisierung – ein globaler Arbeitsmarkt

Globale wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen bzw. Austauschbeziehungen sind nichts Neues. Neu ist wahrscheinlich das Ausmaß dieser Beziehungen und der globale Kapital- aber vor allem Arbeitsmarkt. Gerade die gegenwärtige Krise in einigen neuen Wachstumsländern, den „emerging economies“ zeigt die weltweiten Zusammenhänge deutlich.

Diese merkbaren, aber oft undurchsichtigen Beziehungen schaffen Unsicherheit. („In Sturmzeiten geraten die Verhältnisse ins Tanzen“ meint der Soziologe Wolfgang Sofsky in der NZZ vom 13.2.2016). Und Unsicherheit führt zur Suche nach Geborgenheit und eindeutigen Erklärungen und Rezepten. Um wieder Wolfgang Sofsky zu zitieren: „Je hilfloser sie – (die Menschen) – sich fühlen, desto anfälliger sind sie für Träume und Versprechen. Mit der Verunsicherung steigt die Sehnsucht nach Gemeinschaft und Geborgenheit.“

Und leider werden heute von der Politik vor allem wieder Grenzen und Soldaten zu deren Verteidigung als entscheidende Beiträge zur Geborgenheit angeboten. Für Robert Kaplan führt der Weg zurück in das Mittelalter: „Europe’s New Medieval Map“ (The Wall Street Journal/ 22.01.2016): As the EU continues to fracture , this power vacuum could create a 21th-century equivalent of the Holy Roman Empire: a rambling, multiethnic configuration that was an empire in name but in fact, until its final dissolution in 1806……..The decades when we thought of Europe as stable, predictable and dull is over. The continent’s map is becoming medieval again, if not yet in its boundaries then at least in its political attitudes and allegiances.“

Und Wendy Brown meint in ihrem bahnbrechenden Buch: „Walled States, Waning Sovereignty“: “ Walls built around political entities cannot block out without shutting in, cannot secure without making securitization a way of life, cannot define an external „they“ without producing a reactionary „we“…..“

2) Europa als Schutz vor oder als Agent der Globalisierung

Europa ist als Schutz gegen Krieg und übersteigerten Nationalismus geschaffen worden, wie Navid Kermani in seiner Dankesrede bei der Überreichung des Friedenspreises in Frankfurt gesagt hatte, das „politisch Wertvollste, das dieser Kontinent hervorgebracht“  hat. Aber die Erwartungen im Zusammenhang mit der Globalisierung sind unterschiedlich.

Einerseits wird Europa vor allem als Vorbereitung und Agent der Globalisierung gesehen – die neo-liberale und vor allem angelsächsische Variante. Anderseits jedoch erwarten sich viele Menschen Schutz und Verteidigung – gegen die Unbillen der Globalisierung und der „Flut“ von MigrantInnen und Flüchtlingen. Es sind zum Teil diese widersprüchlichen Anforderungen und Vorstellungen, die es erschweren, wenn nicht fast unmöglich machen, geschlossen und klar zu reagieren.

Demgemäß gibt es Länder und Gruppierungen, die die Globalisierung positiv und als eine Chance sehen und andre die eher die Gefahren sehen. Das ist überdies eine besondere Eigenschaft der heutigen Zeit, dass die Probleme viel stärker betont werden als die Chancen und bestimmte politische Kräfte nützen das weidlich aus.

3) Die gesellschaftlichen Konsequenzen des Neo-Liberalismus

Die letzten Jahrzehnte, insbesondere nach dem Zusammenbruch der Alternative zum Kapitalismus, des Kommunismus, waren durch eine zunehmende Verbreitung neo-liberaler und marktorientierter Ideologien geprägt. Selbst die Wirtschaftskrise und das Versagen der Finanzmärkte konnte dem Durchbruch dieser Ideologie nichts anhaben.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise und deren Folge – insbesondere die hohe Arbeitslosigkeit wurden als gottgegeben hingenommen bzw. simplifiziert als Folge zu hoher Staatsaktivitäten. Neben der Arbeitslosigkeit hatte und hat aber auch die wachsende Ungleichheit fatale, gesellschaftliche Folgen. Insbesondere der Druck auf die Mittelschicht – manche sprechen sogar von deren Verschwinden – hat einen wichtigen Teil der Bevölkerung desorientiert und verstört. Sie wurde damit für konspirative Interpretationen und nationalistische Versprechungen besonders anfällig.

4) Migration und Flucht: die Konkurrenz wird sichtbar

Die gewachsenen Fluchtbewegungen der jüngsten Zeit trafen auf ein Europa, das durch eine lang anhaltende Wirtschaftskrise mit ihren negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgewirkungen gekennzeichnet ist. Schon seit Jahren wurde von bestimmten Kräften gegen die „Ausländer“ von den EU internen ArbeitsmigrantInnen bis zu den Flüchtlingen polemisiert. Die Schuld an der Arbeitslosigkeit bekamen bzw. bekommen nicht das dysfunktionale Wirtschaftssystem bzw. die mangelhafte Wirtschaftspolitk zugewiesen, sondern die „anderen“ ArbeitnehmerInnen, die Fremden, die Ausländer.

Die einen sozial Benachteiligten werden gegen die anderen in Konkurrenz gebracht. Die jüngste Debatte in Österreich zeigt dies sehr deutlich. Und natürlich sind entgegen allen anderen Behauptungen die Fremden immer im Nachteil. Zygmunt Bauman hat das in seinem Werk „Moderne und Ambivalenz“ klar ausgedrückt: „Ein Fremder zu sein, bedeutet zuerst und vor allem, dass nichts natürlich ist; nichts wird von Rechts wegen gegeben, nichts geschieht gleichsam von selbst. Die ursprüngliche Einheit von Selbst und Welt, die den Einheimischen kennzeichnet, ist aufgelöst.“

Im Übrigen zeugen verschiedene Studien eine eindeutige berufliche Diskriminierung der Muslime/Araber was auch ein Licht auf die Frage der Integrationswilligkeit wirft.

Gerade den Chauvinisten und Nationalisten gelingt es, nun den Einheimischen das Gefühl der Fremdheit zu vermitteln bzw. es zu verstärken: „Ich fühle mich hier nicht mehr zu Hause“. „Die Ausländer manchen sich so breit“. Damit er/sie sich wieder zu Hause fühlen können, muss der störende Fremde weg – oder zumindest unsichtbar bleiben bzw. werden. Und das gilt auch für dessen/deren Religionsbekenntnis. Die in der Schweiz besonders ausgeprägte Debatte über ein Minarettverbot, die allerdings auch nach Österreich überschwappte hat dies deutlich aufgezeigt.

5) Erhöhte Diversität der Lebensweisen, Kulturen und Religionen

Die Globalisierung als solches, der Ausbau der Verkehrsnetze und die niedrigen Transportkosten sowie die Vernetzung über die neuen Medien (social media) reduzieren Distanzen. Und reduzierte Distanzen bringen verschiedene Kulturen und Religionen einander näher. Aber auch andere gesellschaftliche Entwicklungen erhöhen die Diversität.

Neue Formen des Miteinander-Lebens sowie offenere zur Schau getragene Lebensweisen und sexuelle Verhaltensweisen erhöhen die Vielfältigkeit aber mitunter auch die Unsicherheit über das „korrekte“ Leben. Nicht „politisch korrekte“ Ausdrucksweisen werden tabu, aber auf der anderen Seite provozieren sie zum Bruch dieser Tabus. Nicht jeder/jede kann die neuen Lebensweisen nachvollziehen und wieder fühlen sich einige unsicher und nicht mehr „zu Hause“.

6) Islam als Religion und politischer Machtfaktor

Auch der Islam ist Teil dieser Diversität. Nun ist es er nicht neu, selbst in unseren Breitegraden, denken wir nur an Bosnien-Herzegowina. Aber die neue Ankunft von Flüchtlingen hat die Sichtbarkeit einer muslimischen Zuwanderung erhöht und die mangelnde vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit dem Islam rächt sich jetzt.

Dabei kommen die neuen Flüchtlinge aus dem arabischen, asiatischen Ländern in Zeiten zu uns, wo auch in Europa ein todbringender Terrorismus unter islamischem Deckmantel sein Unwesen treibt. Diese fundamentalistischen Islamisten und die islamophoben Kräfte verfälschen genauso den Islam und prägen viele Vorurteile gegenüber dem Islam als solches und den Muslimen. Dennoch oder gerade deswegen braucht es eine inner-islamische Debatte.

Generell gilt, was Mustafa Akyol über den Islam sagt, für jede Religion wenn er feststellt: „Politics has poisoned Islam“ ( International New York Times/ 4.2. 2016). Aber die Politisierung des Islam durch bestimmte religiöse/politische Kräfte schadet dem Islam und vielen Muslimen enorm und müsste zu einer inner-islamischen Auseinandersetzung und Klärung führen. Wobei ich auch viel der Argumentation von Olivier Roy abgewinnen kann wenn er meint, dass es sich bei den terroristischen Anschlägen weniger um eine Konsequenz der Radikalisierung des Islams handelt, sondern um eine Islamisierung von (auch sonst bestehender) Radikalisierung. (Le Monde, 25.11.2015)

Genauso allerdings die Rolle der Frau, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und die Rolle des Sex. Der algerische Schriftsteller und Kommentator Kamel Daoud meinte unlängst (International New York Times 13/14. 2. 2016). dazu unter dem Titel:“ Sexual misery in the Arab world“ : „We act as though sex doesn’t exist, and yet it determines everything that’s unspoken“! Dabei sind nicht nur religiöse Faktoren im Spiel sondern auch tradierte Formen des konservativen Patriarchats und neue rigide moralische Ansprüche.

Beide Herausforderungen betrafen bzw. betreffen noch heute viele Religionen. Aber das löst die Probleme des Islam nicht sondern verweist auf unerfüllte Aufgabenstellungen im Islam. Im Übrigen ist auch zu bemerken, dass Navid Kermani mit Recht auf ältere tolerante und weltoffenere Interpretationen und Auslegungen des Korans verweist und damit auf eine zunehmende geistige Verengung im Laufe der Zeit.

7) Toleranz als Voraussetzung für friedliches Zusammenleben

Je mehr sich verschiedene Kulturen und Religionen begegnen desto mehr ist Toleranz gefragt und wichtig. Dabei ist das friedliche Zusammenleben zwischen verschiedenen Religionen wie Zachary Karabell in seinem Buch „Peace be upon you“ keine Seltenheit. Sowohl aggressive Fundamentalisten als auch die Islamophoben suchen sich aus der wechselhaften Geschichte des Verhältnisses Christentum und Islam immer nur die konfliktreichen, kriegerischen Phasen heraus. Beide Seiten haben sich die gleiche selektive Geschichtsinterpretation zu eigen gemacht.

Toleranz muss, hier hat Goethe völlig Recht, mehr als Duldung bedeuten. Toleranz erforderte aber deswegen nicht unkritisches Stillschweigen und Akzeptanz der Intoleranz. In diesem Zusammenhang spricht Carlo Strenger auch von der Notwendigkeit einer „zivilisierten Verachtung“ (in seinem gleichlautenden Buch). Für ihn ist das „eine Haltung, aus der heraus Menschen Glaubenssätze, Verhaltensweisen und Wertsetzungen verachten dürfen oder sogar sollen, wenn sie diese aus substanziellen Gründen für irrational, unmoralisch inkohärent oder unmenschlich halten“

Es sind zwei Bedingungen, die eine zivilisierte Verachtung rechtfertigen: sie muss auf Argumenten beruhen und sie muss sich gegen Meinungen, Glaubensinhalte oder Werte richten und nicht gegen Menschen. Es gilt also die Würde des Menschen zu wahren.

8) Das Ende der Multikulturalität oder neue Chancen

Der Begriff der Multikulturalität  ist ein vielfältiger und auch umstrittener. Er ist extrem politisch aufgeladen. Eigentlich besagt er nicht viel mehr, als dass auch in unseren Gesellschaften verschiedene Kulturen/Religionen zu Hause sind. Das ist jeweils in unterschiedlichem Mischungsverhältnis gegeben und die Wurzeln der einzelnen Kulturen reichen unterschiedlich weit in die Vergangenheit zurück.

Aber Kulturen haben sich immer verändert und werden das auch in Zukunft tun. So ist das, was heute als christliches Weihnachtsfest gefeiert wird, eine Mischung aus christlichen und heidnischen Elementen. Auch die meisten Religionen sind nicht „rein“. Dies gilt auch für den Islam, zumindest für verschiedene schiitische Gebräuche, übrigens ein Kritikpunkt seitens der besonders „reinheitsfixierten“ Sunniten.

Sicher ist die unterschiedliche Entwicklung und Stärke des Multikulturellen in Europas West und Ost ein Faktor warum wir gerade in der Flüchtlingsfrage nicht zusammen kommen. Aber niemand kann sich der verstärkten multikulturellen Einflüsse entziehen, will er sich nicht von globalen Entwicklungen abkoppeln. Das geht für eine Zeit, aber nicht für immer. Und vor allem verzichtet man darauf, die Chancen und Vorteile der kulturellen Offenheit zu nützen. Die werden dann genützt wenn nicht Ausschluss sondern Integration eingefordert wird.

Ich kann diesbezüglich nur Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid zustimmen, die 1992 in ihrem Buch „Heimat Babylon“ zum Schluss geschrieben haben: „Es mag – unter den Einheimischen wie unter den Eingewanderten – viele geben, die Integration nicht wollen. Möglich ist sie doch. Ihre stärkste Waffe ist die Demokratie: der demokratische – also der prinzipienfeste und flexible – Umgang mit der verwirrenden, manchmal ärgerlichen manchmal beflügelnden Vielfalt der multikulturellen Gesellschaft“!

Aber eines ist auch klar, es gibt nur eine Verfassung und nur ein Recht. Die Dinge stehen nicht zur Disposition für die einzelnen Bewohner – ob Einheimische oder Fremde. Man sollte in diesem Zusammenhang nicht so sehr von Werten reden – da verstehen unterschiedliche Leute sehr Unterschiedliches darunter –  sondern von Rechten, die doch eindeutiger definiert sind. Aber die Gesetze, die sind von allen (!) anzuerkennen.