Europas Grenzen, Menschenrechte und Klimawandel

Bei der Präsentation des neuen Programms der Fresacher Toleranzgespräche (12. – 14. 5. 2016 ) unter dem Titel „Europas Grenzen, Menschenrechte und Klimawandel“ hab ich versucht einige Gedanken zu diesem Thema einzubringen. 

Die Tradition der Wanderung

Der Präsident des Kuratoriums der Europäischen Toleranzgespräche präsentierte am Dienstag im Spiegelsaal der Landesregierung in Klagenfurt das Programm 2016. Mit Friedensforscherin Bettina Gruber und Landtagspräsident Reinhart Rohr.

Migration ist kein neues Phänomen. Manchmal war und ist sie ein Massenphänomen, dann wieder geht sie ohne große Aufmerksamkeit vor sich. Die Ursachen von Flucht und Migration sind unterschiedlich. Politische Verfolgung bis zur Bedrohung des Lebens, Vernichtung der Lebensgrundlagen und auch der Wunsch nach besseren Lebensgrundlagen für sich oder die Nachkommen sind immer wiederkehrende Gründe für Flucht oder Auswanderung. Waren Europa und einige europäische Länder oftmals von Auswanderung betroffen so steht heute die Einwanderung im Vordergrund.

Zum Teil geht Migration bzw. Flucht also von ärmeren Länder in reiche Länder, oftmals jedoch von einem armen Land in ein anderes. Unser Blickwinkel aus einem reichen Land bzw. Kontinent soll nicht darüber hinweg täuschen, dass auf beiden Seiten vor allem die ärmeren Länder und deren -arme- Bevölkerungen betroffen sind. Nicht nur die MigrantInnen/Flüchtlinge sind arm sondern oftmals auch die -benachbarten- Einwanderungsländer.

Verteilungskämpfe

photo 1

Aber auch in den reicheren Einwanderungsländer gibt es ärmere Schichten. Und die fühlen sich besonders von der Zuwanderung betroffen. Schon vor 25 Jahren hat H.M. Enzensberger folgendes festgestellt:

„Wanderungsbewegungen großen Stils führen immer zu Verteilungskämpfen. Diese unvermeidlichen Konflikte deutet das nationale Empfinden mit Vorliebe um, so als hätte der Streit mehr mit materiellen Ressourcen zu tun. Gekämpft wird dann um Differenz zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung, ein Feld, das der Demagogie ideale Entfaltungsmöglichkeiten bietet.“

Die Auseinandersetzungen um die materiellen Ressourcen sind unvermeidlich, denn diese sind begrenzt und endlich. Aber sie sind auch ungleich verteilt: innerhalb von Staaten und Staatengemeinschaften wie der EU und global gesehen. Vor allem die ungleiche und ungerechte Aufteilung der Ressourcen zwischen Nord und Süd sind eine wesentliche Ursache für die Süd – Nordwanderung. Der Ökonom Carl Christian von Weizsäcker hat unlängst dieses Verhältnis analysiert und zwei Arten von Annäherung zwischen Süd und Nord unterschieden:

Angleichung zwischen Nord und Süd?

„Es gibt zwei Wege, wie der einzelne Bürger des Südens in den Genuss der Institutionen des Nordens kommt. Der eine Weg ist die Zuwanderung in die reiche Welt. Der zweite Weg ist die Übernahme dieser Institutionen durch seinen Heimatstaat. Will der Norden die Zuwanderung aus dem Süden in einem überschaubaren Rahmen halten, dann muss er den zweiten Weg über das bisherige Ausmaß fördern.“

Jedenfalls, so stellt Weizsäcker auch fest, reicht das Tempo der Angleichung zwischen Nord und Süd nicht aus, um die Gefährdung des im Norden Erreichten zu verhindern. Notwendig ist eine umfassende Entwicklungspolitik, die den Transfer von „Institutionen“ also von ökonomischen, gesellschaftlichen und technologischen Know How genau so umfasst wie die Öffnung der Märkte des Nordens für Güter und Leistungen des Südens. Dabei muss der Süden keineswegs ein Abbild des Nordens werden. Respekt für die Besonderheiten einzelner Länder und Regionen steht einer wirtschaftlichen und sozialen Angleichung nicht unbedingt im Wege.

Jedenfalls kann die heutige Wanderung von Süd Richtung Nord auch als Gegenstück zur Kolonisierung des Südens durch den Norden verstanden werden. Und nach wie vor profitiert der Norden von den ungleichen Wirtschaftsverhältnissen, auch wenn die Zuwanderung – im Falle dass sie zu entsprechenden Integrationskosten führt – diese Gewinne reduzieren kann. Zumindest, falls die Betreuungs- und Integrationskosten höher sind als der Nutzen der Flüchtlinge/Einwanderer.

Flucht und Machtpolitik

Allerdings gibt es Fluchtgründe, die auch mit einer anderen, progressiven Flüchtlingspolitik nicht ausgehebelt werden können. Wo das politische Machtspiel innerhalb von Staaten bzw. zwischen Staaten dominiert und Menschenleben wenig Wert sind, wird auch eine Politik der Angleichung nicht viel helfen. Aber zumindest sollte der Norden diese Konflikte nicht durch unüberlegte, zum Teil militärische Interventionen anheizen, wie das im Irak und in Libyen passiert ist. Im Gegenteil, die Politik des Nordens muss auf Ausgleich und Frieden aus sein – auch wenn man dabei undemokratische und autoritäre politische Systeme in Kauf nehmen muss.

Das macht keine Freude, aber die Konsequenzen der gewaltsamen Interventionen vom Ansteigen der Flüchtlingszahlen bis zum Terrorismus, zwei Phänome, die leider oft miteinander in Verbindung gebracht werden, fördern undemokratische Entwicklungen in Europa. Und die sind erst recht wieder nicht an der Förderung von Menschenrechten und Demokratie in unserer Nachbarschaft interessiert.

Flucht und Klimawandel

Klimatische Veränderungen waren auch in der Vergangenheit Ursachen für Flucht und Migration. Angesichts der drohenden und zum Teil schon spürbaren Klimaveränderungen ist eine globale Anstrengung notwendig. Die Beschlüsse der letzten Klimakonferenz dürfen daher nicht als unverbindliche Leitlinien verstanden werden sondern als Minimumanforderungen an eine stringente Klimapolitik – unabhängig vom politischen System. Dabei sollte ein besonderes Augenmerk auf die Versorgung mit – geniessbarem – Wasser und mit – fruchtbarem – Boden gelegt werden. Der regionale Mangel und die ungleiche Verteilung dieser Ressourcen führt übrigens nicht nur zu erzwungenen Wanderungsbewegungen sondern oft auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen die dann erst wieder zu Flucht und Vertreibung führen.

Vorrang für Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte

Aber weder eine umfassende Friedens-, Entwicklungs- und Klimapolitik werden alle Flucht- und Migrationsgründe verhindern bzw. vermeiden können.  Die Aufnahme von Flüchtlingen bleibt auch bei optimalen globalen Bedingungen auf der „europäischen Tagesordnung“ und ein politisch heikles Thema. Am bestehenden Asylrecht sollte dabei nicht gerüttelt werden, wollen wir weiter auf unser humanes-christliches (!) Europa stolz sein. Politisch Verfolgten und mit dem Tod oder dem Gefängnis bedrohten Menschen muss geholfen werden – und zwar von allen europäischen Mitgliedsländern – je nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit. Wenn aber das der Schwerpunkt ist, dann muss man sich auch um die Durchsetzung dieser Priorität kümmern.

Schutz der -europäischen- Grenzen

Da spielt dann die Frage der Grenzen eine große Rolle. Denn spätestens dort muss eine Unterscheidung zwischen -zumindest potentiell- Asylberechtigten und den „anderen“ getroffen werden. Und die Grenze, wo in einem gemeinsamen Europa diese Unterscheidung getroffen und durchgesetzt werden muss, ist die gemeinsame (!) Aussengrenze/Schengengrenze. Zugegeben ist das nicht leicht bei Ländern mit mehreren Inseln wie Griechenland und auch Italien. Da bedarf es dann einer Zusammenarbeit mit den benachbarten Ländern, insbesondere der Türkei und Libyen. Und das sind aus unterschiedlichen Gründen keine leichten Partner für eine solche Zusammenarbeit.

Je näher allerdings man zu den verschiedenen Krisenherden und Auswanderungsländer mit „Außenstellen“ der gemeinsamen EU Grenzen, also den sogenannten Hotspots kommt, desto früher kann man die Unterscheidung zwischen Asylberechtigten und den anderen (Wirtschaftsflüchtlingen), den potentiellen Flüchtlingen/MigrantInnen, vermitteln. Und desto geringer wird der Ansturm in unseren Nachbarländern bzw. an den EU Grenzen werden.

Integration – Partizipation

Neben der Migration spielt aber auch die Frage der Integration eine zunehmende Rolle in der öffentlichen Debatte. Das ist an und für sich erfreulich, hat man doch dazu in der Politik zu wenig Überlegungen angestellt. Aber der öffentliche Diskurs ist leider durch verschiedene Vorurteile und feindliche Einstellungen geprägt. Sicher sind auch Flüchtlinge und MigrantInnen nicht von Mängel und Fehler befreit. Um nochmals H.M. Enzensberger zu zitieren:

„Wie schon der flüchtige Blick auf Hinz und Kunz lehrt, sind Nervensägen und Schwindler, Rüpel und Idioten unter der einheimischen Bevölkerung mit derselben statistischen Frequenz anzutreffen wie unter Türken, Tamilen und Polen.“

Und so wie es unterschiedliche menschliche bzw. unmenschliche Verhaltensweisen bei allen Völkern gibt, gibt es Integrationswilligkeit bzw. Integrationsunwilligkeit auf allen Seiten – bei denen, die schon länger bei uns zu Hause sind und bei den Neuankömmligen. Bei allen muss die Integrationswilligkeit gefördert werden.

Integration muss jedenfalls zur Partizipation führen, das heißt auch die neuen MitbürgerInnen müssen am Arbeitsmarkt, an den Bildungs- und Sozialleistungen etc. gleichberechtigt teilnehmen können. Wie viele Studien zeigen, ist das aber oft nicht der Fall. Eine jüngste Studie in Frankreich zum Beispiel hat deutliche Diskriminierungen in der Schule aber auch bei gleicher Ausbildung am Arbeitsmarkt für Menschen aus dem Maghreb aufgezeigt. Also es gibt auch integrationswillige MigrantInnen , die an der Integrationsunwilligkeit der bestehenden Institutionen und deren Verantwortlichen scheitern.

Unser Recht gilt uneingeschränkt

Hinzu kommen religiöse oder sonstige kulturelle Eigenheiten und Besonderheiten, die mit dem, was wir nach Jahren oft harter politischer Auseinandersetzungen errungen haben, nicht im Einklang stehen. Unsere Gesetze sind aber für alle, die in unseren Ländern leben verbindlich und sicher nicht verhandelbar. Die Regeln des Einwanderungslandes sind die einzuhaltende Richtschnur und nicht die der Länder aus denen die Menschen geflohen bzw. ausgewandert sind.

Dabei ist es nicht unsere sogenannte christlich-jüdische Herkunft oder Tradition, die im Widerspruch zum Islam oder zur arabischen Kultur stehen. Was haben nicht im Laufe auch der jüngsten europäischen Geschichte Christen den Juden (auch den Arabern) angetan bis zum Holocaust? Und die Gleichstellung von Frau und Mann ist noch immer nicht ausreichend vollzogen. Aber wir wollen mit Recht nicht das Rad der Geschichte zurückdrehen. Im Gegenteil, in Umsetzung und Verteidigung des Erreichten wollen wir auch den Neuankömmlingen unsere Errungenschaften vermitteln. Auch mit der Hoffnung, dass diese dann auch in die Herkunftsländer ausstrahlen.

Keine Verunglimpfung der Willkommenskultur

Eine Prioritätensetzung für die vom Krieg und politisch Verfolgten sowie eine eindeutige Haltung zu unseren gesellschaftlichen Errungenschaften, die sich vor allem  in den (Verfassungs-)Gesetzen niederschlagen, stehen nicht im Widerspruch zur derzeit oft kritisierten Willkommenskultur. Im Privaten wie im Staatlichen heißt man niemals alle und ohne Bedingungen willkommen. Aber Europa, mit großer Schuld aus der Vergangenheit  und auch aus der Gegenwart beladen, hat kein moralisches Recht und keine pragmatische Veranlassung sich abzuschotten. Krieg, Kolonialismus, Ausbeutung und extremer Ressourcenverbrauch sowie ausgedehnte Umweltbelastungen sind mit der Entwicklung unseres Kontinents eng verbunden. Manches davon rächt sich jetzt. Die Augen vor den neuen Entwicklungen und Verhältnissen zu verschließen nützt nichts.

Sicher ist es eine große Herausforderung sich mit der Welt wie sie ist auseinanderzusetzen. Es gibt viele, die unter politischer Verfolgung, Armut und Hunger leiden. Wir können nicht alle davon aufnehmen, das wäre unmöglich und unsinnig. Aber Europa muss seinen Beitrag dazu leisten. Und es gibt die, für viele von uns fremd und unzugänglich scheinende, Religion des Islam. Viele orthodoxe Vertreter, von den Terroristen ganz zu schweigen, erschweren dabei ein Verstehen bzw. einen fruchtbaren Dialog mit dieser Religion, die ja durch verschiedene Strömungen und Interpretationen gekennzeichnet ist. Aber es gibt viele Muslime in Europa und noch mehr in unseren „südlichen“ Nachbarländern. Ein offener und ehrlicher Dialog, der aber auch von gegenseitigem Respekt getragen wird, ist notwendig – bisher ist ein solcher kaum geführt worden. Dabei müssen wir „unsere“ Sicht des Vorteils von Frieden, Freiheit und Demokratie aber auch von der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern einbringen.

Wie schon klargestellt, der Norden, Europa kann nicht alle, die zu uns kommen wollen, aufnehmen. Dabei wollen gar nicht alle kommen, vor allem dann nicht, wenn sich die Lebensbedingungen in ihren eigenen Ländern verbessern. Wenn wir unseren Wohlstand nicht mit zu vielen Flüchtlingen in unseren Ländern des Nordens teilen wollen, dann müssen wir allerdings die Welt und ihre Ressourcen mit den Ländern des Süden teilen und sie gemeinsam mit diesen einerseits schonend gebrauchen und anderseits gerechter verteilen. Mittel- und langfristig ist das die einzige Chance, die Emigration und Flüchtlingszahlen drastisch zu reduzieren. Und davon würden alle profitieren. Im Übrigen ist niemand gerne Flüchtling.