GROSSSTADT EUROPA

Anmerkungen nach einer Architekturreise nach Mailand und Turin

Anlässlich einer Studientour des Wiener Architekturzentrums – AZW – nach Mailand und Turin besuchten wir den Mailänder Architekten Cino Zucchi in seinem Atelier. Neben aufschlussreichen Argumenten und Analysen hinsichtlich der architektonischen und städtebaulichen Entwicklung Mailands fiel ein interessanter Satz: Für mich ist Europa wie eine einzige Großstadt und die Alleen sind der „Central Park“ dieser Großstadt! 

Nun, diese Aussage ist auch durch die berufliche Reisetätigkeit eines in ganz Europa planenden und bauenden Architekten geprägt. Das Pendeln mit dem Flugzeug dauert oft nicht länger als ein innerstaatliches, regionales Pendeln mit dem Auto oder dem Zug. Aber für viele wächst Europa zusammen – wenn auch langsamer als sich das manche wünschen. Das heißt nun nicht, dass alle an diesem Zusammenwachsen gleichermaßen teilnehmen. Und es gibt noch immer Unterschiede zwischen Zentrum und Peripherie bzw. zwischen Zentren und Peripherien, die oft verschieden ausgestaltet und sozial zusammengesetzt sind.

Mailand ist sicherlich ein Zentrum im Zentrum. Es ist ein Wachstumspol für Italien und kann sich mit anderen großen europäischen Metropolen vergleichen. Die vielfältigen, städtebaulichen Projekte, allen voran das an der Porta Nuova, zeugen von dieser Wirtschaftskraft. Sie belegen aber auch die Stärke privatwirtschaftlich gesteuerter Stadtentwicklung. Ein Symbol für dieses ungleiche Kräfteverhältnis ist, dass der öffentlich organisierte Park im Zentrum des Gebietes zuletzt fertig werden wird.

Und das von César Pelli gestaltete und von der UniCredit in Auftrag gegebene Hochhaus ist das Gebäude, dem am meisten ein eigener Charakter, ein eigenes Gesicht fehlt. Ein besonderes Gesicht weisen hingegen die beiden „Waldhäuser“ auf mit ihren großen Bäumen auf den Balkonen. Diese gehören dann auch nicht den einzelnen Wohnungsbesitzern sondern werden zentral gepflegt, allerdings geht das sicher zu finanziellen Lasten der Wohnungseigentümer.

Anders ist es allerdings bei der von der Firma Prada bei Rem Kohlhaas in Auftrag gegebenen Umgestaltung  eines altern Industrieareals in ein Kulturzentrum. Hier konnte eine interessante gestalterische Qualität umgesetzt werden. Interessant sind auch verschiedene Interventionen im Mode- und Kulturviertel Tortona. Viele Unternehmungen haben hier neu investiert und alte Fabrikareale wurden umgenutzt. So entstand eine interessante Mischung von Zentralen von bekannte Firmen und kulturellen Einrichtungen. In diesem Gebiet hat dann auch die öffentliche Hand direkt interveniert. Ein kostenlos zur Verfügung gestellter CoWorking Space bietet vor allem der jungen Startup- bzw. Unternehmerszene generell Möglichkeiten zur gemeinsamen Arbeit und zum Kontakte knüpfen. Weiters wurde auch in diesem außerhalb des eigentlichen Zentrums gelegenen Quartiers ein städtisches Museum errichtet – geplant von David Chipperfield.

Mailand und die Region Lombardei sind reich genug, um sich öffentliche Investitionen noch zu leisten. Die Regionsverwaltung hat vor kurzem neue Hochhäuser bezogen. Das Regionalparlament hingegen ist in einem sehr gut renoviertem Hochhaus, das ursprünglich von und für die Firma Pirelli gebaut wurde. Für die grazile Gestaltung war – gemeinsam mit dem Architekten Gio Ponti – vor allem der bekannte Ingenieur und Statiker Pier Luigi Nervi tätig, dessen grandiose technischen Bauwerke wir in Turin wieder erleben durften. Allerdings Turin ist keineswegs so reich wie Mailand und hat sich zudem verstärkt von öffentlichen Interventionen zurückgezogen. Die neu gewählte Bürgermeisterin der Partei „Cinque Stelle“ hat noch das Ihre zum Rückzug aus der öffentlichen Verantwortung beigetragen.

Allerdings hat Turin einige Gebäude die zwar architektonisch und technisch hochinteressant sind, aber einer finanziell und bevölkerungsmäßig stagnierenden Stadt Sorgen bereiten müssen. Dabei hat auch die Familie Agnelli mit der Firma Fiat nach einer langen Zeit hindurch positiven Beitrag zur Stadtentwicklung ein schweres Erbe hinterlassen. Eines davon ist auch das bekannte ehemalige Fabriksgebäude Lingotto mit der zur Ikone gewordenen Teststrecke am Dach. Die Olympischen Winterspiele 2006 haben der Stadt sicher einen Entwicklungsschub gegeben, allerdings ebenfalls ein schwieriges Erbe hinterlassen. Im Falle Mailands ist das etwas anders gelagert, weil die Stadt die Weltausstellung und auch die Aufgabe verschiedener Fabrikareale, wie das von Alfa Romeo, und die Verlagerung der Messe besser bewältigen konnte. Es gibt halt in Mailand noch immer viele aktive und äußerst erfolgreiche Firmen. Sie setzen sicher öfters ihre Interessen durch, aber sie bringen der Stadt auch finanzielle Ressourcen.

In den letzten zwanzig Jahren haben die politisch Verantwortlichen der Stadt Turin immer wieder und oft auch mit Erfolg gegen die negative wirtschaftliche Entwicklung gegen gesteuert. Dabei haben sie sicher auch im Zentrum der Stadt angesetzt und größere Projekte wie das der Olympiade umgesetzt. Die letzte Wahl hat aber vor allem durch entsprechende Mehrheiten in den peripheren Bezirken der jungen Kandidatin der Cinque Stelle Partei von Bepo Grillo eine eindeutige Mehrheit gegeben. Cinque Stelle argumentiert ähnlich wie andere rechtspopulistische Parteien und betrachtet das als einen Sieg des „Volkes“ über die Eliten, die sich wenig um die Bevölkerung kümmern.

Cinque Stelle wird auch weiterhin diese Schiene fahren und zwar gemeinsam mit David Casaleggio, der für diese Partei mittels Abstimmungen übers Internet eine spezielle Form der direkten Demokratie umsetzen möchte. Interessant ist dabei allerdings, dass Casaleggio die Menschen mit Ameisen vergleicht, die nicht wissen müssen – und gar nicht wissen sollten – nach welchen Regeln ihr Leben organisiert wird und die Koordination in einer Gesellschaft funktioniert. Ein eigenartiges Demokratieverständnis kommt hier zutage. Aber unabhängig davon müssen sich die „traditionellen“ PolitikerInnen auch und gerade die KommunalpolitikerInnen einiges überlegen, um die Bevölkerung wieder für sich zu gewinnen. Und das heißt wieder von einer ausgeglichenen Stadtentwicklung zu überzeugen.

Dazu gehört auch eine Politik, die versucht, die Zuwanderung in geordnete Bahnen zu lenken und die Integration und Inklusion an erster Stelle stellt. Großstädte sind immer wieder vor diese Aufgabe gestellt. Die Großstadt Europa ist ganz besonders von Flucht und Zuwanderung betroffen. Nicht alle Teile dieser Großstadt sind bereit für die Aufnahme und nicht alle Zuwanderer wollen in alle Vierteln dieser Stadt. Aber wie der Vergleich zwischen Turin und Mailand aber auch die Vergleiche zwischen West- bzw. Süddeutschland einerseits und Ostdeutschland anderseits zeigen, die Probleme sind in wachsenden und florierenden Städten ungleich größer als in stagnierenden oder gar schrumpfenden Städten bzw. Stadtteilen. Dennoch, man sollte die wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Auswirkungen der Zuwanderung nicht unterschätzen. Vor allem die ärmeren und periphereren Schichten – und die gibt es auch in reichen Städten und Stadtquartieren – sind von solchen Auswirkungen betroffen.

Nach Perioden schrumpfender Bevölkerung wachsen sowohl Turin als auch Mailand, allerdings Mailand stärker. In beiden Städten stammt die größte Ausländergruppe aus Rumänien. Viele kommen auch aus Südamerika und das zweitstärkste europäische Zuwandererland ist Albanien. Die Zuwanderung aus Schwarzafrika macht sich statistisch noch nicht bemerkbar – zum Unterschied der starken Präsenz von Ägyptern in Mailand. Jedenfalls haben es beide Städte nach der starken Zuwanderung aus Süditalien in der Nachkriegszeit heute mit einer anderen Zuwanderung zu tun. Das unterscheidet sie aber nicht von vielen anderen Teilen der Großstadt Europa.

Die Großstadt Europa und die einzelnen Städte müssen einen Entwicklungspfad finden, der Erneuerung durch neue, wirtschaftlich orientierte Projekte und durch modernen sozialen Wohnbau miteinander verbindet. Und was den sozialen Wohnbau betrifft, weisen weder Mailand noch Turin eine befriedigende Bilanz aus. Ja, es gibt neben ökologischen Luxusprojekten auch „sozialen“ Wohnbau. Der ist allerdings hinsichtlich Qualität und Kosten nicht mit dem Wiener Kommunal- oder Sozialwohnungsbau vergleichbar. Hingegen, was Gemeinschaftsräume in und angrenzend an solche Wohnbauten betrifft so gibt es sehr gute Beispiele, die zum Lernen anregen.