Hat Europa noch eine Zukunft?

hannes 6Immer wieder werde ich im Rahmen von Diskussionen nach der Zukunft Europas gefragt. Hat es noch eine Zukunft oder ist der Versuch, Europa zu einigen, zum Scheitern verurteilt? Können wir die Geschichte unseres Kontinents als gemeinsame fortschreiben oder müssen wir zu nationalen und vielfach gegensätzlichen Geschichten zurückkehren?

Die Geschichte der Vereinigung Europas begann mit dem Bewusstsein der Verantwortung uns und der Welt gegenüber. Durch viele Kriege und insbesondere durch zwei von europäischem Boden ausgehende Weltkriege und damit verbundenen Gräuel wie die Shoa hat „Europa“ viel Leid für die eigenen BürgerInnen und weltweit verursacht. Und auch die Überwindung der faschistischen und kommunistischen Diktaturen sowie der sowjetischen Herrschaft ist Teil dieser Gründungsgeschichte. Wohin und entlang welcher Entwicklungslinien soll aber die Geschichte fortgeschrieben werden?

Wir sind trotz unserer oft katastrophalen Vergangenheit ein materiell und geistig sehr reicher Kontinent. Und das gibt uns Verantwortung für unsere eigene Zukunft und die der Welt insgesamt. Und das obwohl bzw. weil wir einen kleinen und noch dazu schrumpfenden Anteil an der Weltbevölkerung haben. Aber wir müssen die Chancen nützen, um auch in Zukunft eine „Geschichte“ zu haben. Derzeit gibt es zu viele Tendenzen und politische Bewegungen, die einer Fortsetzung der Europäischen Geschichte entgegentreten. Sie nützen die aktuelle Krise und wollen zu nationalen Geschichten zurückkehren. Nationale Geschichten, die oftmals mit Konflikten, Streit, Vertreibung und letztendlich Kriegen verbunden waren. Aber ich glaube, es gibt die Chance, unsere Geschichte als gemeinsame fortzuschreiben und in die globale Entwicklung einzubringen.

1) Das größte Kapital sind unsere oftmals gut bis sehr gut ausgebildeten Menschen. Diese „Ressource“ gilt es weiterzuentwickeln, nicht zuletzt durch forcierte Bildungsanstrengungen. Die müssen allerdings alle umfassen, auch die nach Europa eingewanderten. Wir dürfen keine Kapazitäten ungenützt lassen. Pflegen und erneuern wir unsere Bildungs- und Forschungsinstitute und wir werden weltweit erfolgreich sein. Vor allem kann das unsere Wirtschaftskraft und auch die Industrie immer wieder erneuern. Wir dürfen aber nicht durch Budgetkürzungen im Rahmen einer extremen Austeritätspolitik diese Chancen gefährden und unser Potential zur Auswanderung treiben oder untätig und arbeitslos lassen. Im Gegenteil, wir müssen die Kreativität unserer Bevölkerung in eine ebensolche kreative Wirtschaft umsetzen.

2) Damit in Zusammenhang steht die Vielfalt unserer Kulturen. Auch dies ist ein Vorteil und kein Nachteil. Wollen wir uns in der immer stärker integrierten und multikulturellen Welt zurechtfinden, so kann uns unsere kulturelle und sprachliche Vielfalt dabei nur behilflich sein. In diesem Sinn sollte Migration immer auch zur Integration führen. Integration erfolgt dabei nicht automatisch und hat auch Probleme und Vorurteile zu überwinden. Aber internationale Untersuchungen belegen das große Potential einer gut gesteuerten Migration und Integration.

3) Ähnliches gilt für die Vielfältigkeit unserer Landschaft und Natur. Sie führte schon früh zur Betonung des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit. Eine darauf beruhend Politik inklusive der Energiewende schafft nicht nur nachhaltige Arbeitsplätze, sondern ist auch der Motor für die entsprechenden globalen Entwicklungen in Richtung Nachhaltigkeit. Eine nachhaltige Umweltpolitik mit weitgehendem Recycling widerspricht nicht einer ebenso nachhaltigen Wirtschaftspolitik und einer „grünen“ Reindustrialisierung, die unsere natürlichen Ressourcen nachhaltig nützt, inklusive unsere Wasserkraft, Wind und Sonne. Auch eine „blaue“ Industrialisierung unter Ausnützung des Meeresbodens kann nachhaltig entwickelt werden.

4) Europas Staaten haben einen öffentlichen Sektor, der mehr als Minimaldienstleistungen anbietet. Diese Dienstleistungen im öffentlichen Interesse sind Bestandteil einer erfolgreichen gemischten Marktwirtschaft. Auch die Systeme der sozialen Sicherheit sind ein Guthaben. Sicher müssen sie erneuert, reformiert und immer wieder den neuen Anforderungen (wie höheres Lebensalter etc.) angepasst werden. Aber sie schaffen sozialen Frieden und begrenzen die Ungleichheit. Und große Ungleichheit wirkt demotivierend und bremst die wirtschaftliche Entwicklung. Jedenfalls müssen wir uns gegen eine Austeritätspolitk, die den Wohlfahrstaat abbauen und soziale Strukturen inklusive den Gewerkschaften zerstören will, wehren. Denn dadurch würde ein Teil unserer Identität und unserer Produktivität verloren gehen.

5) Der Binnenmarkt schafft viele Möglichkeiten für Europas Unternehmungen, aber auch ArbeitnehmerInnen, sich auf die globalen Märkte vorzubereiten. Insofern ist er durchaus weiterzuentwickeln und zu vollenden. Aber dies muss immer in Einklang mit den sozialen Zielen der Union stehen und das Soziale der Sozialen Marktwirtschaft darf nicht unter den Tisch fallen. Im Gegenteil, die Soziale Marktwirtschaft und die sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen des Binnenmarktes sind ein „Exportprodukt“.

5) Europa bekennt sich zur Demokratie und zu den universellen Menschenrechten. Wir bekennen uns nicht nur dazu, sondern viele Mitgliedsländer und die EU-Institutionen folgen auch in der Praxis diesen Maximen. Daher müssen wir Unterwanderungen und Verletzungen dieser Grundsätze von Anbeginn abwehren. Und wir müssen diese Werte und Ziele den anderen Ländern anbieten. Wir dürfen sie nicht mit Gewalt anderen aufzwingen, das würde den Werten selbst widersprechen, aber wir sollen aktiv für sie eintreten. Aber sicher müssen wir wachsam jeglichen Abbau von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verhindern. Im Gegenteil, wir müssen die parlamentarische Demokratie und den Dialog mit den BürgerInnen stärken.

Ich glaube fest daran, dass Europa auch eine Zukunft haben kann. Aber diese Zukunft ergibt sich eben nicht automatisch. Sie muss erarbeitet und oftmals auch erkämpft werden. Das ist mühsam und verlangt konkrete Maßnahmen. Vor allem müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden, die die Einzelnen zu „Investitionen“ motivieren und es ihnen ermöglichen, politisch, wirtschaftlich, sozial und kulturell erfolgreich zu sein. Von der kommunalen und regionalen bis zur europäischen Ebene müssen diesbezügliche Anstrengungen erfolgen. Aber eine extreme Austeritätspolitik demotiviert und verhindert mehr Chancen und vernichtet mehr Potential als sie schafft. Wir müssen wieder Hoffnung vermitteln, Chancen ermöglichen und Kreativität anregen.