KRISE DER EU UND WEGE DARAUS

(Diskussionsbeitrag bei Debatte vor Sozialdemokraten in Schweizer Nationalrat)

Es besteht kein Zweifel, dass sich die EU in einer tiefen Krise befindet. Es ist nicht die erste, aber vielleicht die schwerste. Denn sie ist nicht nur eine Krise der Institutionen und ein Streit zwischen Regierungen, sondern es hat ein weit verbreitetes Misstrauen in die EU als Problemlöser Platz gegriffen.

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Dabei ist die EU auch Opfer allgemeiner Entwicklungen geworden sowie einer starken Verunsicherung der Bevölkerung angesichts scheinbar unlösbarer globaler Herausforderungen. Die EU wird dabei selten als Mittel zur Lösung dieser Probleme gesehen, sondern oft als Teil des Problems oder sogar als Verstärker globaler Entwicklungen und Abhängigkeiten. Denken wir nur an das Flüchtlingsproblem oder an die vielfältigen Widerstände gegen das geplante Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP).

Die generelle Unsicherheit und die Enttäuschung gegenüber dem Unvermögen der Politik, die Probleme zu lösen, richtet sich vornehmlich gegen die traditionellen PolitikerInnen der nationalen Eliten und gegen die EU als Projekt dieser Eliten. Insofern wird dann aber oft der Nationalstaat bzw. die nationalstaatliche Ebene noch am ehesten als fähig eingeschätzt, Schutz und Sicherheit zu gewähren. Zumindest ziehen sich viele auf diese noch relativ überschaubare Ebene zurück.

Was nun die aktuellen Probleme/Herausforderungen betrifft, so steht sicher die Flüchtlingsproblematik im Vordergrund. Aber die Frage wie man zu einer funktionierenden Wirtschafts- und Währungsunion kommt, ist noch keineswegs gelöst. In beiden Fällen wird die Unvollständigkeit der institutionellen und politischen Verankerung der jeweilige Regelungen klar erkennbar. Und das gilt im Übrigen auch für den Umgang mit Regierungen, die von allgemein anerkannten Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie abweichen. Auch diesbezüglich fehlen Instrumente, die auf Grund klarer Definitionen,  was mit den Grundsätzen der EU vereinbar ist und was ist nicht, die EU Kommission bzw. den Europäischen Gerichtshof zum Handeln ermächtigen.

Unvollständige Währungs- und Wirtschaftsunion

Mit der Einführung des Euro war die Absicht verbunden, dieser mutige Schritt wird zu einer zunehmenden wirtschaftlichen und in der Folge auch politischen Integration führen. Aber das wäre vielleicht (?) der Fall gewesen, hätte einem die wirtschaftliche Situation Zeit gelassen. Aber die Finanzkrise und die besonders schweren Folgen in einigen peripheren Ländern der EU haben ihr nicht die Zeit gelassen. Nur mühsam konnte man generelle Regeln zur Haushaltsdisziplin und dann zur Abwicklung in Krise geratener Banken entwickeln. Beide Regelungen sind aber an sich wieder unvollständig und das große Problem der Arbeitslosigkeit wird überdies dadurch nicht angegangen.

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Hätte die Europäische Zentralbank nicht vor allem unter Mario Draghi mutige Schritte zur ausreichenden Geldversorgung unternommen, dann würden wir in einer noch stärkeren Krise stecken. Die monetäre Politik hat allerdings Grenzen, wenn sie nicht durch eine entsprechende Fiskalpolitik unterstützt wird. Aber den Mut zu einer expansiven Investitionspolitik zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, zum Beispiel im Rahmen einer umweltorientierten Transformation unserer Gesellschaft, hatten die Regierungen nicht.

Unvollständige Immigrations- und Grenzsicherungspolitik

Dass Europa zu einem Ort wurde, in dem immer mehr Flüchtlinge eine neue, sichere und wirtschaftlich und sozial aussichtsreichere Heimat gesucht haben, ist nicht neu. Vor allem in den Gewässern vor Italien waren spektakuläre Zwischenfälle im Zusammenhang mit gekenterten Booten, vielen Ertrunkenen und manchmal mit erfolgreichen Rettungsaktion immer wieder zu beobachten. Im Allgemeinen reagierte man hilflos auf diese Ereignisse und hoffte auf ein Abflauen des Flüchtlingszustroms. Die unüberlegte militärische Intervention in Libyen ohne längerfristige Überlegungen über mögliche Konsequenzen verschlimmerte die Lage noch.

Inzwischen erhöhte sich die Anzahl der Flüchtlinge aus Syrien und Irak. Die meisten Flüchtlinge verweilten vorerst in Jordanien, Libanon und der Türkei. Nach längerer Verweildauer in manchen Flüchtlingslagern in den beiden kleinen Anrainerstaaten und nach der Kürzung der UN Mitteln auf Grund geringer Leistungen an die UN seitens der Mitgliedstaaten, machten sich viele Flüchtlinge auf den Weg. Und auch aus der Türkei selbst kamen und kommen viele Flüchtlinge, die in der Türkei wenig Chancen für sich und ihre Familien sehen. Hinzu kommen dann auch Flüchtlinge aus Afghanistan und Pakistan.

Die Zielländer Schweden, Deutschland und Österreich haben bisher diesen Zuzug gut bewältigt, im Gegenteil zu dem, was Rechte Kreise immer wieder trommeln. Dies nicht zuletzt durch das Engagement einiger hervorragender BürgermeisterInnen und durch viele Helfer aus der organisierten und spontanen Zivilgesellschaft. Anderseits konnte keine gemeinsame Haltung der EU hinsichtlich der Offenheit der EU bzw. der einzelnen Mitgliedsländer erreicht werden. Die Aufteilung der Flüchtlinge funktioniert nicht. Und angesichts der Vorstellungen der Flüchtlinge selbst sowie der zurückweisenden, ja oft feindlichen, Haltung der die Aufnahme ablehnenden Länder, kann eine solche Aufteilung nicht funktionieren. Hinzu kommt das extrem unterschiedliche Niveau der Mindestsicherung und damit der Unterstützung der Flüchtlinge.

Generell hat die EU das Problem, dass einige Länder, vor allem die aus Osteuropa, manche Veränderungen in Richtung „Multikulturalität“ nicht mitvollzogen haben. Und in einigen anderen Ländern haben extrem rechte Gruppierungen eine starke Polemik dagegen bzw. gegen die „Islamisierung“ des christlichen Abendlands begonnen. Terroranschläge und auch Ereignisse wie die in Köln haben diesen Bewegungen zusätzlich in die Hände gespielt. Dabei können die schlimmen Anschläge auf Flüchtlingseinrichtungen und Flüchtlinge selbst, nicht dagegen ausgespielt werden.

Jedenfalls wurden die Unterschiede in der Haltung der deutschen Bundeskanzlerin Merkel einerseits (und zeitweise der Regierungschefs aus Schweden und Österreich) und vieler anderer Regierungschefs inklusive des bayerischen Ministerpräsidenten anderseits deutlich. Am gravierendsten ist die Auswirkung dieser Unterschiede auf das Schengen System der offenen Grenzen innerhalb der Schengenzone. Es ist extrem bedauerlich wie mit dieser Errungenschaft von einigen RegierungsvertreterInnen, vor allem aus der Reihe der InnenministerInnen umgegangen wird. Und es ist beschämend welche Töne gegenüber Griechenland – wieder einmal – angeschlagen werden.

Erstens ist die Außengrenze Griechenlands mit seinen vielen Inseln schwer zu kontrollieren. Darüber hinaus muss man sich überlegen, was eine Kontrolle gegenüber Flüchtlingen in Schlauchbooten heißt. Man hat den Eindruck, manche wünschen sich einen Schießbefehl ähnlich dem an der DDR Grenze. Flüchtlinge werden von vielen wie feindliche Angreifer behandelt.

Aber unbeschadet davon, braucht die Außengrenze der EU eine gemeinsame Organisierung und Kontrolle – im Notfall auch ohne Zustimmung der betreffenden Länder. Es handelt sich ja um eine gemeinsame Grenze der EU bzw. der Schengenzone. Insofern geht der diesbezügliche Vorschlag der EU Kommission in die richtige Richtung. Und wenn ein Land diese Außengrenze allein als seine nationale Grenze ansieht und behandelt, dann, aber nur dann, könnte ein Ausschluss bzw. ein Ausscheiden aus der Schengenzone die Konsequenz sein.

Ungarn, Polen und dann?

Die politischen Entwicklungen in Ungarn und Polen machen vielen Sorgen über die Bedeutung demokratischer und rechtsstaatlicher Werte und Regeln innerhalb der EU. Es ist richtig, in beiden Fällen hat die EU Kommission und das EU Parlament reagiert und viele ungarische Gesetzesvorschläge müssten geändert werden. Sicherlich ist es immer heikel wenn von Außen in einer Art eingegriffen wird, die als Korrektur eines Wahlergebnisses verstanden wird. Aber so wie gemeinsame Handelsbestimmungen etc. nicht einseitig geändert werden können, so sollte dasselbe für fundamentale Rechte gelten. Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sollten nicht für politische Zwecke zur Verfügung stehen. Es sollte da klare Konsequenzen bei entsprechenden Verletzungen geben.

Alternative Lösungswege

Unabhängig von der konsequenten Vollendung der zentralen europäischen Konstruktionen, nämlich der Wirtschafts- und Währungsunion und der Schengenzone bzw. zur Wahrung demokratischer Grundsätze, braucht es auch grundsätzlicher Überlegungen zur Zukunft der EU. Vor allem im Zusammenhang mit der BREXIT Diskussion und einer eventuellen Mitgliedschaft der Türkei und Ukraine(?) muss sich die EU über die weitere Entwicklung klar werden. Dabei scheinen drei unterschiedliche Wege möglich.

1) Nach dem Modell des „muddling through“ kann die Methode des Fortwurstelns weiterverfolgt werden. Angesichts der zunehmenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung habe ich Zweifel ob das den Bestand der Europäischen Union sichern kann. Das Fortwursteln würde nur das mangelnde Vertrauen in die Politik bzw. PolitikerInnen verstärken.

2) Auf der anderen Seite gibt es auch eine bewusste oder auch unbewusste Strategie, die die EU auf eine erweiterte Freihandelszone zurückführt. Das wird zum Teil von jenen vertreten, die jegliche europäische Gemeinsamkeit ablehnen oder von solchen, die z.B. die gemeinsame Verteidigung im Rahmen des atlantischen Bündnisses, der NATO sehen. Dabei gibt es aber auch solche die selbst eine Freihandelszone ablehnen und einen einzelstaatlichen oder höchstens europäischen Protektionismus einfordern.

3) Momentan utopisch, aber dennoch zielführend scheint mir die Idee einen -inneren- Kern der integrierten EU und einen -äußeren- Ring assoziierter Staaten zu konstituieren. Das Europa der zwei Geschwindigkeiten hat unlängst auch der deutsche Finanzminister Schäuble wieder aufgegriffen. Ihm geht es dabei vor allem um eine funktionsfähige Währungs- und Wirtschaftsunion (die natürlich seinen restriktiven fiskalpolitischen Vorstellungen entsprechen soll).

Der Vorteil einer solchen Zweiteilung wäre der, dass manche Länder an die EU angebunden sein könnten, ohne dass sie die engeren Integrationsschritte mitmachen müssten. Allerdings bleibt die Frage offen, welche Bereiche der fortschreitenden Integration unterworfen werden sollen. Einerseits braucht es sicherlich einer gemeinsamen Währungs- und Wirtschaftspolitik. Aber was ist mit der damit zusammenhängenden Sozialpolitik, zum Beispiel der Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Absicherung der konjunkturellen Arbeitslosigkeit?

Immer wird mit Recht eine umsetzbare gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eingefordert. Gerade die letzten Jahre haben manche militärische Alleingänge gesehen, die dann alle betroffen haben. Im Irak, Libyen etc. und inwieweit können die Paktungebundenen und Neutralen dabei mitmachen? Und ist nicht besonders nach den jüngsten Erfahrungen die Schengengrenze und ihre Kontrolle/Verteidigung ein integraler Bestandteil der Außen- und Sicherheitspolitik. So hat es auch der frühere französische Außenminister Hubert Védrine unlängst festgestellt, als er meinte, es gehe nicht generell mehr um Europa, sondern um die wichtigen gemeinsamen Aufgaben und dazu zählt auch die Kontrolle der Außengrenzen.

Auf der anderen Seite muss man sich fragen, was können die Staaten des äußeren Ringes machen, ohne den inneren Kern zu kompromittieren? Ich denke da an die undemokratischen Entwicklungen in Ungarn und Polen. Soll man sie einfach werken lassen und auf deren Gesetzgebung keinen Einfluss nehmen? Und was ist mit der Freizügigkeit der ArbeitnehmerInnen? Gilt sie überhaupt nicht mehr, nur innerhalb der äußeren Zone oder auch/nur zwischen den beiden Zonen? Und gibt es eine erhöhte Flexibilität bei der Gewährung von Sozialleistungen, um manchem Widerstand gegen die Freizügigkeit als solches den Wind aus den Segeln zu nehmen?

Grundsätzlich ist jedenfalls eine stärkere Zurückhaltung hinsichtlich des Regelwerks der EU an den Tag zu legen. Die „Boulämie“ an Regeln bis in viele Details hinein trägt sicher auch zur Skepsis gegenüber der EU bei. Gerade diesbezüglich sollten vielmehr die Wünsche nach Subsidiarität berücksichtigt werden. Ebenso ist festzuhalten, dass die Offenheit des „Kerneuropas“ für die Aufnahme aller Mitgliedstaaten immer gegeben sein.

Bei Kenntnis all dieser offenen Fragestellungen sollte man dennoch über eine Neugründung der EU mit zwei Geschwindigkeiten – wie sie auch der ehemalige belgischen EU Kommissar Étienne Davignon unlängst forderte – ernsthaft nachdenken. Wenn wir nicht durch die aktuellen Ereignisse überfordert werden wollen und sehenden Auges die großen Errungenschaften Europas nach dem zweiten Weltkrieg entschwinden sehen wollen, dann brauchen wir neue und grundsätzliche Überlegungen, wie das Europa der Zukunft gestaltet sein soll.