KULTUR UND EUROPA

Kann uns Kultur – oder besser gesagt Kunst – helfen Europa zu einigen? Nun es ist ja ziemlich eindeutig, dass die Kompetenzen der Europäischen Union in Sachen Kulturpolitik ziemlich eng gefasst sind. Und das hat auch seine guten Gründe. Aber dennoch könnte und sollte Kultur/Kunst für einen Kontinent, für den Kultur identitätsstiftend ist, eine große Rolle spielen. Schon seit Jahren geht die Berliner Initiative „Europa eine Seele geben“ dieser Fragestellung nach. Auch diesmal war ich wieder eingeladen aktiv an dieser „Suche“ teilzunehmen. Einerseits sollte ich eine Diskussion zwischen EU-Parlamentarier bzw. ParlamentskandidatInnen sowie JournalistInnen und Kulturschaffenden kommentieren und darüberhinaus an einem Arbeitskreis teilnehmen. 

Die prominentesten Politiker waren Elmar Brok (CDU), der langjährige Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses, der allerdings nicht mehr kandidiert und Yannis Varoufakis, der ehemalige griechische Finanzminister, der sich dann aber mit Premierminister Alexis Tsipras überworfen hat. Von der anderen Seite möchte ich die Schriftstellerin Kathrin Röggla und die Journalistin Noemi Kiss erwähnen. 

Wie kommt Politik und Kultur in der Peripherie an? 

Wir sollten bei unseren Überlegungen nicht einfach von der Gesellschaft schlechthin sprechen. Es existieren nämlich in jeder Gesellschaft, in jedem Land Zentren und Peripherien. Man mag den Ausdruck Peripherie als abwertend bezeichnen. Aber es gibt sie in der Realität. Leben in der Peripherie bedeutet primär eine soziale Isolierung bzw. Diskriminierung die vielfach mit einer geographischen übereinstimmt – aber nicht notwendiger Weise. 

Die regionale Peripherie ist vor allem durch deutlich geringere öffentliche Leistungen und Entfaltungsmöglichkeiten gekennzeichnet. Leider hat auch eine zu sehr auf Liberalisierung und finanzieller Effizienz orientierte Politik der EU zu den wachsenden Problemen in der Peripherie beigetragen. Die Ausdünnung der Verkehrsinfrastruktur und der Postdienste sind Beispiele dafür. Aber auch die Schließung von Gasthäusern, kleinen Nahversorgern, Schulen und Kirchen etc, haben das Leben in der Peripherie schwieriger werden lassen. Aber das ist sicher nicht die Schuld der europäischen Politik, eher teilweise der nationalen Politik und vieler technologischer Entwicklungen. Nicht zuletzt die Alternativen, die das Internet und die Social Media im Besonderen zu bieten haben, unterstütz diese Aushöhlung in der Peripherie.  

Tatsache aber ist, dass viele Menschen, die sich in der regionalen oder generell in einer sozialen Peripherie befinden, kaum durch kulturelle bzw. politische Aktivitäten erreicht werden. Die Proteste in verschiedenen Ländern und auch der politische Rechtsruck zeugt davon. Nun, Politik und Kultur könnten mehr tun, um auch an sozial schwächere und bildungsärmere Schichten heranzukommen, um sie auf die „europäische Reise“ mitzunehmen. 

Ein Beispiel, wie das gehen kann, zeigte die französische Künstlergruppe „Theatre Image Aigue“, die zwischen den Diskussionen auftrat. Sie demonstrierte, wie man aktuelle gesellschaftliche Phänomene und Konflikte darstellen kann. Ein kleiner (kleinwüchsiger) weißer Mann und eine Migrantin haben sich um die Brosamen (Sozialhilfe, Mindestsicherung etc.) aber auch um den Platz in der Gesellschaft gestritten und erfahren müssen, ohne Geld geht gar nichts. Auch untereinander zu streiten hilft keinen von beiden. 

All das wurde bloß durch Gesten und mit wenigen Worten ausgedrückt. Sicher hat es da die Politik schwieriger – wenn man nicht in die nationalistischen und ausländerfeindlichen Parolen der Rechten verfallen möchte. Dennoch Politik wird sich vermehrt auch um einfachere aber deswegen nicht populistische Darstellungen bemühen müssen, vielleicht mit der Kunst zusammen. 

Ist Heimat ein reaktionärer Begriff?

Eine Journalistin kritisierte gleich zum Anfang der Diskussion die Grünen für deren Rückgriff auf den – vor allem von den Rechten benutzen – Begriff der Heimat. Nun die politische Verwendung des Begriffs Heimat drückt ja als solches keine konservative oder gar reaktionäre Einstellung aus. Und ein unleugbares Problem ist, dass sich viele Menschen um ihre Heimat beraubt fühlen. Vor allem durch eine starke Zuwanderung aber genauso durch eine starke Abwanderung – insbesondere aus der Peripherie in die Zentren. Und damit werden die oben genannten Defizite der Peripherie noch verstärkt.

Was man in diesem Zusammenhang verstärkt thematisieren muss, ist eine ausgedehntere Definition von Heimat. Das ist ja in zunehmendem Maße nicht der Ort wo man geboren wurde, sondern wo man es sich auf Dauer oder über längere Zeit eingerichtet hat und sich sein Leben selbst gestalten kann. Damit schafft auch Migration die Möglichkeit sich eine neue Heimat zu schaffen. Aber Migration ändert auch die Heimat für diejenigen, die sich nicht auf Wanderung begeben. 

Heimat ist also nicht etwas „Angeborenes“ sondern etwas Erworbenes. Und dennoch können massive Veränderungen wie massive Ab- oder Zuwanderung das Heimatgefühl untergraben. Kultur und Politik sind aufgerufen darauf zu reagieren und diesen Verlust und die starken Verlustängste ernst zu nehmen, ohne in populistische Slogans und Heilsversprechen zu verfallen. Politik und Kunst sollten den Menschen helfen, sich die „neue“ Heimat zu erarbeiten. Das gilt für die „daheim“ Gebliebenen genauso wie für die Zugewanderten. 

Ein zunehmendes Problem ist die Bereitschaft vieler PolitikerInnen, aber leider auch BürgerInnen, neue Grenzen zu akzeptieren. Gerade für kulturschaffende Gruppen, die multinational und multikulturell zusammengesetzt sind, wird das europäische Auftreten extrem erschwert. Eine der Errungenschaften, die auch die EuropäerInnen zusammenschweißt, nämlich das leichte Überschreiten der europäischen Binnengrenze, wird zunehmend ausgehöhlt. Grenzen schaffen aber nicht mehr Heimat, sondern schaffen Illusionen der Sicherheit, führen uns zurück in ein gespaltenes Europa und berauben uns alle der europäischen Heimat. 

Eine andere Welt ist möglich

Ein fataler Ausspruch, der die Katastrophe, die der Finanzkapitalismus über uns gebracht hat, begleitete bzw. ideologisch eingeleitet hat, war der berühmte Ausspruch von Margret Thatcher: „There is no alternative“ (TINA). Dieses TINA zum ungebändigten Kapitalismus war fatal und hat der neo-liberalen Gegenrevolution ihren ideologischen Rückhalt gegeben. Auch heute leiden wir noch unter den Auswirkungen dieser letztendlich totalitären Ideologie. 

Es ist Aufgabe von Kunst und Politik sich um eine Kultur zu kümmern, die sich offen erweist für Vielfalt und die Suche nach Alternativen. Ja, Politik muss immer wieder nach Kompromissen suchen, da ist die Kunst freier und ungebundener auch radikale Alternativen zu entwerfen. Aber Politik müsste auf die alternativen und zum Teil provokanten Entwürfe der Kunst eingehen und sie als hilfreiche Herausforderungen ansehen und annehmen. Und da geht es sicher auch darum, die neuesten Formen des Kapitalismus zu hinterfragen. 

Wir erleben derzeit, dass der Finanzkapitalismus noch immer sehr bestimmend ist, dass aber die großen digitalen Tech-Konzerne, insbesondere aus dem Bereich der Social Media, zunehmend ihre Monopolstellung ausnützen. Da kommen wir natürlich auf ein sensibles und heikles Feld. Denn nicht nur haben sich viele junge KonsumentInnen der Social Media und online KäuferInnen an die Vorteile der digitalen Konsum- und Informationswelt gewöhnt. Gesetzliche Regulierungen der digitalen Konzerne können leicht als Einschränkungen der digitalen Freiheit interpretiert werden. Und so geschieht es auch immer wieder – vor allem seitens der Tech-Konzerne angesichts europäischer und nationaler Gesetzgebung. Dennoch dürfen wir uns nicht der Monopolmacht dieser Konzerne einfach beugen. 

Wir sollten mit Kunstschaffenden, für die Freiheit immer einen hohen Wert darstellt, nach Möglichkeiten der Beschränkung der digitalen Monopolmacht suchen. Europa hat eine Chance das zu tun, was weder die USA noch China tun wollen. Sie vertreten andere Modelle einer digitalen Gesellschaft. Die einen huldigen der Freiheit der Konzerne, die anderen benützen die digitalen Möglichkeiten zu einer rigiden, gesellschaftlichen Kontrolle. 

Erziehung im Rahmen der europäischen Identität

Ohne Zweifel kommt der Erziehung für die Erhaltung und Gestaltung eines Europas der Diversität und Offenheit eine große Bedeutung zu – darüber sprachen wir in einem der bunt zusammen gewürfelten Arbeitskreise organisiert von 4 jungen, engagierten Mitarbeiterinnen von Polis180 (aus Frankreich/Deutschland, Finnland, Litauen und Georgien). Der verstärkte Zugang zu kulturellen Institutionen und Einrichtungen ist eine Möglichkeit, ein nach vorne gerichtetes Europa zu erzielen. Aber finanzielle Anreize genügen nicht. Auch hier spielt das Angebot eine Rolle und vor allem für geographisch und sozial periphere Schichten muss man sich auch nicht-finanzielle Anreize überlegen. Vor allem müsste man schon im Kindergarten die Kinder auf eine multikulturelle und offene Gesellschaft vorbereiten. 

Allerdings ist das noch keine Garantie für eine pro-europäische Einstellung. Wie eine dänische Teilnehmerin unseres Arbeitskreises schilderte ist Dänemark trotzt langer Tradition in fortschrittlichen Erziehungsmethoden nach rechts gerückt und euroskeptischer geworden. Ängste überwiegen und überschatten die Erziehung zu Offenheit und Diversität. Daher müssen Politik und Kunst genau diese Ängste, die durch Medien und nationalistische PolitikerInnen geschürt werden, ansprechen und vermitteln wie man mit diesen Ängsten umgehen kann. 

Betrachtet man die europäische Geschichte so war sie abwechselnd von inneren Konflikten und Kriegen einerseits und von Versuchen zu dauerhaften Friedensschlüssen anderseits gekennzeichnet. Der Weg zur politischen Einigung war lang, mühsam und immer wieder von schweren Rückfällen durchbrochen. Zur europäischen „Identität“ gehören also auf Grund der Geschichte sowohl Einheit als auch – ethnische, religiöse, sprachliche und sonstige kulturelle – Diversität. Und die hängt auch immer wieder mit starken Kontakten zur Außenwelt zusammen. 

Kolonialisierung seitens europäischer Mächte und Zuwanderung nach Europa aber auch Wanderungsbewegungen innerhalb Europe haben diese Diversität bewirkt. Konflikte waren daher immer in Europa präsent und werden es auch weiterhin sein. Aber wie wir mit diesen Konflikten umgehen und ob wir sie produktiv verarbeiten, dass ist die zentrale Frage. Europa hat mit der EU eine positive Methode der Konfliktverarbeitung gefunden – wir sollten sie uns nicht zerstören lassen. Auch in einer Welt wo brutales Machtdenken wieder zugenommen hat und selbst bei Wahlen Zustimmung findet, sollten wir auf Bekenntnis zu Vielfalt und Kompromiss nicht verzichten.