MARSEILLE – LYON – ST. DENIS

Einige Anmerkungen zu einer „architektonischen“ Reise

Auf einer, wie üblich, ausgezeichnet organisierten und interessanten Reise des Wiener Architekturzentrums (AZW) besuchten wir diesmal Marseille und Lyon. In beiden Städten ist ein innerstädtischer Umstrukturierungsprozess im Gange. Und in beiden Städten spielt die Lage am Wasser eine große Rolle aber auch der wirtschaftliche Wandel. Die Häfen und die damit verbundenen Industrien in Marseille einerseits und in Lyon anderseits haben sich „erledigt“ oder wurden verlagert. Sie haben Platz für eine neue städtebauliche Entwicklung gemacht. Schon vorher hat der Krieg und die Besetzung durch Nazideutschland – vor allem in Marseille – tiefe Wunden geschlagen. Solche Veränderungen durch „externe“ Effekte vertreiben immer auch die Bevölkerung – als Arbeiter aus ihren Arbeitsstätten oder als Bewohner aus ihren Wohnungen.

MARSEILLE

Aber auch die Zuwanderung hat seine städtebaulichen Auswirkungen. In Marseille waren es nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem Menschen aus Algerien. Das waren weiße Franzosen „mit schwarzen Füssen“ (pied noirs), die dem Friedensschluss von 1962 nicht trauten, das waren Algerier, die Arbeit suchten bzw. Algerier, die für die Franzosen in Algerien arbeiteten (Harkis) und vielfach verfemt waren, weil sie für die Kolonialherren Dienste leisteten. Aber Migration ist nichts Neues. Man geht davon aus, dass Marseille eine griechische Gründung vor etwa 2600 Jahren ist. Schon die Gründung war also ein Ergebnis der Migration im Mittelmeer Raum. Und diejenigen, die Algerien verließen waren nicht die einzigen Zuwanderer der neuen Zeit. Zu den letzteren gehören auch die Armenier, die nach der Verfolgung durch die Osmanen gegen Ende des Ersten Weltkriegs – man kann da wahrscheinlich von einem veritablen Genozid sprechen – auch nach Marseille geflüchtet sind.

Nach allgemeinen Aussagen ist das Zusammenleben zwischen den verschiedenen Gruppen in Marseille durchaus friedlich. Sie leben eher in Parallelgesellschaften aber ohne Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen. Aber das heißt keineswegs, dass es keine sozialen Probleme gibt. Die Einkommensunterschiede, die oft parallel zu den ethnischen Unterschieden verlaufen, sind durchaus bemerkbar. Man würde auch zu viel von städtebaulichen Interventionen verlangen, würde man die Lösung der sozialen Herausforderungen erwarten. Sicher können und sollen die städtebaulichen Aktivitäten die sozialen Probleme nicht ignorieren sondern auch mithelfen, sie zu lösen. Aber oft werden die neuen Stadtteile und kulturellen Einrichtungen von vermögenderen Schichten bzw. den Bobos also intellektuellen und kosmopolitisch orientierenden Schichten angenommen. Die Arbeiter und sozial Schwächeren inklusive den Zuwanderern werden nicht bewusst angesprochen oder fühlen sich nicht angesprochen.  

Aber auch das ist nicht typisch für Marseille sondern stellt eine große Herausforderung in allen Städten dar. Das spricht nicht gegen städtebauliche und kulturelle Projekte sondern für mehr Überlegungen, wie soziale und andere am Rand der Gesellschaft befindliche Menschen angesprochen werden können. Bei der Wiener Donauinsel ist das bewusst oder unbewusst gelungen. Sie wird, wenn auch in unterschiedlichen Zonen von allen Bevölkerungsschichten, angenommen.

Ein anderes Problem ergibt sich auch aus den großen Investitionen in Verkaufsflächen in den umfangreichen ehemaligen Lagerhäusern. Es ist nicht leicht die abgewanderte Kaufkraft wieder in die Stadtzentren zurückzuholen, vor allem bei wachsender Ungleichheit und aufrechter Armut. Generell wird bei neuen Kaufgewohnheiten z.B. infolge des digitalen Einkaufens mehr Aufmerksamkeit den innerstädtischen Einkaufszonen zu widmen sein.

LE CORBUSIER

Ein Architekt, der sich sehr viel Gedanken gemacht hat, wie das Wohnen und das damit verbundene Leben angenehm gestaltet werden kann, war Le Corbusier. Seine Cite‘ Radieuse in der Nähe von Marseille ist eine solches Beispiel. Die Bewohnerinnen sollten all das was sie brauchten im Haus erhalten können. Eigentlich sollte das Wohnhaus wie eine Stadt funktionieren und die wichtigsten Geschäfte und Dienste anbieten: vom Kindergarten über die Bibliothek, dem Kino und den Geschäften bis zu Gästezimmer für BesucherInnen. Interessanterweise existiert auch heute noch einiges davon. Auch die Wohnungen selbst waren gemäß diesem Prinzip angelegt und ausgestattet. Le Corbusier wollte das ideale mehrgeschossige Wohnhaus für etwa 1500 Menschen schaffen. Und vieles ist daran heute noch bewundernswert – vor allem auch die architektonische Ausgestaltung im Inneren aber besonders auf der Dachterrasse.

(Im Übrigen verschafft auch der Kirchenraum im von Le Cobusier gestalteten Kloster La Tourette in der Nähe von Lyon das Gefühl der Großzügigkeit und der Geborgenheit)

Leider sind aus den Mietwohnungen heute meist Eigentumswohnungen geworden und damit einer höheren Einkommensschicht „vorbehalten“. Das ist aber nicht dem Architekten vorzuwerfen. Anzuerkennen ist die Einstellung, möglichst viel an Dienstleistungen im Haus selbst unterzubringen und dabei auch an soziale und kulturelle Einrichtungen zu denken. Hinzuzufügen ist, dass auch Außenstehende -gegen Bezahlung – diese Einrichtungen benützen können. Manchmal ist all das heute bei neuen Wohnhausanlagen weniger der Fall als in der Cité Radieuse.

LYON

Hat Marseille seine neue städtebauliche Entwicklung vor allem entlang dem Mittelmeerhafen vorangetrieben und dabei auch seine Funktion als Kulturhauptstadt im Jahre 2013 genützt, so hat Lyon seine Lage am Zusammenfluss der Rhone und der Saône genutzt. Das hat auch dem Projekt seinen Namen gegeben: confluence. Anstatt der dazwischen liegenden Hafen- und Industrieanlagen hat seit einigen Jahren eine städtebauliche Entwicklung eingesetzt die Wohnen, Arbeiten, Studieren, Kultur und Einkaufen neu zusammenbringt. Für Österreich interessant ist, dass die Wiener Gruppe COOP Himmelblau mit dem Bau eines Museums der Zivilisationen (Musee de Confluence) einen ersten Schritt – wenngleich am Rand des Gebietes – für die Entwicklung gesetzt hat.

In der ersten Phase der städtebaulichen Entwicklung im Kerngebiet hat man eher auf diverse Architekten und architektonische Konzepte gesetzt, jetzt versucht man unter Anleitung der Architekten Herzog & De Meuron eher ein stimmiges „einheitliches“ Bild zu entwerfen. Was jedenfalls auffällt ist, wie dieses im Wesentlichen neu gestaltete Gebiet von der Bevölkerung angenommen wird. Allerdings handelt es sich um kein Randgebiet sondern das neu gestaltete Gebiet ist gut mit den bestehenden Zentren verbunden und an sie verkehrsmäßig angebunden.

DIE IDEALE STADT

Interessant war auch der Besuch in einer Sozialbausiedlung die in der Zwischenkriegszeit von Tony Garnier entworfen wurde. Toni Garnier war einer jener Architekten, die die „ideale“ Stadt entworfen haben und sie auch in Ansätzen versuchten zu entwickeln. Das Konzept war noch von der Idee einer nach Funktionen getrennten Stadt getragen. Die Industrie sollte weit von den Wohngebieten angesiedelt werden, Gesundheit vor allem auch durch Sport und Kultur standen im Vordergrund. Anstatt Kirchen sollten die entsprechenden kulturellen und sportlichen Einrichtungen für die Schaffung des Neuen Menschen sorgen.  

In diesem Sinn widerspricht das Konzept der nach Funktionen getrennten Stadt bis zu einem bestimmten Ausmaß der Cité Radieuse die doch versucht, einiges im allerdings groß angelegten Wohnhaus zu realisieren. Was den Grundriss der Wohnungen angeht ist allerdings der in der Lyoner Anlage – für mich – überzeugender wenngleich konventioneller.

Es zeigt sich auch an diesem Beispiel, dass ein revolutionäres und utopisches Denken durchaus sinnvoll ist aber auch, dass eine Verwirklichung solcher utopischer Vorstellungen oftmals in die Irre führen würden. Bei der Entwicklung der neuen kleinteiligen und von Dienstleistungen getragenen Wirtschaft wäre eine solche, nach Funktionen getrennte, Stadt völlig falsch. Heute geht es eher um Mischung von Funktionen (und Ethnien etc.) als um Trennung und Abschottung. Vor allem geht es auch darum, die Wege für die BewohnerInnen kurz zu halten.

Während des  Besuches in den beiden Städten hat sich immer wieder die Frage gestellt ob und inwiefern Architektur und Städtebau die Menschen glücklicher machen können. Man sollte auch bei der Architektur keinen allumfassenden und zu übertriebenen Anspruch stellen. So wie Wirtschafts- und Sozialpolitik kann auch Architektur nicht alles lösen, aber einen nicht unwichtigen Beitrag liefern. Entscheidend ist, dass sich AuftraggeberInnen und ArchitektInnen überlegen, wie sie aktuelle Herausforderungen aufnehmen und in Ansätzen lösen können. In diesem Sinn kann und soll man auch über Schönheit in der Architektur sprechen, wie es auch der Festredner bei der 25 Jahr Feier des AZW, Kaye Geipel, von der Zeitung Bauwelt gemeint hat. Denn auch Schönheit, so umstritten sie sein kann, kann zum angenehmen und guten Leben beitragen.

ST. DENIS

Heute geht es dabei nach wie vor um die soziale Frage, die aber mit den Herausforderungen des Zusammenlebens von Menschen verschiedener Kulturen und Religionen verbunden ist. Das war bei meinem privaten „Nachbesuch“ in Paris, vor allem im Pariser Vorort St. Denis, klar ersichtlich. Im Zentrum von St. Denis befindet sich die Grabeskirche der französischen Könige. Gleich daneben allerdings ist ein eher heruntergekommenes Einkaufszentrum mit einer U Bahnstation. Die Bevölkerung ist geprägt von Zuwanderern aus dem arabischen und schwarz-afrikanischen Raum. In meinem kurzen Aufenthalt wurde ich von zwei Frauen mit Kindern angebettelt – was die soziale Situation deutlich machte. Und die Nähe der Grabeskirche der französischen Könige ist angesichts der zugewanderten und armen Bevölkerung geradezu grotesk. Da besteht keinerlei Beziehung.  

Ich weiß nicht was die BewohnerInnen von St. Denis über die französischen Könige wissen bzw. wissen sollten. Aber was wissen die französischen SchülerInnen vom französischen Kolonialismus und der Unterdrückung der Vorfahren der heutigen Einwanderer? Aber immerhin beschäftigen sich französische Kultureinrichtungen, wie das Museum am Quai Branly, mit den außereuropäischen Kulturen und derzeit auch damit, wie Maler in der Vergangenheit die Kolonien und ihre Menschen dargestellt haben. Da kommt dann einerseits die schöne Wilde aber auch der herrische Kolonialherr zum Ausdruck, der den Wilden die Zivilisation brachte. Beide müssen wir voneinander lernen. Die christliche Zivilisation war nicht immer sehr christlich und oft auch nicht zivilisiert. Aber kein Volk ist von Fehlern und Missachtung der anderen gefeit.

Was aber Stadtentwicklung und Architektur leisten müssen, ist das heutige Zusammenleben so zu gestalten, dass sich alle BewohnerInnen darin ein lebenswertes Leben einrichten können. Da ist sicher Wien weit vorne in seinen Überlegungen und Planungen. Aber man sollte nie auf andere überheblich hinunterschauen und es bedarf immer wieder neue Anstrengungen.