Nach den EU-Wahlen

Die Wahlen zum Europäischen Parlament vom 25. Mai haben mehrere signifikante Ergebnisse gebracht. Entgegen vielen Prognosen ist die Wahlbeteiligung nicht gesunken, sondern leicht gestiegen. Aber gemäß den allgemeinen Erwartungen haben die Populisten und Rechtsextremen zugelegt. Allerdings gilt dies nicht für alle Länder. So hat zum Beispiel Gert Wilders nicht gut abgeschnitten, und auch die Bäume der FPÖ sind nicht in den Himmel gewachsen. Aber ein Viertel der Stimmen für die französische Front National und der Wahlsieg der dänischen Rechten, aber auch das extrem gute Abschneiden der britischen UKIP und von Beppe Grillo in Italien, all das sind betrübliche Konsequenzen des Unmuts der Bevölkerung.

Dass der Vormarsch der Rechten nicht in allen Mitgliedsländern und vor allem nicht in gleicher Stärke stattfand zeigt, dass er nicht vordergründig ein europäisches Phänomen ist. Natürlich hat auch die Unzufriedenheit mit dem Europa von heute damit zu tun. Aber viele unterschiedliche nationale Ursachen spielen eine große Rolle. Die europäische Dimension hat nationale Gegebenheiten verstärkt.

Ebenso entscheidend ist das Gefühl, angesichts der globalen Entwicklungen immer weniger „Herr im eigenen Haus“ zu sein. Viele Menschen wollen die geänderten Machtverhältnisse nicht zur Kenntnis nehmen. Und überdies wird die Globalisierung nur als Gefahr und nicht auch als Chance wahrgenommen. Dass sie als solches unvermeidlich ist, wird negiert und daher werden auch konkrete Ansätze, sie zu verändern und zu humanisieren, nicht als Alternative wahrgenommen, sondern nur die radikale Ablehnung.

Unsere Reaktion auf das Erstarken der populistischen und extremen Rechten kann weder das Negieren der Ursachen noch das Nachgeben gegenüber ihren „Ideen“ sein. Die Botschaft vieler WählerInnen müssen wir ernst nehmen, jedenfalls soweit es sich nicht um mit der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unvereinbare Vorstellungen handelt. Aber anderseits dürfen wir uns das Projekt Europa nicht zerstören lassen. Die Aufbauarbeit unserer VorgängerInnen und von uns selbst muss fortgeführt werden. Die wirtschaftliche und soziale Situation Europas und die regionale und globale Sicherheitslage verlangen heute auf diesen Gebieten mehr und nicht weniger Europa.

Und da bekommen Europas Sozialdemokraten und die mit ihnen verbündeten/verwandten Kräfte eine große Aufgabe. Natürlich war auch ich darüber enttäuscht, dass wir nicht an Mandaten im EU-Parlament zulegen konnten. Die Europäische Volkspartei hat zwar etwa 20 Prozent weniger an Mandaten, die S&D-Fraktion ist etwa gleich geblieben. Wir waren zu sehr in verschiedenen Regierungen vertreten und wurden auch – oft zu recht – mitverantwortlich für die Krise gemacht. Insofern ist es sogar verwunderlich, dass wir als Fraktion in etwa gleich stark geblieben sind. Dennoch, dass wir aus den Krisen in Spanien und Portugal für uns politisch nicht mehr herausholen konnten, ist verwunderlich, aber auch unverzeihlich.

Das nächste besondere Wahlphänomen ist der Wahlkampf selbst. Noch nie war er so europäisch, wenngleich die nationalen Beeinflussungen nach wie vor unangemessen hoch sind. Und überdies haben nicht alle nationalen Parteien den Wahlkampf ernst genommen. Trotzdem, die Tatsache, dass es Spitzenkandidaten der einzelnen Parteifamilien gegeben hat, hat diese Wahl besonders ausgezeichnet. Besonders der Wahlkampf, den Martin Schulz geführt hat, hat bei vielen Linken, aber auch Liberalen, Christdemokraten etc. tiefe Spuren hinterlassen.

Aber wie geht’s nun weiter? Alle konstruktiven Fraktionen haben klar erklärt, dass Kommissionspräsident nur einer der Kandidaten werden kann. Niemand sollte von den Regierungschefs an den Kandidaten vorbei aus dem Hut gezaubert werden können. Und der Kandidat der stärksten Fraktion sollte als erster versuchen, eine Mehrheit im EU-Parlament zu bekommen. Da ist es dann verwunderlich, dass die Sozialdemokraten Jean Claude Juncker als Kandidat der geschmolzenen, aber nach wie vor größten Fraktion aufgefordert haben, sich um eine Mehrheit im EU-Parlament zu bemühen, aber die Europäische Volkspartei Juncker keine klare Unterstützung gegeben hat.

Manchen von ihnen ist er zu europäisch, und das trifft sicher auch auf Premierminister Cameron zu. Es ist zwar eigenartig, dass jemand für die Position des EU-Kommissionspräsidenten abgelehnt wird, weil er zu europäisch ist. Aber so ist das nun mal in der heutigen EU. Nun werden viele andere Namen genannt, und für Juncker wird auch der Posten des EU-Ratspräsidenten ins Spiel gebracht. Die deutsche Bundeskanzlerin Merkel hat sich zwar für Juncker als ihren Kandidaten ausgesprochen, aber dann doch nicht auf eine Entscheidung der Europäischen Volkspartei für Juncker gedrängt. Und von Juncker selbst hört man immer wieder, dass er ja ohnedies viel lieber Ratspräsident, also Vorsitzender der Konferenz der Staats- und Regierungschefs werden möchte.

Jedenfalls ist dieses Gezerre nach den EU-Wahlen beschämend. Vielleicht nützt die Kritik an der Unentschlossenheit der Regierungschefs und vor allem an Frau Merkel – auch durch die Medien –, dann doch noch Juncker zum Kommissionspräsidenten zu machen. Sicher ist dies allerdings nicht. Und daher ist auch nicht sicher, welche Rolle Martin Schulz im zukünftigen Gefüge der europäischen Konstruktion spielen kann und spielen wird. Sicher könnte er in einer von Juncker geführten Kommission die wichtige zweite Rolle spielen. Mit einem bedeutenden Dossier ausgestattet und als Vizepräsident der EU-Kommission könnte er der EU (Kommission) auch die notwendigen Veränderungen verpassen.

Es bleibt also spannend, aber wichtig sind nicht nur die personellen Entscheidungen, sondern auch, ob die führenden Personen willens und fähig sind, die Kritik der WählerInnen ernst zu nehmen, die Arbeitslosigkeit und die sozialen Ungerechtigkeiten zu bekämpfen aber auch die EU global besser aufzustellen. Leicht wird diese Aufgabe nicht sein, angesichts der vermehrten Nationalisten im EU-Parlament. Aber die europäischen Fraktionen im Zentrum müssen eine ernste, transparente und sachliche Auseinandersetzung um die Zukunft Europas führen. Und nach ausgiebiger Diskussion müssen sie sich auch trauen, Entscheidungen zu treffen. Darüber hinaus müssen sie ihre Anliegen und Beschlüsse auch besser kommunizieren – mit besseren Argumenten und einer verständlicheren Sprache.

Bald jährt sich das Attentat von Sarajevo und der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. Der blinde Nationalismus und der Versuch der verschiedenen europäischen Staaten, sich über die anderen zu überhöhen, waren für diesen Krieg mitverantwortlich. Und der Nationalismus starb leider nicht mit dem Ende dieses Krieges. Hitler übersteigerte ihn sogar und verband ihn mit seinem tödlichen Rassismus. Es ist furchterregend, dass sowohl Nationalismus als auch Rassismus in manchen Kreisen heute wieder politisch korrekt wurden.

Wir brauchen eine offene Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen. Und die müssen wir in allen Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene führen. Aber sie darf nicht nur eine moralische und abstrakte bleiben. Europa muss Resultate liefern. Die hohe Arbeitslosigkeit und die steigende Ungleichheit dürfen nicht länger hingenommen werden. Und für die Zuwanderung müssen klare europäische Regelungen gefunden werden, die sowohl von humanitären Grundsätzen getragen sind, als auch den Menschen das Gefühl geben, nicht Opfer eines blinden und die soziale Sicherheit gefährdenden Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt zu werden.