SOZIALDEMOKRATIE UND EUROPA

Ende November lud die Universität von Fribourg (Schweiz) – konkret Prof. Gilbert Casasus – zu einem Kolloquium und einer öffentlichen Abenddiskussion über die Zukunft der europäischen Sozialdemokratie ein. Die Teilnahme an der Podiumsdiskussion war für mich die Gelegenheit, einige Gedanken zu diesem Thema zu verfassen. Dabei bin ich weder pessimistisch noch allerdings naiv. Es bedarf vieler Auseinandersetzungen und Bewältigungen von Konflikten. Davor sollte sich die Sozialdemokratie nicht scheuen. 

Hannes Swoboda Sozialdemokratie und Europa 001

Und natürlich gibt es neben den generellen Ursachen der sozialdemokratischen Krise – die hier im Mittelpunkt stehen – auch jeweils hausgemachte, nationale Besonderheiten. Und die Wahlniederlagen der vergangenen Jahre führen auch zu neuen Richtungsstreitereien und internen Kämpfen um die Auswege aus der Krise. Aber man soll sich nicht täuschen, da es vorrangig strukturelle Faktoren sind, die für die Krise verantwortlich sind, bringen bloße personelle Änderungen und einzelne Maßnahmen keine Lösung. Da müssen sich die Verantwortlichen mehr überlegen. 

Hannes Swoboda Sozialdemokratie und Europa 002

Erfolgreiche politische Kräfte

Ohne Zweifel steckt die – europäische – Sozialdemokratie in einer Krise. Da gibt es viele Faktoren, die dafür verantwortlich sind. Um näher an die wesentlichen Ursachen heranzukommen, ist es von Vorteil die derzeit erfolgreichen Bewegungen und Parteien zu beobachten und die Ursachen deren Erfolge zu erörtern: vor allem die rechten bis rechtsextremen Parteien und neuerdings die Grünen. Warum stecken diese nicht in einer vergleichbaren Krise? Eine unmittelbare Antwort ist, dass beide, die Rechten und die Grünen Antworten auf aktuelle Ängste geben. Dabei sind es Ängste, die sie zum Teil selbst mitverursacht haben (bei den rechtsextremen Bewegungen) bzw. bedrohliche Entwicklungen, auf die sie die BürgerInnen aufmerksam gemacht haben (bei den Grünen). 

Da gibt es auf der einen Seite die Angst davor, durch Zuwanderer, Flüchtlinge und allgemein durch die Globalisierung benachteiligt und an den Rand gedrängt zu werden. Die Zahlen über die Einkommensverteilung bzw. über die steigende Kluft zwischen urbanen und ländlichen Gebieten belegen eine gewachsene Ungleichheit. Auch wenn diese mit den von den Rechten als Ursachen angegebenen Faktoren nicht oder nur zu geringem Teil zusammenhängen, die Wahrnehmung der BürgerInnen scheint die „Analyse“ der Rechten zu bestätigen. Abschottung, die Trockenlegung von Fluchtrouten und neue Grenzkontrollen finden so in breiteren Kreisen Zustimmung. Das trifft vor allem auf ältere Bevölkerungsschichten zu. 

In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die Immigration, die ja vor allem von der Wirtschaft gefördert wurde, die aber auch für die Erbringung vieler sozialer Dienste unentbehrlich ist, dem Anwachsen des Rechtspopulismus sehr förderlich war. Vor allem, da die Sozialdemokratie nicht offensiv die Migration erklärt und begründet hat und keine wirksame Integrationsstrategie angeboten hat. Und die angestiegene Fluchtbewegung nach Europa, vor allem 2015/2016, hat die Angst vor einem Überrennen durch Ausländer noch verstärkt. Und wie gesagt, die Rechte hat nichts unterlassen, um diese Ängste zu schüren.

Auf der anderen Seite gibt es die Furcht vor der Klimakatastrophe. Der langfristige Anstieg der Temperatur, Hitzewellen und zunehmende Trockenheit sind Belege für eine Verschlechterung der Lebensqualität. Ein Teil der BürgerInnen ist von der Notwendigkeit einer radikalen Trendwende überzeugt. Vor allem jüngere Leute fühlen sich von der traditionellen Politik enttäuscht und wählen zunehmend grün. Sie wollen für sich und ihre Kinder eine lebenswerte Umwelt.

Die WählerInnen von Rechts bzw. Grün sind nicht immer von den einzelnen, von „ihren“ Parteien vorgeschlagenen Maßnahmen überzeugt. Aber sie sind von der Definition der gefährlichen, vergangenen (Fehl-)Entwicklung und von der neuen Erzählung für die Zukunft überzeugt. Die beiden Bewegungen offerieren jede für sich sowohl eine für viele überzeugende Analyse der Fehlentwicklungen als auch ein Konzept, das die Bekämpfung dieser Fehler und notwendige Korrekturen in Aussicht stellt. In gewissem Sinn sind beide single-issue Bewegungen wobei allerdings diese einzelnen Themen jeweils eine große Breite haben. 

Und die Sozialdemokratie? 

Die Sozialdemokratie hat es da schwer einen ausreichenden Platz für sich selbst zu finden. Der Rechten ist es in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Radikalität gelungen, die soziale Frage von einer Auseinandersetzung zwischen Arm und Reich bzw. sozial schwach und sozial stark in eine Auseinandersetzung zwischen „uns“ bzw. „wir“ und die „anderen“ zu transformieren. Die Oberen sind jetzt nicht unbedingt die Reichen, sondern die – kosmopolitischen – Eliten, die den „anderen“ (Zuwanderer, Flüchtlinge etc.) die Tore aufgemacht haben – zum Schaden der „Einheimischen“. Angesichts des Erfolgs dieser Transformation der sozialen Frage in eine nationale bzw. ethnische Frage kann die Sozialdemokratie nicht so schnell eine überzeugende, alternative Erzählung entwickeln.

Hannes Swoboda Sozialdemokratie und Europa 003

Trotzdem muss die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt gerückt werden. Aber es geht dabei nicht nur darum, die wachsende Kluft bei den Einkommen und Vermögen zu thematisieren, sondern auch um die Thematisierung von regionalen Diskrepanzen und Diskriminierungen. Ziel muss die Angleichung von Lebenschancen sein.  Das kann und wird der Markt nicht schaffen. Da braucht es öffentliche Investitionen und Dienstleistungen. Da geht es um verstärkte Investitionen in die Infrastruktur aber vor allem auch ins Bildungssystem. 

Bildungschancen spielen eine Schlüsselrolle für die Erzielung von mehr Gleichheit und Gerechtigkeit. Allen Kindern die gleichen Chancen zu geben muss ein besonderer Schwerpunkt der politischen Argumentation und der Politik sein. Dabei geht es nicht nur um individuelles Glück, sondern auch um die optimale Nutzung des intellektuellen und handwerklichen Potentials für das Wohl der Gesellschaft. 

Es geht grundsätzlich darum, den Menschen eine Erzählung, ein Narrativ zu präsentieren und zwar mit einer umfassenden Konzeption, die den Zusammenhalt und den Nutzen der Gesellschaft betont. Dabei sind die individuelle Entfaltungsmöglichkeit und die Entwicklungschancen für die Gesellschaft in Einklang zu bringen. Das war ja auch das Erfolgsrezept der Sozialdemokratie in der Vergangenheit. Allerdings bewirkt der Erfolg der Sozialdemokratie auch eine Schwächung heute. Die Individualisierung der Gesellschaft nicht zuletzt durch den wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg  vieler  aus der traditionellen Arbeiterklasse schwächt das Denken in sozialen Kategorien. 

Und das nimmt die Rechte zum Anlass sich als die Partei des „kleinen Mannes“ darzustellen,  Das worauf die Rechte hinauswill, ist die Spaltung der Gesellschaft, um daraus zu profitieren. Und die Grünen fragen zu wenig wie die Lasten einer Transformation der Gesellschaft und Wirtschaft auf die unterschiedlichen Schichten verteilt werden kann. Die soziale Gerechtigkeit wird zu wenig thematisiert. 

Letztendlich unterbewerten die beiden derzeit erfolgreichen Bewegungen die Frage der sozialen Gerechtigkeit und Lastenverteilung. Und die Rechte trägt sogar oft zur Verstärkung der Ungleichheit bei. Die Sozialdemokratie muss hier gegenhalten und soziale Ungleichheiten in den verschiedenen Formen anprangern und Korrekturen einfordern. Dabei ist der Nutzen für die Einzelnen und für die Gesellschaft insgesamt im Auge zu behalten. 

Stolpersteine für ein sozialdemokratisches Narrativ

Allerdings sollte man die Schwierigkeiten dabei nicht übersehen. Der fortgeschrittene Individualismus in unserer Gesellschaft kompliziert die Suche nach überzeugenden Lösungen für die Mehrheit. Es gibt nicht mehr solche sozialdemokratischen Milieus, wie es sie innerhalb der klassischen Arbeiterschicht gab. Und vielfach sind es da die zugewanderten Arbeiter, die kaum einen Bezug zur nationalen Politik haben und manchmal nicht einmal wahlberechtigt sind. 

Angesichts dieser neuen viel stärker individualisierten gesellschaftlichen Gruppen, bedarf es intensiver Diskussionen und geschickter Überzeugungsarbeit. Vor allem die Jugend sieht oft die Konsequenzen ihrer Konsum- und Nutzungsentscheidungen für den sozialen Zusammenhang nicht. Die weite Verbreitung von Airbnb erhöht oft die Mieten in großen Städten und bewirkt die Verdrängung von sozial Schwächeren an den Rand der Städte oder außerhalb. 

Uber und andere Fahrangebote unterbieten die Tarife der regulären und sozial abgesicherten Taxi Fahrer. Die Beschränkungen dieser privaten, oftmals nicht regulierten Angebote durch den Staat wird sicher von vielen Jungen als unnötige Schikane, die auch ihre Freiheit einschränkt, gesehen. Auch die zunehmenden Einkäufe – inklusive Rücksendungen – über Internet haben oft negative Konsequenzen für das innerstädtische Leben und die Umwelt.

Ähnlich können die Überlegungen der Regulierung oder gar Zerschlagung der großen Konzerne im Social Media Bereich gesehen werden. Sie haben es verstanden, die Nutzer zu ihren Verbündeten beim Ausbau ihrer Monopolstellung zu machen. Und viele Menschen geben – ohne es zu hinterfragen – ihre Daten an solche Unternehmungen ab, die sie dann oft unkontrolliert zu ihrem eigenen Profit verwerten. Regulierungen wie sie die Europäische Union erst unlängst beschlossen haben sind nur mühsam durchzusetzen.

Parallel zur sozialen Frage muss die Sozialdemokratie – wie es auch in ihrem Namen zum Ausdruck kommt – immer die Demokratie als politisches Prinzip in den Vordergrund rücken. Dabei geht es nicht nur um periodische Wahlen, sondern auch um Transparenz und um die Bekämpfung jeder Form der Korruption. Aber wie gesagt, es geht auch um eine kritische Auseinandersetzung mit den sozialen Medien und neuen Formen der sozialen Kontrolle durch manche dieser Medien. 

Die Marktbeherrschung durch einige – vor allem US-amerikanische und zunehmend auch chinesische – „soziale“ Medien sollte nicht einfach hingenommen werden. Sie bei Machtmissbrauch zu bestrafen ist gut, es braucht aber auch überzeugende europäische Gegenstrategien und Alternativen. 

Die europäische Dimension 

Generell bedarf es neben der Ahndung von Wettbewerbsverletzungen aber auch einer nationalen und vor allem europäischen Industriepolitik, die technologische Entwicklungen nicht den anderen (vor allem USA und China) überlässt. Da muss es ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen Verhinderungen von Wettbewerbsverzerrungen einerseits und einer aktiven Unterstützung von Industrie und Innovationen in Europa anderseits geben. 

Für all diese Fragen bedarf es überzeugender nationaler Strategien. Aber sie haben angesichts globaler Einflüsse ihre Grenzen. Europe muss immer stärker ein Feld der politischen Auseinandersetzung und der Suche nach Lösungen werden. Eine Migrationsstrategie, die die wirtschaftlichen Interessen, eine humane Flüchtlingspolitik und soziale bzw. kulturelle Interessen der „EuropäerInnen“ in Einklang bringt, ist eine dieser wichtigen Politikfelder. Man wird sich aber auch etwas hinsichtlich der europäischen Binnenmigration überlegen müssen. Dabei stellen die Abwanderungsregionen ein größeres Problem dar als die Gebiete mit hoher Zuwanderung. Die ersteren sind Regionen einer starken Resignation und Unzufriedenheit auf Grund einer Unterversorgung mit öffentlichen Einrichtungen im Erziehungswesen, im Bereich der Gesundheit etc. Das ist Ausdruck einer europäischen Ungleichheit. 

Bezüglich der Klimapolitik gilt es Wege zu finden, dass unsere Handelspartner nicht die Vorreiterrolle Europas ausnützen. Auch Zölle, die ökologisch unfairen Handel unterbinden können, müssen in Betracht gezogen werden. Und innerhalb Europas ist für einen sozialen Ausgleich der Belastungen der sozial Schwachen zu sorgen. Da sollten sich die Mitgliedsländer der EU auf gemeinsame Entlastungskonzepte einigen, selbst wenn sie national umgesetzt werden. 

Auch die europäischen Regeln hinsichtlich der Budgetdefizite sind so anzupassen, dass sie wichtige Investitionen in die Infrastruktur erlauben. Wie immer wieder von EZB Präsident Draghi festgestellt und von der neuen Präsidentin Lagarde bestätigt wurde, sind verstärkte öffentliche Investitionen die Voraussetzungen, von der Niedrigzinspolitik wegzukommen.  Sie wären sogar eine bessere Förderung des Wachstums als die derzeitigen extrem niedrigen Zinsen mit ihren nachteiligen Konsequenzen, nicht nur für Sparer sondern auch als Motor für die Flucht in Immobilien etc. 

Was den von der neuen Kommissionspräsidentin erwähnten Schwerpunkt der Digitalisierung betrifft so muss die Sozialdemokratie einen „digitalen Humanismus“ einfordern wie in Nathalie Weidenfeld und Julian Nida-Rümelin in ihrem gleichnamigen Buch skizziert haben. Die Digitalisierung muss zum Wohl der Menschen eingesetzt werden. Sie kann und soll ihn nicht ersetzen aber durch entsprechende Kooperation unterstützen und helfen.

Viel von dem, was Sozialdemokraten umsetzen wollen, benötigt – zumindest auch(!) – eine europäische Dimension. Allerdings gibt es auch innerhalb der europäischen Sozialdemokratie gravierende Einstellungsunterschiede. Je nach nationalen Sonderfaktoren und historischen Entwicklungen wird der sozialen Frage, der Wahrung der Demokratie im umfassenden Sinn und der Rolle des europäischen Projekts eine unterschiedliche Bedeutung zugemessen. Dennoch ist die europäische Auseinandersetzung eine wichtige Dimension jeglicher sozialdemokratischen Politik.