Türkei: Europa oder Shanghai Five

Auch diesmal wurde ich wieder gefragt, wie oft ich schon Istanbul besucht habe. Ich kann nur immer antworten: sehr oft – privat und offiziell. Auch diesmal war es ein offizieller Besuch. Unsere Fraktion hat gemeinsam mit der deutschen Friedrich Ebert Stiftung  eine Tagung zum Verhältnis der EU zur Türkei und insbesondere zur Kurdenfrage veranstaltet. Geladen waren VertreterInnen  verschiedender NGOs, so auch der Gezi-Park Bewegung, die vor einigen Monaten vor allem im Stadtgebiet von Istanbul massiv gegen Erdogans Politik protestiert hat. Dabei ging es nicht nur um die rückwärtsgewandten und massiven baulichen Eingriffe in das Stadtbild, sondern auch generell gegen den autoritären Führungsstil und die islamistischen Eingriffe in das Privatleben.

Erdogan möchte den Frauen „vorschreiben“ wie viele Kinder sie bekommen sollen, das Zusammenwohnen von Studenten und Studentinnen verbieten und zuletzt wird auch die Koedukation in Schulen in Frage gestellt. Geht es nach Erdogan, so sollen seine moralischen Vorstellungen von der gesamten Bevölkerung übernommen werden. Und die große Zahl der Aleviten werden noch immer nicht als vollwertige Muslime anerkannt.

Auch international geht Erdogan eigene Wege. Hinsichtlich Syriens gehen viele Beobachter davon aus, dass sich Erdogan auch vor Bündnissen mit den sunnitischen Djihadisten nicht scheut, um den „schiitischen“ Präsidenten Assad zu verjagen. Ich habe kein Mitleid mit und keine Sympathie für Assad, aber auch keine Sympathie für die radikalen sunnitischen Djihadisten. Inzwischen hat es sich Erdogan auch mit den ägyptischen Militärs verdorben und der türkischen Botschafter wurde aus Kairo wegen permanenter Einmischung ausgewiesen. Auch ich habe meine Zweifel und meine Kritik am Militärputsch in Ägypten, aber Erdogan hätte lieber die Muslimbrüder und Präsident Morsi zur Mäßigung ermahnen sollen.

Inzwischen hat Erdogan eine neue Pirouette gemacht. Bei seinem Besuch beim Putin forderte er diesen auf, ihm den Weg nach „Shanghai Five“ zu eröffnen. Er möchte sich lieber mit so demokratischen Staaten wie Russland, China, Kasachstan etc. verbünden als mit der Europäischen Union. Und das einen Tag, nachdem die Ukraine die Unterzeichnung des Assoziierungsabkomens mit der EU unter Druck Moskaus abgesagt hat.

Erdogans Politik ist zunehmend islamistisch geprägt, erratisch und widersprüchlich. Da braucht es eine klare, gradlinige und fortschrittliche Politik. Sie sollte die Trennung von Staat und Religion festschreiben sowie die Vielfältigkeit der Religionen, Kulturen und Lebensweisen anerkennen. Das wäre und ist die Aufgabe der größten Oppositionspartei der CHP. In Istanbul habe ich in und am Rande unserer Tagung etliche Funktionäre der CHP getroffen, die für diese Werte stehen. Das hat mir Vertrauen gegeben, das aus der CHP eine neue politische Bewegung entstehen kann, die das Erbe von Kemal Attatürk antritt, ohne ihn zu einer unverrückbaren Ikone zu stilisieren. 75 Jahre nach seinem Tod muss man seinen Grundsätzen dadurch gerecht werden, dass man sie flexibel und der heutigen Zeit angepasst, umsetzt. Die Einheit der Türkei muss mit der inneren Vielfalt und Multikulturalität des Landes verbunden werden.

Zur gleichen Zeit der Tagung der S&D Fraktion fand auch eine Tagung des „Atlantic Council“ eines US-amerikanischen Think Tanks statt. Ich konnte daher deren Einladung zu einer Paneldiskussion über die globale Rolle der EU annehmen. Darüber hinaus baten sie mich noch spontan an einer Diskussionsrunde mit zwei ehemaligen Sicherheitsberatern – von Präsident Clinton und Präsident Bush – über Syrien teilzunehmen. In einer Diskussion zuvor hat ein ehemaliger Botschafter der USA in der Region gemeint, die USA müsse gegenüber dem feindlichen Iran hart bleiben und sich mit Saudi -Arabien  wieder versöhnen.

Ich widersprach vehement dieser naiven Schwarz – Weiß Malerei, der Iran ist prinzipiell böse und feindlich und Saudi -Arabien prinzipiell der Verbündete der USA. Denn heutzutage sterben mehr Menschen durch einen von den Saudis unterstützen, als durch den schiitischen Terrorismus. Beides sollten wir ablehnen und bekämpfen. Aber wir bekommen Frieden in der Region nur durch eine Beteiligung aller Gruppierungen an der Lösung des Syrienkonflikts. Und da sollte auch die Türkei eine an einer politischen Lösung orientierte Politik an den Tag legen.

Ich geißelte aber auch eine andere Naivität der vergangenen Jahre, nämlich die, dass Russland erledigt sei und wir uns nicht um die Meinung und Haltung Russland kümmern müssten. Sowohl im Falle Syriens als auch im Falle der Ostpolitik im Zusammenhang mit der Ukraine hat Russland gezeigt, dass es ein Faktor ist, mit dem zu rechnen ist. Ob uns das gefällt oder nicht, Russland und insbesondere Putin spielt seine Rolle und seine Möglichkeiten aus. Und dabei sind sie nicht zimperlich. Wir sollten versuchen, das rechtzeitig  ins Kalkül zu ziehen.

Und drittens war es naiv anzunehmen jegliche Revolte in den arabischen Ländern wird unmittelbar die bestehenden undemokratischen Regimes hinwegfegen. In allen Ländern wo es solch starke Oppositionsbewegungen gegeben hat, hat sich die Lage als viel schwieriger erwiesen als angenommen. Nur der vom König nur langsam in Bewegung gesetzte Reformprozess in Marokko läuft einigermaßen friedlich. Algerien verweilt in einer Starre, Libyen ist von einem täglichen Chaos gekennzeichnet, in Tunesien ringt man um eine neue Regierung und in Ägypten hat das Militär wieder die Macht übernommen.

In Syrien ist die Lage am schlimmsten mit den vielen tausenden Toten und den Millionen Flüchtlingen. Es wurde deutlich, dass niemand diesen Konflikt militärisch für sich gewinnen kann. Nur eine politische Lösung ist denkbar. Und dazu braucht man Russland und Syrien. Das sollte man zur Kenntnis nehmen und konkret an einer politischen Lösung mit allen Beteiligten arbeiten.

Die jüngst getroffene Vereinbarung mit dem Iran hinsichtlich der Nuklearfrage ist in diesem Sinn sehr zu begrüßen. Sie schafft die Möglichkeit, den Iran langsam wieder als Gesprächspartner für die friedlichen Lösungen in der Region zu engagieren, zuerst in Syrien, dann im Libanon und vielleicht auch hinsichtlich des Konfliktes zwischen Israel und Palästina. Schließlich gab es auch Zeiten, als die Beziehungen zwischen Israel und dem Iran sehr eng waren. Um Frieden in unserer Nachbarschaft zu schaffen bzw. zu bewahren brauchen wir mehrere Gesprächspartner. Der Iran und die Türkei sind zwei davon. Und sie vertreten auch zwei verschiedene islamische Gemeinschaften, die Sunniten und die Schiiten. Diese Chance sollte man nützen, denn wir brauchen die Mithilfe beider für die Lösung der regionalen Probleme, auch durch eine gewisse Balance zwischen diesen beiden – manchmal verfeindeten – Gemeinschaften. Das setzt allerdings voraus, dass keine der beiden Seiten einen absoluten Vorrang erringen möchte.