UKRAINE – SEPTEMBER 2016

Kiew und Lviv (Lemberg) zwei sehr unterschiedliche Städte waren das Ziel meiner jüngsten Reise in die Ukraine. In Kiew schloss ich mich einer Gruppe von ÖsterreicherInnen an, die herausfinden wollten bzw. wollen, ob und wie wir helfen können Gräben, die seit einiger Zeit im Osten des Landes gegraben wurden, zu überwinden. Und leider werden noch immer neue Gräben gegraben und die bestehenden vertieft. Im Rahmen des Internationales Instituts für den Frieden haben meine Mitarbeiterin Stephanie Fenkart und ich natürlich ein großes Interesse auch an praktischer Friedensarbeit und daher waren und sind wir aktiv an diesem Versuch beteiligt. Die Gespräche in Kiew, vor allem mit der Zivilgesellschaft aber auch den OSZE- und Rotkreuz-Vertretern, waren sehr aufschlussreich, zeigten allerdings auch die Grenzen einer „Intervention“ von Außen.

Lemberg hingegen mit seiner sehr wechselhaften und sehr tragischen Geschichte war dann Ziel eines kurzen privaten Aufenthalts, ich hatte diese ehemals „österreichische“ Stadt noch nie gesehen und wollte die Multikulturalität dieser Stadt nachempfinden. Allerdings ist mir das nur mangelhaft gelungen. Die umfangreichen Zerstörungen von Kulturen und Gebäuden sowie starke Touristenströme haben diesem Versuch allerdings Grenzen gesetzt.

Leider nichts Neues aus Kiew

Seit meinem letzten Besuch in Kiew gibt es leider nichts Neues zu berichten. Der Eindruck, der mir bzw. uns vermittelt wurde, bleibt ein gedämpft optimistischster aber mit vielen offenen Fragen. Ja es gibt einige Reformen im Bereich der Korruptionsbekämpfung, aber noch ist nichts unumkehrbar. Die oligarchischen Strukturen sind geschwächt bzw. die Oligarchen verhalten sich jetzt anders und respektieren stärker als vorher Grundsätze der Demokratie. Jemand hat das so ausgedrückt: „Früher hatte die Bevölkerung Angst vor der Regierung, jetzt muss die Regierung Angst vor der Bevölkerung haben.“

Aber noch immer haben die Oligarchen wie Firtasch und Achmetov „ihre“ Fernsehsender. Sie berichten – bzw. lassen berichten – aber durchaus kritisch – gegenüber der Regierung etc. Aber wenn es um ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen geht, dann gibt es keine Kritik. Da gibt es klare Vorgaben. Allerdings gibt es einen sehr aktiven, unabhängigen Sender, der trotz mancher Anfeindungen noch immer sendet. Das sicher nicht zuletzt auf Grund der sehr energischen Chefin, die wir in der Sendezentrale trafen und die uns auch überzeugte.

Leider hat sich auf politischer Ebene nicht eine solche kritische und unabhängige Partei herausgebildet wie im Medienbereich. Etliche der Maidan „Revolutionäre“ haben sich auf den Listen der traditionellen Parteien ins Parlament, die Rada, wählen lassen und haben auch Regierungsämter übernommen. Allerdings haben sich viele wieder zurückgezogen. Sie waren unter Druck der in den Parteien führenden Oligarchen geraten bzw. die Bezahlung in der Verwaltung war so gering, dass sie davon keine Familie gründen und ernähren könnten. Und natürlich waren die in der Verwaltung schon tätigen Beamten nicht erfreut über die „guten“ Ratschläge der Neuankommenden. Allerdings gibt es viele Gruppen, die in der Maidan Revolution ihren Ursprung haben, die versuchen, die Anliegen der Revolution weiterzutragen und da steht die Bekämpfung der Korruption und der Geldwäsche im Vordergrund.

Und die Verhältnisse im Kriegsgebiet

Nicht viel Neues gibt es auch vom Konflikt in der Ostukraine zu berichten. Auch wenn zu Schulbeginn ein Waffenstillstand verkündet wurde, die Zwischenfälle gingen zwar zurück, aber immer wieder werden Schüsse und Explosionen wahrgenommen. Das geht aus den täglichen Berichten der OSCE Beobachter Mission hervor. Und auch der Chef der Beobachter Mission, der Schweizer Alexander Hug, den ich auch diesmal wieder traf, hat von der sehr fragilen Situation an der „Kontaktlinie“, die durch die Regionen Donezk und Luhansk verläuft, berichtet. Dabei muss die OSCE auf Grund eines sehr limitierten Mandats arbeiten und kann leider nicht wirklich eingreifen. Und überdies wird den einzelnen Beobachtern immer wieder der durch Vereinbarung zugestandene Zugang verwehrt und zwar eindeutig mehrheitlich seitens der Machthaber in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten.

Auch der stellvertretende Leiter der Mission des Internationalen Roten Kreuzes, ebenfalls ein Schweizer, berichtete von den Schwierigkeiten der humanitären Hilfe. Da gibt es einerseits Maßnahmen der ukrainischen Regierung, die es den PensionistInnen in den Rebellengebieten schwer machen, ihre Pensionen zu erlangen. Die Motivation der Ukrainer dafür beruht auf der Angst damit – indirekt – die Rebellen zu finanzieren. Auf der anderen Seite machen die Rebellen Führer – und zwar unterschiedlich in Luhansk und Donezk – immer wieder Schwierigkeiten, wenn es um medizinische oder Nahrungsmittelhilfe geht. Insgesamt wiegen auch hier die Probleme seitens der Rebellen schwerer und ist die ukrainische Seite weitaus hilfreicher.

Die Probleme des Konflikts ergeben sich aber nicht nur in den Gebieten diesseits und jenseits der Kontaktlinie. Durch die hohe Anzahl von IDPs (internally displaced persons), also der in den „Westen“ der Ukraine geflüchteten Personen, gibt es finanzielle, soziale und psychologische Probleme. Wie immer und überall ist auch die Integration der „eigenen“ Bevölkerung ein Problem, vor allem wenn die „Neuen“ Opfer einer Aggression waren und vielleicht traumatisiert sind. Eine kleine sehr überzeugend wirkende Gruppe von Theaterleuten kümmert sich um diese Gruppe und hat ein „Theater“ der IDPs auf die Beine gestellt, wo die Betroffenen selber ihre Geschichte erzählen und darstellen können. Sie wird auch Ende September in Wien ein Gastspiel geben.

Wo liegt die Wahrheit?

Ich schreibe diese Zeilen am letzen Tag meines Aufenthaltes in Lviv und zwar im Bier Restaurant „Pravda“, also „Wahrheit“. Und da frage ich mich natürlich, was ist die Wahrheit im Konflikt in der Ostukraine? Wer ist Schuld an diesem Konflikt? Es scheint wirklich kein Konflikt zwischen einzelnen Teilen der Bevölkerung zu sein. Denn auf beiden Seiten befinden sich Menschen, die vor allem Russisch sprechen. Und Russland hat sicher seine Hand im Spiel, aber kann wahrscheinlich nicht die Rebellen in allen Fällen kontrollieren, selbst wenn Moskau es wollte. Und die Haltung mancher in der Ukraine ist auch nicht immer hilfreich, vor allem für das Wohl der betroffenen Bevölkerung.

Auch gibt es eine – allerdings sehr kleine – Gruppe von Rechtsextremen, die den Konflikt schüren. Aber als jemand, der manches geopolitisches Argument Russlands versteht, muss ich immer wieder festhalten, dass ich kein Verständnis dafür habe, wie Russland bzw. die Rebellen die Bevölkerung in Geiselhaft nimmt: in Transnistrien, in Süd Ossetien und Abchasien, aber besonders hier im viel größeren Gebiet der Ostukraine. Und die Größe des Gebietes sowie die industrielle Orientierung macht es schwieriger, hier eine wirtschaftliche Zukunft zu entwickeln als in den kleinen eher agrarisch geprägten Gebieten Süd-Ossetiens und Abchasiens.

Kalt ist aber auch die wesentliche Ursache für den Maidan. Es war weder eine prinzipiell anti-russische Haltung, die die Revolutionäre geprägt haben, noch die Steuerung durch den CIA oder andere sinistre Organisationen. Das mag es schon auch(!) gegeben haben. Entscheidend war aber die Korruption und die extreme Bereicherung durch den früheren Präsidenten Janukowitsch, seines Sohnes und  seiner Mitstreiter. Sie wurde für die Menschen, die in extremer wirtschaftlicher Situation lebten und die größte Ungerechtigkeiten erlebten, immer unerträglicher. Und das von dieser Gruppe mit der EU ausgehandelte, dann aber, nicht zuletzt auf Druck aus Moskau, fallen gelassene Assoziierungsabkommen gab den Menschen Hoffnung, dass sich die Dinge ändern werden. Aber danach war diese Hoffnung der Verzweiflung gewichen und führte zum Aufstand.

Lviv oder Lvov oder Lemberg?

Und wo liegt die Wahrheit in der wechselhaften Geschichte dieser heute westukrainischen Stadt Lviv? Wenn man heute nach Lviv kommt, dann ist der Name klar, aber man sieht viel aus Zeiten als die Stadt anders hieß und auch eine andere Zugehörigkeit hatte. Kaum eine Stadt in Europa hat eine solch vielfältige und konfliktreiche, schmerzliche Geschichte wie Lviv. An den Gebäuden der Stadt ist die polnische, österreichische und sowjetische Geschichte und die Wunden, die die verschiedenen Herrschaften dieser jetzt ukrainischen Stadt zugefügt haben, ablesbar.

Wenig allerdings kann von den Gebäuden auf die Präsenz und tragische Geschichte der Juden geschlossen werden. Schon 1918 gab es ein furchtbares Pogrom und die Nazi-Herrschaft hat auch hier gewütet. Wenige Menschen überlebten und es blieb von den jüdischen Gebäuden wenig übrig und die verschiedenen christlichen Religionen, das Ukrainisch(Griechisch) Katholische sowie das -polnisch- Katholische und das Orthodoxe, beherrschen heute die religiöse Szene der Stadt und die Kirchen sind voll – auch noch am Sonntag Nachmittag.

Für einen Österreicher ist natürlich die österreichische Geschichte besonders interessant. Vor nicht allzu langer Zeit hatte das Wien Museum eine sehr informative Ausstellung über Galizien gebracht. Es hat die durchaus ernsthaften Bemühungen um eine Modernisierung des Landes gezeigt sowie den Versuch, zwischen den Polen und den Ukrainern eine Balance zu finden. Aber die Zeit war noch nicht reif dafür und Österreich griff zu drastischen diktatorischen und inhumanen Mitteln, um sich durchzusetzen. Damit konnten sie aber auf keiner Seite Freunde und Sympathie gewinnen. Und der erste Weltkrieg hat mit dem Ende der Monarchie auch das Ende des galizischen Experiments besiegelt. Aber die tragische Geschichte dieser Region und ihrer Hauptstadt ging weiter: im Rahmen der Sowjetunion und der Aggression durch Nazi-Deutschland. Und da hatten vor allem die Juden einen besonders hohen Blutzoll zu zahlen.

Man könnte viel lernen für Europa, sowohl was Kiew selbst betrifft, also auch die Geschichte der Westukraine und da insbesondere von Lviv und der heutigen Situation in Donezk und Luhansk, von der Krim zu schweigen. Aber man muss lernen wollen und den Nationalismus und den religiösen Hass überwinden wollen. Und dazu sind leider manche politischen Kräfte nicht bereit.

Um wie viel interessanter und spannender wäre Lviv heute, hätte es noch ein aktives jüdisches Leben. Und um wie viel attraktiver wäre es, wären nicht immer Menschen auf Grund ihrer nationalen Zugehörigkeit vertrieben oder gar vernichtet worden. Damit will ich die Attraktivität von Lviv nicht klein reden. Aber ich habe das Gefühl, dass dieser Stadt einiges fehlt. Vor allem, wenn man die Geschichte der Stadt kennt, dann spürt man geradezu, dass ihr etwas Wesentliches, nämlich die Vielfältigkeit geraubt wurde.