Vor- und Nachteile der direkten Demokratie

Ende September fand in der Diplomatischen Akademie eine Podiumsdiskussion über “ Vor- und Nachteile der direkten Demokratie“ statt. Aus diesem Anlass habe ich einige Gedanken zur Weiterentwicklung der Demokratie verfasst. Das von einigen TeilnehmerInnen der Diskussion favorisierte Schweizer Modell der direkten Demokratie hat sicher seine Vorteile. Aber es hat seine spezifische Tradition und ist in der Schweiz eingespielt, hat aber – wie gerade die Schweizer VertreterInnen in der Podiumsdiskussion mitteilten – auch seine Mängel.

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Vor allem innerhalb der EU sind außenpolitische Fragen sehr heikel und bedürfen einer sorgfältiger Prüfung, die durch emotionale Referenden verhindert werden und in der Folge zu einer Blockade führen können. Wir sehen das auch am Beispiel einer Volksbefragung in den Niederlanden, zu dem Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, die jetzt dieses Abkommen blockiert. Ein permanenter Abstimmungsprozess in den einzelnen Mitgliedstaaten würde Europa total handlungsunfähig machen. Auch sind Abstimmungen, wie über ein Minarettverbot, wie sie in der Schweiz vor kurzem stattgefunden hat, auch hinsichtlich der Menschenrechte und dem Schutz von Minderheiten problematisch.

All dies spricht nicht für einen Stillstand und eine Reformverweigerung, sondern für eine sorgfältige aber durchaus mutige und innovative Weiterentwicklung und Ergänzung der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie. Das betrifft auch die innerparteiliche Entscheidungsfindung und das Aufstellen von KandidatInnen für die allgemeinen Wahlen. Diesbezüglich könnten die Parteien noch ein gutes Stück an Transparenz und Demokratie vertragen. Und auch eine entsprechende Wahlrechtsreform kann zu mehr Demokratie beitragen. Aber es bleibt – so wie übrigens auch bei der direkten Demokratie in der Schweiz – das Problem der sinkenden Wahlbeteiligung ein ungelöstes Problem.

Vielfalt der Meinungen – Vielfalt der Instrumente

In der öffentlichen Debatte wird vielfach sehr vereinfacht über die Mängel der Demokratie auf nationaler und auch auf europäischer Ebene gesprochen. Die Meinung der Bürger – als gebe es immer nur eine – wird gegen die der – politischen – Eliten ausgespielt. Die österreichische Mehrheitsmeinung ist darüber hinaus dann immer gleich die Einstellung der europäischen Bevölkerung. Die Betrachtungsweise, gerade auch in den Medien, ist vielfach eine ausschließlich oder vorwiegend nationale. Europa wird konsequenterweise als Verlängerung nationaler Interessen gesehen. Dabei wird das „nationale Interesse“ oft gar nicht definiert und in Frage gestellt, sondern als gegeben angenommen.

So wie Interessen vorweggenommen und einheitlich definiert werden, so werden auch die demokratischen Instrumente verkürzt betrachtet und definiert. Alternativen bzw. Kombinationen von verschiedenen, durchaus zu vereinbarenden, Instrumenten der demokratischen Meinungs- und Willensbildung werden kaum diskutiert. Es ist oft Bequemlichkeit, intellektuelle Begrenztheit, aber auch schlichtes nach dem Mund Reden, dass dazu führt, dass die Dinge sehr simpel dargestellt werden. Man muss schon Phantasie aufbringen, um Schwarz-Weiß Darstellungen zu überwinden. Auch moderne Kommunikationsmittel wie Internet, Twitter, Facebook etc. führen zur Versuchung „die“ öffentliche Meinung rasch zu erfassen und diese Mehrheitsäußerungen als demokratische Entscheidungen zu definieren. Dabei sollte sie vielmehr als Mittel der Diskussion und der Meinungsfindung anstatt als schnelles Mittel der Meinungsäußerung verwendet werden.

Alle Akteure der Meinungsbildung und der Entscheidungsfindung sind allerdings mit dem Problem geringerer Wahlbeteiligung und aktiver Teilnahme an demokratischen Prozessen konfrontiert. Auch die jüngste SPÖ interne Befragung zu CETA war – abgesehen von den zum Teil tendenziösen Fragestellungen – kein berauschender Erfolg. Es wird auch schwierig sein, die „Echokammern von Gleichgesinnten“, wie Prof. Korte aus Duisburg-Essen sie bezeichnet, aufzubrechen. Aber ohne Offenheit für die Argumente der „Anderen“ und vorurteilsfreier Diskussion wird es keine verstärkte Teilnahme der Bevölkerung an demokratischen Entscheidungsprozessen geben. Da werden auch – um mit Prof. Korte zu reden – alle Seiten durch „Abrüsten des moralischen Hochmuts “ einen Beitrag zum Dialog leisten müssen. Dialog heißt dabei nicht Aufgabe von Werten sondern Zuhören und Angebote zur Verständigung machen.

Ergänzung der repräsentativen Demokratie – Zivilgesellschaft

Die repräsentative Demokratie hat nicht ausgedient. Wir brauchen sie genauso wie wir Parteien brauchen. Ich kenne jedenfalls keine Demokratie ohne Parteien. Sie sind fehlerhaft und haben oft versäumt, entsprechende Reformen durchzuführen und die unterschiedlichen neuen Herausforderungen anzunehmen. Aber Demokratie kann nicht auf Wählen und Parlamentarismus reduziert werden. So wie es nicht nur eine Wahrheit gibt, so gibt es nicht nur einen – demokratischen – Weg sondern es gibt viele Instrumente, die jeweils an die Situation angepasst verwendet werden sollen.

In diesem Zusammenhang kommt die Zivilgesellschaft als belebender Faktor hinzu. Nun, der Begriff Zivilgesellschaft ist schwammig und ungenau. Aber es geht immer um eine kleinere oder größere Anzahl von – mehr oder weniger organisierten – BürgerInnen, die sich für oder gegen eine Sache, ein Projekt, ein regionales, nationales bzw. europäisches oder gar globales Gesetz bzw. eine Vereinbarung oder ein Vorhaben engagieren. Vielfach sind es Proteste und ein Entgegenhalten. Aber es liegt an den Umständen, aber vor allem auch an den traditionellen, gewählten VertreterInnen, inwieweit sich die zivilgesellschaftlichen Gruppen auch für(!) eine Sache engagieren.

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Die zum Teil spontane oder auch durch entsprechende Organisationen durchgeführte Betreuung von Flüchtlingen war in vielen europäischen Ländern, so auch in Österreich, ein – sehr gutes – Beispiel eines solchen nach vorne gerichteten Engagements. Aber auch die Pariser Verhandlungen zum Klimaabkommen waren ein positives Beispiel einer erfolgreichen Kooperation zwischen gewählten VertreterInnen und der Zivilgesellschaft. Die Zivilgesellschaft kann die repräsentative Demokratie nicht ersetzen, es kann aber durch eine konstruktive Kooperation zu „besseren“, befriedigenderen Lösungen kommen.

Sehr oft wird den spontanen Bewegungen der Vorwurf gemacht, sie werden von  „Single Issue“ Aktivisten getragen. Selbstverständlich können sie als solches nicht Parteien, die einen umfassenderen Ansatz haben, ersetzen, das sollen sie auch nicht. Sie können aber zur Lösung einzelner Fragen einen entscheidenden Beitrag leisten, weil sie partei-politisch festgefahrene Positionen und Differenzen bei Seite und außer Acht lassen und sich auch mit diesen Einzelfragen näher beschäftigen können. Aber natürlich haben sie genauso wenig die Wahrheit gepachtet wie die Organisationen der Sozialpartnerschaft oder anderen beruflichen Interessenvertretungen.

Flucht in Referenden

Dialog und kooperatives Erarbeiten von Lösungen ist auch die Alternative zur Flucht in Referenden und Abstimmungen, die ja nur ein ja oder nein kennen und damit immer Verlierer schaffen. Und das insbesondere bei den zunehmend knappen Entscheidungen. Demokratie ist vor allem Information, Diskussion, Abwägen und dann Entscheiden und zwar unter Berücksichtigung vieler Argumente und der möglichen Gewinner und Verlierer der Entscheidungen.

Referenden können, wenn überhaupt, immer nur Teil eines langfristigen Entscheidungsprozesses sein. Sie setzen eine lange Phase der Information und Diskussion vor allem der Alternativen voraus. Und sie bedürfen oft einer Nachbehandlung, um auch jene zufrieden zustellen, die in der Minderheit geblieben sind. Referenden dürfen jedenfalls nicht der Flucht aus der Verantwortung dienen.

Gerade im Zusammenhang mit der Diskussion der Globalisierung und ihrer Gewinner und Verlierer stellt sich die Frage der Kompensation der Verlierer. Aber das gilt auch für die Folgewirkungen von technologischen Entwicklungen. Wenn Demokratien nur auf die GewinnerInnen solcher Entwicklungen schauen, dann gefährden sie sich selbst. Populismus hat seine Ursache in wachsender Ungleichheit oder erfährt jedenfalls einen entscheidenden Verstärkereffekt durch die Vernachlässigung von VerliererInnen wirtschaftlicher und/oder technologischer Entwicklungen. Und da können Referenden keinen Beitrag zum notwendigen Ausgleich schaffen. Im Übrigen wird auch in der Schweiz im Rahmen der notwendigen parlamentarischen (!) Umsetzung nach einem Volksentscheid auf eine möglichst ausgleichende Umsetzung geschaut.

Demokratie und Europa

Die Athener „Demokratie“ wird immer wieder zum Vorbild für die Demokratie schlechthin und insbesondere für die europäische Demokratie genommen. Aber sie stellte eine sehr selektive (auch ausschließende) und überschaubare Meinungsbildung dar. Sie ist für heutige allumfassende und komplexe Entscheidungen kaum ein Vorbild. Für die europäische Ebene ergibt sich eine noch viel größerer Grad an Komplexität, stoßen doch viele national – und über längerer Zeit – geformte Interessen aufeinander. Die Vereinigungsprozesse in Europa hatten und haben ja den Zweck solche Interessen abzuschleifen und auszugleichen. Sie sollten nicht mehr zu kriegerischen Konflikten führen sondern am Verhandlungstisch ausgetragen werden.

Im Übrigen waren alle Friedensschlüsse, die zumindest länger gehalten haben, wie der Westfälische Frieden und der Friedensschluss des Wiener Kongresses stark von Kompromissen geprägt. Wo das weniger der Fall war, wie zum Beispiel nach dem Ersten Weltkrieg, hat der Friede auch nicht lang gehalten.

Neben traditionellen Parteieninteressen und relativ überschaubaren Gruppeninteressen, zum Beispiel von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden, kamen und kommen auf europäischer Ebene für die einzelnen BürgerInnen noch weniger bekannte und nachvollziehbare Interessen anderer Mitgliedstaaten hinzu. Das Projekt Europa ist überdies eng verbunden mit der Globalisierung, die noch weniger durchschaubar ist.

Parallel dazu hat das Vertrauen in und die Delegierung an die gewählten VertreterInnen bzw. die Regierungen rapide abgenommen. Je entfernter die Entscheidungen von den BürgerInnen und den ihnen bekannten Institutionen aber zu treffen sind, desto mehr bedarf es der Delegation an VertreterInnen. Das gilt für Entscheidungen auf europäischer Ebene und noch mehr auf globaler Ebene. Daraus ziehen einige, wie Prof. Dani Rodrik von Harvard, den Schluss, dass wirtschaftliche Globalisierung, nationale Interessenvertretung und Demokratie nicht vereinbar sind. Er spricht in diesem Zusammenhang von einem „trilemma“ also der Unvereinbarkeit dieser drei Zielsetzungen, vor allem da sich die Globalisierung zu einer „Hyperglobalisierung“ herausgebildet hat.

Und dennoch macht es keinen Sinn auf diese Ziele im Grundsatz verzichten zu wollen. Die Globalisierung ist eine Tatsache, die als solches kaum rückgängig gemacht werden kann. Das heißt nicht, dass sie ohne Kritik und ohne Gestaltung als unabänderlicher Naturprozess akzeptiert werden soll. Es bedarf sogar vieler und verstärkter Vereinbarungen, um sie zu beeinflussen und die negativen Konsequenzen nach Möglichkeit abzufangen. (Dani Rodrik verlangt eine Reihe von Barrieren für den globalen Handel, vor allem in Bezug auf nicht demokratische Staaten. Allerdings wer entscheidet darüber und ab welchem Niveau des Demokratiemangels dürfen solche Beschränkungen erfolgen?)

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Was wir aber brauchen ist sicher eine mehr durchdachte Globalisierung, die nationale Spielräume, insbesondere für die öffentliche Politik, nicht unangemessen einengt. Besonders im Bereich der öffentlichen Versorgung, im Bildungs- und Gesundheitswesen etc. sollen die BürgerInnen eine Entscheidungsmöglichkeit haben. Die wirtschaftlichen Vorteile des verstärkten Wettbewerbs und der billigen Preise sollten mit den möglichen Verlusten an demokratischen Entscheidungsmöglichkeiten abgewogen werden. Und was die Arbeitsplätze betrifft, so gibt es auch vielfach Gewinner und Verlierer. Und die letzteren sollten zumindest einen entsprechenden Ausgleich erhalten.

Die nationale Ebene brauchen wir, um diese Politik auf verschiedenen Ebenen zu definieren und voranzutreiben. Und hier kommen auch die bekannten Instrumente der Demokratie zur Anwendung. Aber eben nicht nur, auch die europäische Ebene ist eine demokratische, wenngleich dort Ausgleich und Kompromisse eine größere Rolle spielen, als auf nationaler Ebene. Allerdings je mehr die WählerInnen eine zersplitterte Parteienlandschaft in die nationalen Parlamente wählen, desto mehr ist auch auf dieser Ebene Kompromiss und Ausgleich gefragt.

Und auch die europäische Ebene würde eine stärkere und ausgeglichenere Zivilgesellschaft brauchen. Es gibt sie ja und das Bild einer ausschließlich von Konzernen und deren Lobbyisten geprägte Entscheidungsfindung ist extrem verzerrt. Aber weder die Kommunen, noch die Gewerkschaften oder auch andere Teile der weniger organisierten Zivilgesellschaft sind in ausreichendem Maße in „Brüssel“ vorhanden, um den rein wirtschaftlichen Interessen entgegen zu halten. Probleme wie bei den Handelsabkommen CETA oder TTIP hätte man sich erspart, hätte es eine viel breitere Diskussion, sowohl auf nationaler aber auch europäischer Ebene, gegeben. Aber weite Teile der Politik und der Medien sind erst sehr spät aufgewacht. Das gilt übrigens auch für die Zivilgesellschaft. Aber die Politik hat auch dann noch nicht mit ausreichend Transparenz und Argumenten reagiert.

Demokratie und Globalisierung

Globalisierung, die Vertretung nationaler Interessen und Demokratie sind nicht leicht unter ein Dach zu bringen, aber durchaus vereinbar. Nämlich dann, wenn Demokratie als dynamischer Prozess definiert wird und Transparenz, umfassende Information und Einbeziehung der Zivilgesellschaft als wesentliche Elemente des Entscheidungsprozesses aufgefasst werden. In diesem Sinn, könnte die europäische Ebene sogar einen wichtigen Katalysator darstellen und die nationale Ebene mit der globalen auf demokratische Weise verbinden.

Ohne europäische Ebene stehen die einzelnen Nationalstaaten vor der Entscheidung, sich den globalen Verhältnissen und „Gesetzmäßigkeiten“ zu unterwerfen oder sich einem selbstzerstörerischen Protektionismus hinzuwenden. Und vergessen wir nicht, auch die nicht der EU als Mitglieder angehörenden Staaten Europas haben gerade aus diesen Gründen eine enge Verknüpfung mit der EU gesucht und halten diese aufrecht. Und jetzt ist das eines der Hauptthemen der Überlegungen in Großbritannien für die kommenden Brexit Verhandlungen.