Wie tolerant müssen oder sollen wir sein?

Unsere europäische Kultur, wie wir sie heute propagieren, beruht auf den Werten der Aufklärung. Über Jahrhunderte haben wir allerdings diese Werte grob verletzt vom Kolonialismus bis zur Nazi-Diktatur. Während die Nazi-Diktatur in ihren brutalen Auswirkungen einigermaßen aufgearbeitet ist, gilt dies für die Auswirkungen des Kolonialismus noch lange nicht. Viele reden immer noch von der „Bürde des Weißen Mannes“ wie es Rudyard Kipling ausdrückte. Und auch wenn uns die EU Charta der Grund- und Freiheitsrechte die universellen Werte wieder in Erinnerung ruft und für verbindlich erklärt, so sind sie lange noch nicht tägliche Praxis.

EP President meets with MEP

Ein immer wieder hoch gehaltener Wert ist die Toleranz. Aber was bedeutet uns Toleranz? Ist sie unbegrenzt oder hat sie ihre Grenzen und wo hat sie ihre Grenzen? Bedeutet Toleranz mehr als Duldung und verlangt sie auch Anerkennung und Respekt?

Die Toleranzpatente von Joseph dem Zweiten und das Edikt von Nantes von Heinrich den Vierten sind Ausdruck einer begrenzten Duldung. Der Katholischen Kirche blieb ihre privilegierte Stellung erhalten, aber andere Religionen waren fortan – mit einschränkenden Regelungen – geduldet. Johann Wolfgang von Goethe hingegen meint: „Duldung ist Beleidigen“! Er verlangt mehr, nämlich Anerkennung und Respekt, das was vielen Menschen noch heute versagt wird.

Unerträgliches und Zivilisierte Verachtung

Aber gibt es dennoch wie Jaques Lacan und nach ihm Slavo Zizek zum Ausdruck bringen, Dinge die wir als „unmöglich zu ertragen“ empfinden? Und was bedeutet dieses „unmöglich zu ertragen“?  Für Zizek kommt es dann zur gesellschaftlichen Explosion, „wenn die Angehörigen einer Glaubensgemeinschaft nicht einen direkten Angriff auf ihre Religion als blasphemische Verletzung und Gefahr für ihre Lebensweise empfinden, sondern die Lebensweise einer anderen Gesellschaft an sich, angesichts dessen es unmöglich ist zu schweigen.“

Carlo Strenger, von der Universität Tel Aviv macht es noch deutlicher, er fordert geradezu eine „zivilisierte Verachtung“: „Ich definiere zivilisierte Verachtung als eine Haltung, aus der heraus Menschen Glaubenssätze, Verhaltensweisen und Werthaltungen verachten dürfen oder sogar sollen, wenn sie diese aus substanziellen Gründen für irrational, unmoralisch, inkohärent oder unmenschlich halten.“

Er fordert aber, dass diese Verachtung auf Argumenten beruhen muss und sich nicht gegen die Würde und Rechte von Menschen richten darf: “ Zivilisierte Verachtung ist die Fähigkeit, zu verachten, ohne zu hassen oder zu dehumanisieren“ . Genau das aber machen all jene politischen Kräfte, die gegen die MigrantInnen und Flüchtlinge polemisieren, und sie als Schmarotzer und Kriminelle hinstellen. Sie schüren Ressentiments und Ängste.

Die Wiedererrichtung von Grenzen anstatt von Zuwanderung und Toleranz

Für die amerikanische Professorin an der Universität von Chicago, Martha Nussbaum, beruht die Intoleranz vorwiegend auf Ängsten. Und diese werden oftmals auf Sündenböcke umgeleitet. Reaktionäre politische Kräfte Nutzen genau diese Ängste und Abwehrmechanismen aus um einige Mitmenschen als Sündenböcke zu stigmatisieren.

Hinzu kommt laut Martha Nussbaum, dass in Europa – mehr als in den USA – die Nationen auf der Basis von ethno-religiösen und kulturell-sprachlichen Zugehörigkeiten definiert werden, und weniger auf Basis eines politischen Projekts. Genau ein solches politisches Projekt eines Vereinigten Europas versucht die multinationale und multikulturelle Europäische Union Wir sehen aber wie schwierig das ist.

Wenn nämlich die ethno-religiöse und kulturell-sprachliche Identitätsstiftung ausgehend von der nationalen Basis vorherrschend ist, macht die Zuwanderung vor allem aus anderen kulturellen und religiösen Kreisen besondere Probleme. Das darf aber weder aus humanitären noch aus wirtschaftlichen Gründen heißen, dass diese Zuwanderung verhindert werden soll. Aber die Aufgabe der Integration wird angesichts dieser Selbstdefinition der Nationen besonders notwendig.

Gerade weil unsere Gesellschaften immer weniger homogen sind und durch einen stärkeren Individualismus und durch Zuwanderung heterogener werden, kommt der Toleranz, Akzeptanz und Respekt eine immer größer werdende Bedeutung zu. Ohne diese Werte zerfällt unsere Gesellschaft immer mehr, entweder in einzelne, oft einsame Individuen ohne Bindung und/oder in Teilgesellschaften auf ethno – religiöser –  kultureller Basis. Aber auch der Kommunitarismus, also die Aufspaltung der Gesellschaft in einzelne homogene Gruppen, erreicht keine gemeinsame Basis für den nationalen und europäischen Zusammenhalt,  sondern führt im Extremfall zu Parallelgesellschaften.

Auch die Errichtung von Mauern und Stacheldrahtzäunen können diese Entwicklungen von heterogenen Gesellschaften nicht aufhalten, wie die Mauern zwischen Israel und Palästina und der Zaum zwischen Mexiko und den USA zeigen. Wie Wendy Brown in ihrem Werk: „Walled States, Waning Sovereignty“ aufzeigt, können solche Verteidigungsmauern und -zäune nur mehr dem Schein und der Illusion dienen, aber nicht wirklich Migration und Flucht verhindern. Und damit können sie auch nicht die Durchlöcherung der Souveränität unterbinden. Wir leben in multikulturellen Welten ohne klare und hermetische Abgrenzungen.

Das erinnert mich an Ingeborg Bachmann wenn sie eines ihrer Gedichte mit folgendem Vers abschließt:

„Wir aber wollen über Grenzen sprechen,
und gehen auch Grenzen noch durch jedes Wort:
wir werden sie vor Heimweh überschreiten
und dann im Einklang stehen mit jedem Ort.“

Daher müssen wir uns zum Projekt einer modernen Gesellschaft bekennen, die die Werte der Aufklärung und Toleranz in den Mittelpunkt stellt. Aber nochmals, im Sinne einer „zivilisierten Verachtung“ (auch wenn ich den Begriff Verachtung nicht mag) müssen wir klar stellen, dass wir in Europa gegen die Verletzung dieser universellen Werte kämpfen und nicht gegen Menschen die mit diesen Werten nicht vertraut sind oder – noch – nicht viel anfangen können. Gerade deshalb weil wir selbst als Europäer die universellen Werte oftmals grob verletzt haben und dies auch heute noch vielfach tun, ist ein Kampf gegen Menschen eine weitere Verletzung der von uns vertretenden Werte.

Toleranz und Religion

Und auch jene, die unter Aufklärung vor allem auch ein Instrument gegen die Beherrschung der Menschen durch Religionen und als den Weg aus der Entmündigung sehen, müssen einsehen, dass Religion bzw. der Glaube an Gott vielen Menschen „heilig“ ist. Und auch die Religionen haben sich vielfach verändert, und an moderne Gesellschaften angepasst und sind so durchaus mit den Werten der Aufklärung vereinbar. Allerdings gibt es religiöse Kräfte die genauso intolerant und extremistisch reagieren wie manche politischen Kräfte. Und dabei ist der Extremismus und Fanatismus oftmals kein Rückgriff auf alte Traditionen sondern ein Phänomen der Moderne. Gegen diese Kräfte können wir unsere zivilisierte Verachtung durchaus äußern und sollte dies auch tun.

All diese Fragen sind im Zusammenhang mit dem grausamen Attentat auf die Redakteure von Charlie Hebdo diskutiert worden. Es besteht kein Zweifel, dass die Attentate ein besonders extremer und tödlicher Ausdruck der Intoleranz sind. Und was ist mit den Karikaturen von Charlie Hebdo und ähnlichen Magazinen? Sind sie auch Ausdruck einer anti-religiösen Intoleranz?

Gemäß unseren Werten sind solche Meinungsäußerungen zu tolerieren und akzeptieren. Aber das schließt nicht aus, dass man ihnen kritisch gegenüber sein kann. Man muss solchen Karikaturen keinen Respekt entgegen bringen. Vor allem wenn man weiß, dass viele – sicher nicht alle – Muslime, die ja besonders im Mittelpunkt dieser Karikaturen stehen, ohnedies zu den Schwachen und oftmals Diskriminierten in unseren europäischen Gesellschaften gehören. Und so können diese Karikaturen zur zusätzlichen Ablehnung von Muslimen beitragen.

Man kann also auch den diversen anti-muslimischen Karikaturen eine „zivilisierte Verachtung“ entgegenbringen, ohne aber nach Gesetzen zum Verbot von solchen Karikaturen zu rufen. Man muss grundsätzlich zwischen einer Argumentation gegen das, was man für nicht „erträglich“ hält und einer Kriminalisierung dessen was einem selbst „unerträglich“ erscheint unterscheiden.

Man kann sich auch mit guten Gründen gegen das Tragen der Burka aussprechen, ohne sie allerdings verbieten zu müssen. Man kann sich umgekehrt gegen den Verzehr von Schweinefleisch aussprechen, aber deshalb sollte man nicht verlangen, dass die Fleischhauer in Gebieten mit vielen Muslimen kein Schweinefleisch verkaufen sollten.

Eine neue Gesellschaft von Verboten?

Ich finde ohnedies die Sucht nach zunehmenden Verboten problematisch, weil sich dann die Politik oft eine ausführlichere Argumentationen und Überzeugungsarbeit ersparen möchte. Manche Verbotsgesetze, so begründet sie sein mögen, sind oft auch Ausdruck einer neuen „korrekten“ Intoleranz.

Toleranz, Anerkennung und Respekt zeugen keineswegs von Mangel an Meinungen und Überzeugung. Es bedeutet nur, dass die eigene Überzeugung und Haltung nicht sofort in allgemein gültige Gebote und Verbote umgesetzt werden müssen. Wir sollten nicht neuerlich in eine Gesellschaft der obrigkeitsstaatlichen Verbote hineinstolpern.

Über all diese Fragen wollen wir heute und morgen diskutieren und streiten. Ziel ist auch gar nicht mit einer einzigen Meinung aus unseren Gesprächen zu kommen. Ziel ist die Anerkennung und der Respekt für andere Meinungen, die wir hoffentlich als erträglich ansehen können.