Woher kommen die jüngsten Gewalttaten?

Die furchtbaren Attentate in Paris und Kopenhagen sowie die insgesamt deutlicher gewordene Gefahr terroristischer Anschläge in Europa geben sicher Anlass über die Hintergründe und Ursachen dieser Anschläge nachzudenken. Zuerst muss allerdings klargestellt werden, worum es sich handelt. Es sind unentschuldbare und durch nichts zu rechtfertigende Verbrechen. Begangen von Menschen, die sich wider aller religiöser Einsicht und Lehre anmaßen, Gott zu spielen und über Leben und Tod zu entscheiden. Und dennoch, will man solche Anschläge soweit als möglich verhindern, muss man sich über die Ursachen und Quellen des Terrorismus Gedanken machen. Dabei scheinen mir mono-kausale Erklärungen allzu einfach und nicht überzeugend. Wie oft in solchen Fällen wirken verschiedene globale, lokale und persönliche Momente eine Rolle. Und natürlich kann die Berufung auf religiöse „Werte“ nicht völlig ausser Acht gelassen werden.

Unmittelbare Ursachen

Der persönliche und familiäre Hintergrund der Attentäter wurde vielfach beleuchtet. Die schwierige Jugend, der Verlust eines Elternteils und die Randsituation in den entsprechenden Stadtteilen führten zum Teil zu Kleinkriminalität und in der Folge zu Gefängnisaufenthalten. Und gerade dort wird oftmals der Jihadismus den jungen Menschen eingepflanzt. Es ist gut, dass der französische Premierminister jüngst der „ethnischen Apartheid“ den Kampf angesagt hat. Und die gibt es ja nicht nur in Frankreich. Integration setz nämlich auch (!) eine offene, einladende und Chancen gebende Gesellschaft voraus. Gerade aber die „asymmetrischen“ Verhältnisse, die man in vielen unserer Länder vorfindet und die entsprechend unterschiedlichen Lebensbedingungen arbeiten gegen eine Gesellschaft der Toleranz, des gegenseitigen Verständnisses und des friedlichen Zusammenlebens. Was also viele als Parallelgesellschaften kritisieren kann durchaus auch als de facto Apartheid dargestellt werden.

Terrorismus und Islam

Nun kommt dieser Jihadismus mit seinem „religiösen Mäntelchen“ ja auch nicht von ungefähr. Ist er dem Islam eigen und eine notwendige Konsequenz des muslimischen Glaubens ? Nun einige, vor allem solche, die sich nicht mit dem Islam und seiner Geschichte beschäftigt haben ziehen diesen Schluss. Aber warum gibt es dann so viele Muslime, die den Terrorismus ablehnen? Und warum sind die meisten Opfer des Terrorismus selbst Muslime? Richtig ist allerdings, dass es im Islam sehr unterschiedliche Strömungen gibt. Da gibt es ja nicht nur die Unterscheidung zwischen der sunnitischen und der schiitischen Glaubensrichtung. Gerade diese Unterscheidung wird von einigen dazu verwendet, um ihre Macht gegen andere „Ungläubige“ durchzusetzen. Man kann auch nicht behaupten, je strenggläubiger Muslime sind, desto gewaltbereiter sie sind. Es gibt auch viele strenggläubige Salafisten, die Gewaltanwendung ablehnen. Und es gibt viele gewaltbereite Jihadisten, die keineswegs strenggläubig sind und sich an die Gebote des Islam ( des Korans, der Scharia etc.) halten. Sowohl der Koran selbst, als auch die Scharia bieten ja sehr verschiedene Ingerpretationsmöglichkeiten. Und es gab im Laufe der Geschichte sehr viele reformorientierte Gelehrte und Strömungen, die allerdings immer wieder von Fanatikern und Radikalen angegriffen wurden. Auf die „liberaleren“ Interpretationen und Interpreten innerhalb des Islams zurückzugreifen wäre eine Unterstützung für das friedliche Zusammenleben zwischen Anhängern verschiedener Religionen und mit Menschen ohne Glaubensbekenntnis.

Dennoch müssen sich muslimische Gelehrte und PolitikerInnen die Frage nach eventuellen Wurzeln der Gewaltbereitschaft im Islam selbst gefallen lassen. Ich weiß, dass sich viele Muslime scheuen, sich nach jedem terroristischen Anschlag von diesem zu distanzieren. Sie sind ja als Muslime nicht verantwortlich für den Terrorismus, genauso wenig wie sich jeder Christ für die Untaten christlicher PolitikerInnen und Militärs zum Beispiel im Irak oder in anderen muslimischen Ländern verantwortlich fühlen muss. Oder wie sich eine französische Muslimin ausdrückte: „Man verlangt ja ich nicht von allen Männern sich nach jeder Vergewaltigung sich davon öffentlich zu distanzieren. Und überdies sollten wir nicht jeden und jede, die z.B. arabischer, iranischer, indonesischer etc. Herkunft sind, primär als Muslime ansprechen und ihnen vor allem eine muslimische Identität verschaffen. Selbst die praktizierenden Muslime haben viele noch andere Identitäten.

Aber Kritik – vor allem auch inner-islamische – an verschiedenen konservativen und „jihadistischen“ Interpretationen gibt es ja unabhängig vom Terrorismus. Und so wie sich die verschiedenen christlichen Religionen Kritik gefallen lassen müssen bzw. mussten, was alles in ihrem Namen im Zuge des Kolonialismus angestellt wurde, sollte im Islam in seinen verschiedenen Ausprägungen und Richtungen eine offene und rege Debatte über das Verhältnis von Religion und Toleranz bzw. Gewalt stattfinden. Auch wenn der Islam keine Kirche mit klarer Hierarchie darstellt, würde eine solche Debatte unter Religionsverantwortlichen der breiten Akzeptanz dieser Religion in nicht islamischen Gesellschaften gut tun. In wie weit das die oftmals eingeforderte Reformation, Aufklärung und Modernisierung des Islam bringen würde kann schwer vorhergesagt werden. Aber dem Kampf gegen den Terrorismus, der ja wie schon erwähnt unter den Muslimen die größten Opfer verursacht, würde eine solche Auseinandersetzung jedenfalls helfen.

Dazu bedarf es aber auch einer offenen, ehrlichen und auf wissenschaftlichen Grundlagen basierenden Auseinandersetzung. Insbesondere in den arabischen Staaten bestehen aber diese Bedingungen nur sehr eingeschränkt. Wie die immer wiederkehrenden Berichte der UNDP über die arabische Welt ( UNDP Human Development Report ) zeigen, ist ein deutliches Zurückbleiben ja oft Zurückfallen vor allem im Bildungsbereich festzustellen. Auf der anderen Seite schreitet die religiöse Unterrichtung, meist in mechanischer und dogmatischer Art voran und verdrängt die übrigen Bildungsinhalte. ( Leider gibt es auch in der Türkei solche Tendenzen. )Das sind Feststellungen , die von den arabischen AutorInnen dieser Berichte getroffen werden und die immer wieder von arabischen Wissenschaftlerinnen und Literaten bestätigt werden. Manches an diesen Rückständen kann auf den osmanischen und westlichen Kolonialismus zurückgeführt werden. Aber vieles ist auch den herrschenden politischen und zum Teil religiösen Strukturen zuzuschreiben. Nichts von diesem Zurückbleiben ist im Islam als solchem angelegt oder genetisch begründet.

Die herrschenden Interessenlagen und die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen sind Ursachen und zugleich Folgen dieser Rückständigkeit. Und sie führen bei arabischen bzw. muslimischen Jugendlichen genauso zu Frust und Unzufriedenheit wie deren wirtschaftliche und soziale Diskriminierung in den europäischen Ländern. Diese Verhältnisse zu ändern ist eine gemeinsame Aufgabe Europas und der arabischen Welt – aus der gemeinsamen Geschichte heraus und im Interesse einer gemeinsamen, sicheren und friedlichen Zukunft.

Terrorismus und „unser“ christliches Europa

Der Erfolg einer solchen inner-islamischen Auseinandersetzung setzt aber voraus, dass auch die westliche, sogenannte christliche Welt sich ihrer eigenen Verantwortung bewußt wird. Und dabei geht es nicht nur um ein nachträgliches Schuldeinbekenntnis was den Kolonialismus betrifft. Denken wir an die immer wiederkehrenden militärischen Interventionen in muslimischen Ländern in den letzten Jahrzehnten. Denken wir an die durch die CIA organisierten Verschleppungen ( zum Teil unter Mithilfe europäischer Regierungen ) und an Guantanamo, das noch immer nicht ganz geschlossen wurde. Denken wir an Folter und Grausamkeiten in US amerikanischen Gefängnissen im Irak. Denken wir an die Einseitigkeit der Amerikaner (und vieler europäischer PolitikerInnen ) im Nah -Ost Konflikt. Und wenn wir all das mit der vielfachen Diskriminierung von Muslimen z.B. in Europa in Verbindung bringen, dann haben wir eine weiter Wurzel des Terrorismus. Ein Zeichen für diese Diskriminierung ist schon allein die Tatsache, dass der so selbstverständlich Satz wie : „der Islam gehört zu Europa“ noch immer auf so viel Widerstand. Ablehnung und Kritik stößt. Aber um es nochmals deutlich und klar zu sagen, das alles sind mit-verursachende Elemente und keine Rechtfertigungen.

Wir können in Europa den Kampf gegen den sich islamistisch gebärdenden und rechtfertigenden Terrorismus nur dann gewinnen, wenn wir die Muslime auf unserer Seite haben. Und angesichts der überwiegend muslimischen Opfer sollte das vom Grundsatz her nicht schwierig sein. Allerdings ohne Änderung der Politik gegenüber der muslimischen Welt im Inneren unserer Länder und vor allem in unserer Nachbarschaft kann das nicht gehen. Und da müsste Europa sich nicht selbst als Regionalpolizei aufspielen und dann das Chaos wie in Libyen den Bewohnern überlassen. Und es müsste auch gegen die USA und ihrer Rolle als Weltpolizei auftreten.

Die Auseinandersetzung mit diktatorischen Nachbarn und die Unterstützung demokratischer Kräfte muss viel subtiler erfolgen, als durch militärische Eingriffe. Alle Maßnahmen die eine weltoffenne und wirtschaftlich interessierte Mittelklasse fördern sind viel billiger und letztendlich erfolgreicher als Militärinterventionen. Die Geschichte der letzten Jahrzehnte hat das bewiesen. Und darüberhinaus müssten wir auch den Palästinensern zu dem seit Jahrzehnten versprochenen Staat verhelfen, jedenfalls gleiche Rechte für alle in Palestina/Israel lebend Menschen einfordern und sichern. Die Geschichte und Gegenwart Europas ist mit der der arabischen Welt und die des Christentums mit der des Islams und des Judentums so eng verbunden, dass eine Trennung weder möglich noch sinnvoll ist. Nur in gemeinsamem Dialog und mit abgestimmter Politik kann Sicherheit und Frieden für Europa und die Nachbarn gewährleistet werden.

Was jedenfalls festgestellt werden muss, ist dass wir uns nicht in einem „conflict of civilizations“ befinden. Jedenfalls nicht in einem Konflikt zwischen Islam und dem Christentum. Es gibt einen Konflikt zwischen gewaltbereiten Fundamentalisten und all jenen, die Toleranz und Akzeptanz vertreten. Das ist der Konflikt mit dem wir es zu tun haben und der ging und geht noch immer durch alle Religionen und betrifft auch Nicht- Gläubige. Und wenn wir den Konflikt so definieren, dann – und nur dann – können wir eine Anti-Terrorismus Koalition mit Aussicht auf Erfolg begründen.