Yalta in Kiew

Diesmal fand die seit 11 Jahren stattfindende Konferenz der „Yalta European Strategy“ in Kiew statt – aus einsichtigen Gründen. Auch wenn die Anreise nach Kiew und die Abreise von der ukrainischen Hauptstadt einfacher ist als jene nach und von Yalta, so vermisste ich Yalta und sein Flair sehr. Und selbstverständlich vermissen die Ukrainer Yalta und die ganze Krim noch mehr, und das ist viel entscheidender. Manche meinten auf der Konferenz, Yalta werde bald wieder zur Ukraine gehören, andere wieder waren da durchaus realistischer. Diese Halbinsel hat jedenfalls eine wechselhafte Geschichte. Sie ist den Osmanen Ende des 18. Jahrhunderts vom zaristischen Reich kriegerisch abgenommen worden. Sie war Gegenstand des expansionistischen Drangs des Zarenreichs nach Süden, insbesondere ans Schwarze Meer, nicht zuletzt um einen freien Zugang zum Mittelmeer zu haben. Und deshalb auch die Kämpfe mit den Türken. Eigentlich könnte ja die heutige Türkei auch Besitzansprüche stellen, betrachtet man die Geschichte der Krim. Wenn daher vom eigenartigen Geschenk der Krim durch Chrutschow an die Ukraine gesprochen wird, dann sollte man auch die längere wechselhafte Geschichte dieser Halbinsel beachten. Jedenfalls war die Krim auch vor der Übertragung an die Ukraine nicht immer Teil Russlands!

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Nun, zurück zur Kiewer Tagung: Victor Pinchuk, ein liberaler, „westlich“ orientierter und kunstsinniger Oligarch – wahrscheinlich der zweit-reichste der Ukraine, hinter Achmetov – hat wieder einmal zum Yalta European Strategy Treffen eingeladen, diesmal ins sonnige Kiew. Er ist der Gründer und weitgehend auch der Finanzier dieses Forums. Vorsitzender des Direktoriums ist der ehemalige – sozialdemokratische – Präsident Polens, Aleksander Kwasniewski. Ich nahm zum dritten Mal an dieser Tagung Teil und diesmal war sie durch besonders interessante und spannende Diskussionen gekennzeichnet. Putin hat uns viel Stoff für die Debatten geliefert.

Politische Spaltungen in der Ukraine

Die politische Landschaft in der Ukraine ist sicher sehr gespalten. Ich meine nun nicht nur die offensichtliche Spaltung zwischen dem Westen und einem Teil des Ostens, zwischen westlichen und pro-russischen Kräften. Auch innerhalb der klar sich zur Einheit der Ukraine bekennenden Kräfte gibt es deutliche Meinungsunterschiede. Präsident Poroshenko, der die Konferenz in Kiew eröffnete, verteidigte klar und deutlich die territoriale Integrität der Ukraine. Aber er ist Realist genug, um jedenfalls einen Kompromiss mit Russland zu versuchen. Er hat das Abkommen zu einem Waffenstillstand ausgehandelt und verteidigt dies auch klar. Ihm ist – auf Grund seiner bisherigen Aktivitäten – auch zuzutrauen, dass er das Land aus seinen verschiedenen Krisen führt, auch wenn das nicht leicht sein wird. Unterstützung bekam er dabei vom Präsidenten des Europäischen Parlaments, Martin Schulz. Skeptischer und kritischer gegenüber diesen Friedensbemühungen gab sich der estnische Präsident Toomas Ilves. Er, der schon als mein Kollege im EU-Parlament aus seiner anti-russischen Haltung keinen Hehl daraus gemacht hat – die Esten haben allerdings auch viel negative Erfahrung mit Russland bzw. der Sowjetunion – plädierte sehr stark für interne Reformen, aber warnte vor zu viel Vertrauen gegenüber Russland. Was allerdings die Reformen betrifft, so brachte Ilves ein interessantes Argument vor. Zu Beginn des Zerfalls der Sowjetunion war nach Meinung der Deutschen Bank die Ukraine das Land mit den besten Überlebenschancen. Aber dann begann der selbstverschuldete Abstieg, und heute rangiert es weit hinten.

Premier Minister Yatsenyuk gab sich einmal mehr als Hardliner. Seiner Meinung nach möchte Putin schrittweise die gesamte Ukraine schlucken und schließlich die Sowjetunion wiederherstellen. Er zweifelt nicht an dieser aggressiven Absicht des russischen Präsidenten. Auf die Frage, ob er dann überhaupt einen Sinn darin sieht, mit Russland zu verhandeln, gab er keine klare Antwort. Im weiteren Verlauf der Debatte stellte er doch klar: er möchte schon verhandeln, aber nur unter dem „Genfer Format“, und das heißt mit den USA und Europa an der Seite der Ukraine, um nicht dem russischen Druck ausgeliefert zu sein. Und das ist durchaus ein vernünftiger Vorschlag, der auch von vielen anderen unterstützt wird. Was aber grotesk an der Haltung Yatzenyuks ist, ist die Leugnung, dass es auch einen internen Konflikt in der Ukraine gibt. Auf die Frage einer Diskussionsteilnehmerin meinte er, „there is no civil conflict in Ukraine“!

Richtig ist, dass nicht alle im Osten lebenden Menschen unter russische Herrschaft wollen. Aber richtig ist auch, dass es sehr wohl solche Menschen gibt, oder jedenfalls dass viele eine stärkere Autonomie wollen. Ich habe das selbst bei meinem Besuch in Charkow im Frühjahr dieses Jahres erlebt. Daher diesen Konflikt und das Verlangen nach starker Dezentralisierung zu leugnen, macht keinen Sinn. Viele haben Angst, dass eine weitgehende Dezentralisierung die Abspaltungstendenzen im Osten nur verstärken würden. Aber auch ohne Dezentralisierung gibt es diese Tendenzen, und sie haben im jetzigen zentralistischen Staat sogar zum – wenn auch von außen geschürten – Bürgerkrieg geführt.

Militärische Lösung?

Daher macht es auch keinen Sinn, wie das Yatsenyuk, aber auch einer der Initiatoren der Maijdan-Proteste, Mustafa Nayyem, getan haben, nur von Terroristen zu reden. Ja, die gibt es, aber es gibt auch Rebellen. Mit Terroristen kann man keinen Frieden ausverhandeln, mit Rebellen schon. Diese können auch die Terroristen in Schach halten. Denn, rein militärisch ist der Konflikt nicht zu lösen. Immer wieder ist diese Frage diskutiert worden. Die überwiegende Meinung war, dass Krieg keine Lösung bringen kann. Allerdings haben sich einige wenige schwer mit dieser Aussage getan. Und einige bedauerten sogar, dass die Ukraine im Budapester Abkommen auf Atomwaffen verzichtet hatte. Und den Bruch dieses Abkommens durch Moskau, im konkreten der damals vereinbarten Anerkennung der territorialen Integrität, wollten so manche zum Anlass nehmen, die Frage einer atomaren Bewaffnung wieder aufzunehmen. Der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer hat das klar als absurd zurückgewiesen und auf die Einhaltung des Atomwaffensperrvertrags gepocht.

Blieb die Überlegung einer atomaren Bewaffnung eine extreme Minderheitsmeinung, so wurde die Frage eines Beitritts zur Nato schon breiter diskutiert und auch unterstützt. Manche verwiesen allerdings, um einer klaren Antwort auszuweichen, darauf, dass sich diese Frage ja schon seitens der NATO nicht stellt. Andere wieder argumentierten, man sollte alle Formen an NATO Kooperation – ohne formelle Mitgliedschaft – anstreben. Kurzfristig gedacht, ist das Verlangen eines Schutzes durch die NATO sicherlich verständlich, allerdings auch kurzsichtig. Denn auch diese Strategie führt in die Irre: diese Debatten provozieren nur die Russen, ohne dass der NATO-Schutz kommen würde. Wir brauchen vielmehr eine Konzeption, nach der die Ukraine die „westlichen“ Werte übernimmt und entsprechend umsetzt und dennoch ein fruchtbares Verhältnis zu Russland pflegt. Die Alleinansprüche, die zum Teil seitens der EU, aber vor allem auch seitens Russlands kamen, sind hier nicht zielführend. Die Annäherung an die EU sollte eine gute Zusammenarbeit mit dem Nachbarn Russland nicht ausschließen, auch wenn aktuell das Verhältnis gestört ist.

Putins Reaktion vorhersehbar?

So wurde auch die Frage der Einflusssphären der Großmächte und deren Berechtigung heute diskutiert. Hat Russland ein Recht, bei der Gestaltung seiner Nachbarschaft mitzureden und die freie Entscheidung seiner Nachbarn einzuschränken? Der britische und in den USA lehrende Niall Ferguson meinte – auch mit Hinweis auf Kissingers neuestes Buch – es war ein Fehler Europas, die besondere Empfindlichkeit Russlands zu missachten. Zwar plädierte er für ein härteres Vorgehen gegenüber Russland nach der Annexion der Krim, aber vorher hätte man stärker auf Russlands Gefühle und Vorstellungen eingehen müssen.

Von Seiten der EU kommt immer wieder der Einwand, diese starke und extreme Reaktion Putins war nicht vorauszusehen, damit wurde von Putin nie gedroht. Dabei hat mich während der Tagung auch eine lettische EU-Abgeordnete daran erinnert, dass ich sie kritisiert habe, als sie und einige KollegInnen einen Brief an Obama geschrieben haben und vor dem angekündigten Reset, also einem Neubeginn der Beziehungen zu Russland gewarnt haben. Sie hätten ja eigentlich vor einer naiven und allzu optimistischen Haltung im Zusammenhang mit dem Assoziierungsabkommen und den möglichen russischen Reaktionen warnen müssen. Aber es waren zum Teil dieselben, die einen starken Druck innerhalb der EU auf Abschluss des Abkommens mit der Ukraine ausgeübt haben, die anderseits Russland nie getraut und Putin sogar mit Stalin verglichen haben.

Und es gab ja auch etliche Experten, die das getan haben. Auf der anderen Seite kann man auch kritisieren, dass die EU Putin bzw. Präsident Medwejdew angesichts seines konkreten Vorschlags einer Sicherheitspartnerschaft keine Angebote gemacht hat. Vielleicht stimmt es, dass Russland mit seinem Vorschlag Europa und konkret die EU von dem amerikanischen Partner trennen wollte. Aber es gab keine ernst zu nehmenden Antworten seitens der EU mit Alternativ-Vorschlägen zum „Medwejdew Plan“. Damit unterstütze ich nicht die simplen Thesen von John J. Mersheimer unter dem Titel: „Schuld hat erst mal der Westen“. Aber man sollte es sich nicht so einfach machen und all seine Argumente beiseiteschieben und in Russland per se den neuen bzw. alten Feind sehen.

In diesem Zusammenhang ist auch die von Joschka Fischer vehement vertretende These zu bedenken, dass Putin weniger auf das Assoziierungsabkommen, sondern vielmehr auf den Maidan reagiert habe. Er habe weniger Angst vor der wirtschaftlichen Verflechtung mit der EU als vor einem Heranrücken von Demokratie und gesellschaftlicher Öffnung an die Grenzen Russlands. Erst der Sturz von Janukowich infolge der Ablehnung eines jeglichen Kompromisses mit dem autoritären Präsidenten durch die Maidanbewegung hat Putin auch persönlich Angst gemacht. Die umfassende Orientierung an westlichen Werten, das ist es, was Putin herausgefordert hat.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich auf die Parallelität zwischen Putin und Zar Nikolaus den Ersten verweisen. Der in der russischen Geschichte versierte Wissenschaftler Charles King meinte in seinem Werk über das Schwarze Meer: „The trinity of Orthodoxy, autocracy, and nationality – the three components of the official state ideology developing during Nichola’s reign – affirmed the central place of church in Russia’s social life, the absolute power of the tsar as sovereign, and the romantic attachment to the Russian nation, even to a pan-Slavic brotherhood, as the embodiment of the ideals of the state.“ Besser kann man den Putin von heute nicht charakterisieren, als es Charles King in Bezug auf Nikolaus den Ersten getan hat. Man kann höchstens über die Gewichtung und Reihung innerhalb der Dreieinigkeit von Orthodoxie, Autoritarismus und Nationalismus bei Putin diskutieren. Aber alle drei Elemente kennzeichnen und bestimmen Putins innere und äußere Politik.

Werte versus Realpolitik!

Ein weiteres diskutiertes Problem ist, dass die EU und die USA mit der Verurteilung des russischen Vorgehens und ihren Sanktionen gegenüber Putin sehr allein gelassen wurden. Der ehemalige EU-„Außenminister“ Solana wies darauf hin, dass sich weder Israel noch China oder Brasilien und Argentinien etc. dem diesbezüglichen Resolutionsentwurf in der Generalversammlung der Vereinten Nationen angeschlossen haben. Ein Hong Kong-Chinese mit US-Staatsbürgerschaft, Ronny C. Chan, verwies auf die vorsichtige und pragmatische Haltung Chinas. China braucht Energie und hat die schwache Situation Russlands ausgenützt, um einen Gas-Liefervertrag zu günstigen Bedingungen abzuschließen. Es hatte also keine Veranlassung sich in einer europainternen Frage zu profilieren. Und das gilt auch für viele andere Länder. Sie haben nicht diese Schwarz – Weiß Sicht, die wir in Europa haben. Im Übrigen meinte Ronny Chan, die Ukraine sollte sich vielleicht politisch an Europa orientieren, aber wirtschaftlich an Asien, insbesondere an China. Und mit Hinweis auf seine kleine Statur meinte er, die kleineren Länder sollten sich gegenüber den größeren Nachbarn besonders vorsichtig verhalten, er habe das als Kleiner auch immer machen müssen.

Die wertgeleitete Kritik an Russlands Außenpolitik, aber auch an Putins konservativer bis reaktionärer Gesellschaftspolitik, wird ja nicht überall geteilt. Manchen Ländern, oder jedenfalls Regierungen geht die moralisierende und belehrende Haltung der EU schlicht auf die Nerven und daher sehen sie auch keinen Anlass, sich in den nach ihrer Sicht internen Streit in Europa einzumischen. Im Übrigen sind auch wir nicht konsequent. Die laufende Annexion palästinensischer Gebiete durch Israel wird zwar kritisiert, aber nicht mit ähnlichen Sanktionen geahndet wie im Falle Russlands. Auch zu verschiedenen Abspaltungen und Sezessionen gab es – wenngleich durchaus argumentierbar – unterschiedliche Haltungen des „Westens“. Jedenfalls wird das international so gesehen. Und so ist durch die Annexion der Krim und durch die militärischen Intervention in der Ukraine eindeutig internationales Recht verletzt worden – und das sollte ein Mitglied des UN-Sicherheitsrates keineswegs tun. Aber dass dadurch, so wie das einige Diskussionsteilnehmer meinten, eine völlig neue internationale Ordnung bzw. Unordnung entstanden sei, ist keineswegs nachvollziehbar.

Außerdem gab es solche Verletzungen seitens Russlands auch gegenüber Moldawien und Georgien. Das rechtfertigt nun keineswegs die Aktionen gegen die Ukraine, aber es rechtfertigt auch nicht, von einer völlig neuen globalen Situation zu sprechen und einer neuen Militarisierung das Wort zu reden. Wenn, dann sollte man endlich die Effizienz der europäischen Verteidigungsausgaben durch Abstimmungen und Koordination der Waffenkäufe etc. erhöhen, wie dies mit Recht der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, verlangt hat. (Er ist übrigens einer der wenigen westlichen Experten, der – an anderer Stelle – eine klare Exit-Strategie des Westens aus der Krise entworfen hat, die es wert ist, zu verfolgen!)

Energieversorgung gefährdet?

Selbstverständlich war auch die Energieversorgung der Ukraine ein Thema der Diskussionen. Ein der Putinschen Politik hinsichtlich der Ukraine gegenüber kritisch eingestellter Experte aus Russland hoffte auf eine erfolgreiche Vermittlung der EU unter dem Noch-Kommissar Öttinger. Russland und die Ukraine befinden sich ja in einem Schlichtungsverfahren, und so sollte man jetzt einen vorläufigen Gaspreis vereinbaren, der dann nach dem Schiedsspruch nachjustiert werden kann – nach oben oder nach unten. Was die Kohlekraftwerke betrifft, können die Kohleversorgung und die Kraftwerke selbst innerhalb von vier Wochen hergestellt werden – wenn der Waffenstillstand hält.

Klar wurde auch, dass noch auf längere Zeit die gegenseitige (!) Abhängigkeit der EU und Russlands hinsichtlich der Gasversorgung besteht. Die jüngste Vereinbarung mit China ersetzt weder vom Umfang noch vom Zeitpunkt der tatsächlichen Gaslieferungen her den europäischen Markt. Gazprom braucht den dringend. Und auch die europäischen Maßnahmen der Diversifizierungen brauchen Zeit, wenngleich wir das schneller tun können, als dass Russland den europäischen Markt ersetzen könnte. Europa ist im Vorteil, auch weil das globale, nicht-russische Angebot von traditionellem und unkonventionellem Gas inklusive Flüssiggas in den nächsten Jahren stark zunehmen wird. Natürlich wäre es viel vernünftiger, wenn wir uns nicht auf einen Gaskrieg einlassen würden, sondern eine vernünftige Wettbewerbs- und Kooperationsstrategie entwickeln und umsetzen würden.

Neue Weltunordnung?

Die Ukraine Krise und die Haltung Putins ist sicherlich ein Rückschlag für die internationale Friedensordnung nach 1945. Aber es wäre verfehlt, nun eine neue Unordnung zu beklagen. Sowohl Xavier Solana als auch Mohammed ElBaradei aus Ägypten haben klar gemacht, dass es in den letzten Jahren immer wieder Verletzungen des internationalen Rechts gab. Auch nach der Ausrufung der „Neuen Weltordnung “ durch Präsident George Bush Senior nach dem ersten Irak-Krieg gab es sie – von den Verletzungen internationalen Rechts durch seinen Sohn George W. Bush ganz zu schweigen.

Dass gerade das Verhältnis Russlands zur EU von einer deutlichen Verschlechterung betroffen ist, ist besonders bedauerlich. Aber durch eine einige, aber gleichzeitig pragmatische und kluge Politik kann manche Verletzung geheilt werden. Wenn viele auf der Konferenz die langsame Reaktion des Westens bedauerten, dann hat diese Langsamkeit auch gewisse Vorteile, sie bewahrt uns vor Überreaktionen. Und die jüngste „Vereinbarung“, das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine so umzusetzen, dass negative Auswirkungen auf die Wirtschaftsbeziehungen der Ukraine mit Russland nochmals überprüft werden können, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Nicht nur die EU als solches, sondern insbesondere auch die Ukraine braucht gute – wirtschaftliche – Beziehungen zu Russland.

Ein umfassender Reformprozess muss in Gang kommen!

Die verzögerte bzw. einseitige Umsetzung des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine darf nun nicht die Reformfreudigkeit in der Ukraine abschwächen. Das hat glücklicherweise Premierminister Yatsenyuk auf Anfrage klar gemacht. Viele Wirtschaftsvertreter haben das ebenfalls eingefordert. Dabei darf man aber keine Illusionen haben, das wird ein schwieriger und längerer Prozess: die oligarchischen Strukturen in demokratische überzuführen. Wie Premier Minister Yatsenyuk selbst zugab, da ist nicht viel zu tun. Und auch auf die Frage eines jungen Maidan-Demonstranten, was denn die PolitikerInnen seit der Unabhängigkeit der Ukraine diesbezüglich gemacht haben, blieb unbeantwortet. In 20 Jahren sollte man diese Frage gar nicht mehr stellen müssen. Und diese Reformen sind es auch, die dann Investoren anlocken und auch eine europäische Hilfe sinnvoll machen. Denn all die vergangenen Jahre haben gezeigt – im Osten Deutschlands, aber auch in manchen Erweiterungsländern – dass Geld nur dorthin fließen soll, wo eine entsprechend effiziente Aufnahmekapazität geschaffen wurde. Dabei musste ich allerdings auch feststellen, dass manche der Rat gebenden Experten unter Reformen nur die Um- und Durchsetzung des reinen Neo-Liberalismus verstanden. Auch der führt in die Irre, wie wir heute wissen.

Aber der Maidan hat ja nicht nur einen Kampf gegen die Korruption eingefordert, sondern auch die Meinungs- und Medienfreiheit, eine unabhängige Justiz etc. Im Maidan-Tagebuch von Andrej Churkow kommen diese Hoffnungen klar zum Ausdruck. Aber er sagt auch, dass sie nicht im gleichen Ausmaß in allen Regionen vertreten und eingefordert wurden. Schon da hätte klar sein müssen, dass eine forcierte Durchsetzung dieser „revolutionären“ Ziele das Land spalten können würde. Ich verstehe allerdings den Unmut der Demonstranten über die repressive Oligarchie und den Unwillen der jeweils Regierenden, seit der Unabhängigkeit einen echten Demokratisierungsprozess einzuleiten. Auch die Versuche, die ich selbst namens der sozialdemokratischen Fraktion unternommen habe, die Partei der Regionen in eine sozialdemokratische Richtung zu bewegen, bleiben folgenlos. Janoukowich, Azarow, Klujew, Kouchara sie alle waren meine und meiner KollegInnen Gesprächspartner. Aber angesichts ihrer Unbeweglichkeit habe ich mich geweigert, das Kooperationsabkommen mit der Partei der Regionen zu verlängern. Ich hatte auch keine Illusionen über Julia Timoschenko, auch wenn ich die Versuche der vom EU-Parlament eingesetzten Cox/Kwasnieski-Kommission zu ihrer Befreiung aus dem Gefängnis voll unterstütze.

Vielleicht war keine andere Lösung des inneren Konflikts möglich als das Davonjagen von Präsident Janukowich. Und wenn Joschka Fischer Recht hat, dann war Putins Reaktion darauf ebenso unvermeidlich. Auch die Argumente von Niall Ferguson und General Wesley Clark, man hätte sofort mit Manövern im Schwarzen Meer auf Putins Drohungen hinsichtlich der Krim reagieren sollen, wären nur dann stichhaltig, wenn die NATO bzw. die USA bereit gewesen wären, zu kämpfen. Wie dem auch sei, wir müssen jetzt einen Ausweg aus der verfahrenen Situation finden – ohne, dass eine Seite das Gesicht verliert.

Präsident Poroshenko könnte es mit überlegter, westlicher Unterstützung schaffen und man kann nur hoffen, dass nach der Parlamentswahl ein systematischer Umbau des politischen und wirtschaftlichen Systems der Ukraine beginnt. Vom Kampf gegen die Korruption über eine effiziente Dezentralisierung bis zu einer wirklich unabhängigen Justiz muss eine neue Ukraine entstehen. Wir brauchen kein Novorussiia in Erinnerung an die zaristische Eroberungen, sondern eine unabhängige Novaukraina. Eine solche starke und neue Ukraine ist das beste „Bollwerk“ gegen eine Aggression von außen.

Mit dieser Hoffnung verliess ich das sonnige Kiew. Der Maidan, geräumt von den Überresten der revolutionären Besetzung, erstrahlt als ein schöner, friedlicher Platz am Ende einer längeren städtischen Flaniermeile. Die Umsetzung der revolutionären Forderungen nach einem den BürgerInnen verantwortlichen Staat muss erst erfüllt werden. Die Auseinandersetzungen mit Russland erschweren diese Umsetzung. Aber wie Präsident Poroshenko sagte, der Krieg darf kein Grund sein, alles beim alten zu belassen.