Zeit zur Freude – Zeit zum Zorn

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Berlin

Ein Beitrag des unkonventionellen, linken Philosophen Slavoj Zizek, veröffentlicht in der Herald Tribune und in Le Monde, hat mich veranlaßt, einen kleinen Kommentar zu schreiben. Slavoj Zizek nimmt den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 zum Anlass, die Entwicklungen in der Zeit danach zu analysieren. Für ihn ist der Zusammenbruch der kommunistischen Regimes und der sowjetischen Herrschaftsstrukturen in Europa ein Anlass zur Freude. Ich sehe das genau so. Ich hatte Tränen in den Augen, als ich im Fernsehen die Bilder aus Berlin sah, genau so wie damals, als ich die Berichte aus Prag sah und jene von der Öffnung der Grenze zwischen Ungarn und Österreich. Wir brauchen auch solche Augenblicke des Glücks und der Solidarität mit jenen, denen die Geschichte hilft, aus dem bisherigen, erniedrigenden und traurigen Leben auszusteigen.
Aber es gibt eben kein Ende der Geschichte. Der „Erfinder“ dieser Theorie, Francis Fukuyama, hat dies inzwischen selbst eingesehen. Es gibt kein „happy end“, insgesamt. Geschichte verläuft nicht so eindimensional. Slavoj Zizek bringt in diesem Zusammenhang die tragische Geschichte von Victor Kravchenko, der aus der Sowjetunion in die USA überlief, um „die Freiheit zu wählen“. Aber dort erlebte und kritisierte er die Verfolgungen durch den extrem antikommunistischen Senator Joseph McCarthy. In der Folge versuchte er in Bolivien, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern, denn er „wählte die Gerechtigkeit“, denn die Freiheit war ihm nicht genug für ein Leben in Würde. Als er auch diesbezüglich scheiterte war, wählte er den Freitod.
Für uns Sozialdemokraten ist der Freitod allerdings keine Wahl. Wir wollen die Freiheit, und wir wollen die Gerechtigkeit – und zwar nicht nur individuell, sondern für die Menschheit insgesamt. Genau davon handelt die progressive Programmatik zum Unterschied von der konservativen. Freiheit und – insbesondere soziale – Gerechtigkeit sind die Ziele unserer Bewegung. So sollen wir uns über die gewonnene Freiheit unserer „östlichen“ MitbürgerInnen freuen. Aber wir sollen zornig sein darüber, dass weder unsere Nachbarn noch wir selbst, aber auch die meisten Menschen auf dieser Welt ein ausrechendes Mass an sozialer Gerechtigkeit genießen können. Die meisten Menschen können nicht in jener Würde leben, die sie verdienen. Da muss die Sozialdemokratie, da muss progressive Politik einsetzen. Bei der Gesundheitsreform in den USA geht es genauso um die Würde der Menschen wie bei der Verhinderung einer neuen Finanzkrise zu Lasten der sozial Schwachen. Und natürlich gilt das insbesondere für die Sorge um die Arbeitsplätze.
Die tragische Geschichte von Victor Kravchenko soll uns eine Lehre sein. Er war einerseits ein Kronzeuge gegen den Stalinismus und kämpfte anderseits gegen die Engstirnigkeit und Dummheit eines rechten Senators in den USA. Ihm war auch die Armut und Ungleichheit in der Dritten Welt ein Dorn im Auge. Als Einzelkämpfer schien ihm der Selbstmord der einzige Ausweg aus seiner Verzweiflung. Die Sozialdemokratie muss andere Lehren aus den Niederlagen der vergangenen Zeit ziehen. Mit neuen Anstrengungen müssen wir die „alten“ Ziele verfolgen.