Bruno-Kreisky-Preis: Charles Taylor – Ein säkulares Zeitalter

kreisky1__192Die Sozialdemokratie hat auf Grund ihrer marxistischen und aufklärerischen Wurzeln ein eher gespaltenes oder zumindest kritisches Verhältnis zu Religionen und Religionsgemeinschaften. Religion als Opium für das Volk bzw. als Verdummung der Massen wird zwar heute nicht mehr mit so extremen Bezeichnungen charakterisiert. Aber manchmal schwingt doch ein skeptischer Unterton in Debatten über Religionen mit. Es war allerdings gerade der Agnostiker Bruno Kreisky, der jedenfalls mit der Katholischen Kirche Frieden schloss und der sicher gerne in eine Diskussion mit Charles Taylor auch über sein Werk eingetreten wäre.

Das Werk von Charles Taylor behandelt Religionen und die verschiedenen Formen der Säkularisierung natürlich weit differenzierter und stellt Religionen in den jeweiligen historischen Kontext und die verschiedenen Zivilisationszusammenhänge. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die heutige Situation, in der sich alles innerhalb der Rationalität des eigenen Bereichs bewegt: „Im Wirtschaftsleben geht es um maximalen Profit, auf politischem Gebiet um den größtmöglichen Nutzen für möglichst viele Personen und so weiter. Das steht in auffälligem Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen das Christentum maßgebliche Vorschriften erließ, die – wie etwa das Verbot des Wuchers oder die Pflicht zur Durchsetzung des rechten Glaubens – oft von den Geistlichen verkündet wurden und in keinem dieser Bereiche ohne weiteres außeracht gelassen werden konnte.“

Eine säkulare Epoche kann nach Charles Taylor auch so beschrieben werden, dass „der Niedergang aller über das menschliche Gedeihen hinausgehenden Ziele denkbar wird“. Das aber, so Charles Taylor, führt oft zu einem „Unbehagen an der Moderne“. Einerseits werden die Menschen in der modernen „Kultur der Authentizität, des expressiven Individualismus“ ermuntert, „sich selbstständig zu orientieren, ihre eigene Erfüllung zu finden und auf eigene Faust zu handeln“. Anderseits jedoch „kann leicht das Gefühl aufkommen, dass wir etwas verpassen, von etwas abgeschnitten sind oder hinter einem Schutzschirm leben“. Es ist interessant, dass für Charles Taylor der Verzicht auf die Transzendenz und die ausschließliche Orientierung an der Immanenz immer etwas mit Ausschluss und Abgeschlossenheit zu tun hat.

Die Immanenz führt jedenfalls zu einem vielfältigen Unbehagen: Verlust von Gesamtbedeutung sowie der Möglichkeit, bestimmte Ereignisse besonders feierlich zu begehen und das Fade und die Leere der Normalität. Wichtig scheint mir allerdings der – wenngleich nicht näher ausgeführte – Hinweis, dass man nicht nur durch eine Wiederbelebung der Transzendenz, sondern auch rein immanent das Unbehagen mildern oder sogar beseitigen kann. Taylor gibt zwei Hinweise, wie wir das unternehmen können: einerseits dadurch, dass wir eine „neue Welt der Gerechtigkeit und des Wohlstands“ schaffen und andererseits dadurch, dass wir „der Natur und den Dingen in unserer Umgebung Resonanz“ verleihen.

Ich halte dies für durchaus zentrale Hinweise, gerade auch für die Sozialdemokratie. Denn eine rein materialistische Politik ohne Rücksicht auf Sinngebung und auf Versuche, die „Leere zu füllen“, wird immer äußerst mangelhaft bleiben. Wenn nun Religion und damit die Transzendenz keine Möglichkeit für die Politik darstellt, müssen meiner Meinung nach immanente Lösungen gesucht werden. Und da jedenfalls negative, nationalistische Lösungen ebenfalls nicht in Frage kommen, müssen verstärkt Angebote für mehr Gerechtigkeit und Fairness in und durch die Sozialdemokratie gestellt werden.

Durch eine stärkere Betonung der nicht unmittelbar materiellen Dimensionen unseres Lebens werden weder die marxistischen noch die aufklärerischen Wurzeln abgeschnitten oder verstümmelt. Auch wird den privaten transzendentalen Wüschen und Begehren der Menschen genug Raum gelassen. Gerade die neue Situation mit einer Vielzahl von Optionen auf religiösem Gebiet gibt einer laizistischen, aber doch auch auf Sinngebung orientierten Politik einen besseren Spielraum als die Enge der Zeit vor der Aufklärung. Oder, wie es der gläubige Mensch Charles Taylor ausdrückt: „Diese veränderte Plazierung (der Religionen) bietet jetzt die Gelegenheit zu neuen Umgestaltungen des spirituellen Lebens und zu neuen Daseinsformen mit und ohne Beziehung zu Gott.“

Interessant und lehrreich ist es auch, wenn Taylor von den „unruhigen Fronten der Moderne“ spricht. Er geht davon aus, dass „mehrere Wellen der modernen Reformen“ im Namen der Religion oder der „Zivilität“ sich bemüht haben „durch Organisation und Disziplin eine menschliche Ordnung zu schaffen“. In dieser Ordnung sollte es nur taktische Konzessionen an das Böse oder das weniger Gute geben. Aber wie wir gerade am heutigen Europa und den jüngsten politischen Entwicklungen in vielen Mitgliedstaaten der EU sehen, sind diese Bemühungen nur teilweise gelungen und die gesellschaftliche Situation bleibt fragil. Vielleicht war das Glück eines idealen gesellschaftlichen Zustands in Europa schon zu nahe und greifbar und wir haben die Kräfte, die es zerstören wollen, übersehen. Und vielleicht sind – so würde Taylor hinzufügen – die Leistungen der Zivilisation immer fragwürdiger geworden: „öde Industrielandschaften, zügelloser Kapitalismus, Massengesellschaft und ökologische Verheerung“.

Die gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche und soziale Situation bleibt fragil. Wenn wir jedoch die Dinge laufen lassen, so kann es, warnt Taylor, zum „Wiederaufleben der Gewalt nach dem Sündenbockmuster im Bereich des Christentums und in der säkularen Welt der Moderne“ kommen. Wir müssen uns daher gerade auch seitens der Politik bemühen, den Menschen Orientierungen für sinnvolle Zusammenhänge und Kontinuitäten anzubieten. „Der Glaube an Gott ist heute keine unabdingbare Voraussetzung mehr“, charakterisiert Charles Taylor die Moderne. Aber die Suche nach Sinn und Zielen über das „menschliche Gedeihen“ hinaus besteht weiter. Auch die Politik, insbesondere die Sozaildemokratie, muss drauf Antworten suchen und geben.