In der Türkei II

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Hatay

Die Maschine der Turkish Airlines nach Istanbul hat – vorläufig jedenfalls – eine Stunde Verspätung. Das schafft mir die Möglichkeit, den zweiten Teil meines Türkeiberichts am Flughafen von Hatay zu beginnen. Allerdings ist Flughafen etwas zuviel gesagt, denn es handelt sich um eine Wartehalle, die nicht alle Passagiere fassen kann. Aber noch vor wenigen Jahren gab es hier überhaupt keinen Flugplatz und ein neues Aufnahmegebäude ist in Bau.

Gute Beziehungen zu Syrien

Die späte Eröffnung eines Flughafens ist auch Ausdruck einer langjährigen Vernachlässigung der Region um Antiochien (Antakya). Kurz – in der Zwischenkriegszeit – bildete diese Region sogar einen eigenen Staat unter französischer Aufsicht. Dann jedoch wurde diese Region („Sandschak“) der Türkei zugeschlagen, was Syrien sehr verärgerte, lebten doch in diesem Gebiet viele AraberInnen. Und auch heute noch wird das Arabische weithin gesprochen, oder man sollte besser sagen wieder gesprochen. Denn in den ersten Jahrzehnten der Zugehörigkeit war es verboten, arabisch zu sprechen. In der Schule wurde den Kindern sogar eingetrichtert, auch zu Hause nicht arabisch zu reden.
Aber in den letzten zehn bis 15 Jahren hat sich das deutlich geändert. Und so hat sich auch das Verhältnis zwischen der Türkei und Syrien gewandelt. Syrien erhebt keine Gebietsansprüche, und Antiochien beginnt langsam wieder, eine lebendige Stadt zu werden – mit guten Beziehungen zum Nachbarn Syrien. Das passt auch generell zum weitaus besseren Verhältnis zu den arabischen Ländern. Bei einem Besuch in Syrien vor etwa zehn Jahren fragte uns noch ein syrischer Vizeaußenminister – mit zynischem Lächeln – ob wir wirklich meinten, die Türkei sei ein europäischer Staat. Jedenfalls sah er Syrien und die syrische Kultur als der Türkei überlegen an.

Fragen zu Gaza und Beitritt

So sehr sich das Verhältnis der Türkei zu den Arabern verbessert hat, so sehr hat es sich zu Israel verschlechtert. Und in all den Gesprächen – auch mit Nichtpolitikern – war die erste Frage, wie wir in Europa die jüngste Attacke auf das Schiff in den Gewässern vor Gaza sehen und das neue Verhältnis zu Israel beurteilen. Ich wiederholte hier meine Kritik an Israels Politik, insbesondere in Bezug auf Gaza, aber ebenso meine Meinung, dass die Türkei die Gesprächskanäle mit Israel aufrecht halten solle. Diese meine Meinung fand auch einen ausführlichen Niederschlag in der lokalen und regionalen Presse.
Die zweite Frage bezog sich auf den möglichen Beitritt der Türkei. Ich erläuterte die offenen Fragen und Schwierigkeiten und sagte, dass ein Beitritt jedenfalls vor zehn Jahren nicht erfolgen kann. Und selbst dann kann entweder die EU oder die Türkei einer engen Partnerschaft den Vorzug vor einer Vollmitgliedschaft geben. Wichtig sei es in den nächsten Jahren, gerade auch außenpolitisch eng zusammen zu arbeiten. Vom Nahen Osten über den Iran bis zum Südkaukasus. Und natürlich die Energiefrage nicht zu vergessen.

Schwierige Ausgangsbasis

Die dritte Frage bezog sich auf die finanzielle und wirtschaftliche Krise in der EU. Man wollte wissen, ob das Ärgste schon vorbei sei oder ob noch große finanzielle Bürden auf die EU zukommen. Sonst interessierten sich meine Gesprächspartner nicht sehr für die EU, und das bestätigte meine Meinung, dass sie nicht besonders an einem Beitrag zu Europa interessiert sind, sondern sich eher von Europa einen Beitrag zur Entwicklung der Türkei erwarten.
Und genau das macht das Beitrittsansuchen so problematisch. Sicher bildet da die Türkei nicht die große Ausnahme. Aber in Verbindung mit dem starken Nationalismus und der Größe des Landes ist eine Integration in die Strukturen der EU zumindest schwierig. Vielleicht ändert sich das in den nächsten zehn Jahren, aber sicher ist das nicht.

Schleichende Islamisierung?

Natürlich war auch die Frage der schleichenden Islamisierung der Gesellschaft ein Gegenstand der Diskussion. Der Bürgermeister aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Antakya meinte, bereits eine wachsende Bevorzugung von Frauen mit Kopftuch oder von Gläubigen, die das Fasten einhalten, zu verspüren.
Der Bürgermeister von Antakya aus der Regierungspartei AKP hingegen meinte, am laizistischen Staat habe sich nichts geändert. So tragen die Frauen aus seiner Familie kein Kopftuch. Allerdings meinte er, dass er mit Rücksicht auf seine konservative Wählerschaft kaum mehr ein Bier trinke. In der Region um Antakya tragen übrigens die älteren Frauen meist ein Kopftuch, aber aus der Tradition heraus und es verdeckt nur sehr teilweise die Haare, die jüngeren Frauen tragen nur in Ausnahmefällen ein Kopftuch.

„Deep State“

In diesem Zusammenhang kam auch die jüngste Entscheidung eines türkischen Gerichts, einige prominente Angeklagte im Zusammenhang mit einer Verschwörung gegen die Regierung vorläufig zu enthaften, zur Sprache. Für einige war das ein Zeichen dafür, dass der „Deep State“ nach wie vor existiert. Darunter versteht man die Verbindung von hohen Funktionären der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit mit dem Militär, um jenseits der demokratischen Legitimation Macht auszuüben. Auch die Ablehnung der Verfassungsreform durch die rechtsnationalistische MHP, durch die „links“-nationalistische CHP und die kurdische Partei sei ein Ausdruck dieses Bündnis des „Tiefen Staates“.
Es ist schwer zu beurteilen, was davon Verfolgungswahn ist und was den nach wie vor existierenden realen Machtverhältnissen entspricht. Nach außen hin ist hier in der Provinz Hatay noch weniger zu spüren als in anderen Regionen der Türkei. Man sieht zwar Kasernen, aber kaum Soldaten und auch wenig Polizei. Das Leben in den Städten und Dörfern macht einen friedlichen, südländischen Eindruck.

Zusammenleben müssen wir so und so

Antakya – das alte Antiochien – hat eine lange Geschichte und vor allem eine christliche Tradition, unter anderem mit dem heiligen Paulus verbunden. Aber auch schon vor der christlichen Zeitrechnung gab es ein reichhaltiges kulturelles Leben. Davon zeugen vor allem herrliche Mosaike. Der Islam hat in dieser Region niemals die anderen Religionen ganz verdrängt, und unter der französischen Herrschaft wurden vor allem christliche Lebenszeichen wieder verstärkt. In einem Umkreis von weniger als 100 Metern findet man heute noch eine Moschee, eine Synagoge und eine katholische Kirche, alle in Funktion. Und nicht weit davon befindet sich die orthodoxe Kirche. Nach allen Auskünften scheint hier das Zusammenleben der Religionen zu funktionieren, was wahrscheinlich auch auf die starke Präsenz der Aleviten zurück zu führen ist.
Eingeladen, diese Region zu besuchen, wurde ich von meinem Freund und Meidlinger Bezirksrat Aziz Gülüm. Er stammt aus einem Dorf dieser Region und musste nach dem Militärputsch 1980 auf Grund seiner politischen Tätigkeit an der Universität Istanbul das Land verlassen und fand in Österreich eine neue Heimat. Noch einen Meidlinger habe ich hier getroffen. Er wohnte lange Zeit in meinem politischen Heimatbezirk und ist seit kurzem Bürgermeister in einem Dorf ebenfalls nahe bei Antakya. Seine Kinder allerdings sind in Europa geblieben: die Tochter in Krefeld und die Söhne in Wien. Der eine Sohn wohnt nach wie vor in Meidling, der andere hat in diesem Bezirk ein Kaffeehaus. Ich halte solche menschliche Verknüpfungen für äußerst fruchtbar, jenseits der Frage, ob und wann die Türkei Mitglied der EU werden wird. Denn zusammenleben müssen wir so und so.

Vorbild der Toleranz

Das gemischt sprachliche und gemischt religiöse Gebiet in der Provinz Hatay in und um die Stadt Antakya sollte in seiner Toleranz ein Vorbild für die Türkei und alle Länder der Region sein. Hier wollen sich viele Menschen nicht abgrenzen, sondern akzeptieren die Vielfalt und das Verschwimmen von Grenzen: Auch der Alevit fühlt sich dem Islam verbunden und will keinen Alleinanspruch der sunnitischen Glaubensrichtung. Und viele Menschen wechseln zwischen dem Türkischen und dem Arabischen innerhalb eines Gesprächs. Das macht diese Region so spannend. Hoffentlich machen die Engstirnigen und Nationalisten diese Vielfältigkeit nicht kaputt.

Hatay, 19.6.2010