In Moskau IV

L1000118Normalerweise sehen wir im Rahmen solcher offizieller Reise kaum etwas von jenen Städten, in denen wir uns aufhalten. Diesmal war es ein wenig anders. Zum Ersten verließen wir angesichts der riesigen Staus und des dichten Terminkalenders unseren Minibus mehrmals und benutzten die Metro. Was ich in fremden Städten ohnedies immer gerne tue – und natürlich vor allem in Wien und in Brüssel. Aber es gingen sich auch zwei Museumsbesuche aus, einerseits in die traditionelle Tretjakow Galerie und dann in die Tretjakow Galerie der Moderne.

Sowjet-Kunst

In beiden Fällen steht die russische Kunst im Mittelpunkt. Die des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ist stark von Motiven des ländlichen Lebens und heroischer historischer Ereignisse geprägt. In der modernen Galerie kommt auch das ländliche Leben nicht zu kurz. Aber der „heroische Arbeiter“ bekommt einen höheren Stellenwert und natürlich die siegreiche Kommunistische Partei und Sowjetarmee mit ihrem großen Führer Stalin. Dabei ist nicht alles, was die vordergründigen politischen Ziele und Motive darstellt, künstlerisch wertlos und schlecht gemacht. Und daher lohnt sich ein Besuch nicht nur vom historischen Interesse her, sondern auch aus künstlerischem Interesse.
Weniger aus Interesse an der Kunst, sondern ausschließlich politisch motiviert ist ein Rundgang durch den an die Galerie der Moderne angrenzenden Park zu empfehlen. Da finden sich nämlich die Statuen vieler Sowjetführer bis zu Breschnew hinauf, gewissermaßen in einem Freilichtdepot. Man bekommt den Eindruck einer verlorenen Epoche. Natürlich gab es auch in dieser Zeit Dinge, die bleiben. Einerseits Leistungen, die heute noch von den BewohnerInnen geschätzt werden. Und dann „Leistungen“, die in unserer Erinnerung bleiben (müssen) und die den Kommunismus total diskreditierten – vom Geheimdienst in der Lubyanka bis zum Gulag. Immerhin gibt es für die Opfer dieser Verbrechen heute Gedenksteine und Museen. Das mit frischen Blumen übersäte Mahnmal für die Opfer des Geheimdienstterrors befindet sich gleich gegenüber der ehemaligen Zentrale, dem Gebäude der Lubyanka.

Potenzial

Wahrscheinlich ist Moskau mehr als andere Städte Europas durch eine seltsame Mischung aus alten Traditionen und neuem Luxus gekennzeichnet. Einerseits sieht man viele alte Kirchen und Klöster, die sich teilweise in einem katastrophalen Zustand befinden und erst langsam renoviert werden. Andererseits gibt es nicht wenige Luxusgeschäfte, die man kaum sonst wo in Europa findet. In Moskau kommt das zum Ausdruck, was viele konstatieren: es gibt nur eine kleine Mittelklasse. Die Gesellschaft teilt sich vornehmlich in Reich und Arm. Und wenn die gut ausgebildete Jugend das wahr macht, was sie im Prinzip vorhat, nämlich auszuwandern, dann wird es noch länger dauern, bis eine tragfähige Mittelklasse entsteht.
Es sei denn, Russland versucht die Ausgewanderten als wertvolle Arbeitskräfte und Experten mit einigen Jahren Auslandserfahrung ins Land zurückzuholen. Dann kann Russland von dieser Auswanderung sogar profitieren. Aber das setzt politische und auch wirtschaftliche Reformen voraus. Und auch weniger Nationalismus und mehr Offenheit. Und vor allem auch mehr Toleranz gegenüber Kreativität. Und das setzt wieder weniger sture Bürokratie voraus. Putin und andere politische Kräfte sollten das realisieren. Dann kann Russland seine Möglichkeiten voll ausschöpfen.

Moskau, 3.11.2011