In Moskau I

P1010040In einem der vielen Gespräche, die unsere Delegation in Russland geführt hat, fragte ich drei JournalistInnen, wie sie Russland beschreiben würden. Einer meinte, es handelt sich um eine paternalistische, feudale Struktur. Ein anderer wieder sprach von einer gelenkten Demokratie und die dritte von einem postmodernen, autoritären Staat. Wahrscheinlich stimmen alle drei Charakterisierungen und dennoch handelt es sich dabei nur um Hilfskonstruktionen, um diesem komplizierten und komplexen Land einigermaßen einen Namen zu geben.

Enorme Entwicklungen

Russland ist schon lange nicht mehr die Sowjetunion und ist wahrscheinlich noch lange kein Land mit freien Wahlen und verbreiteter Anerkennung der Menschenrechte, vor allem der politischen Freiheiten. Es hat die letzten 100 Jahre enorme und zum Teil katastrophale Entwicklungen durchgemacht und steht vor schwierigen Herausforderungen, nicht zuletzt demographischer Natur. Darüber hinaus hat es mit Europa und China zwei sehr unterschiedliche Nachbarn und fühlt sich zum Teil gezwungen bzw. berufen jedenfalls einen Teil seiner verloren gegangenen Teilrepubliken wieder enger an sich zu binden.

Eurasische Föderation

So hat der starke Mann Russlands, Vladimir Putin, in einem große Beachtung gefundenen Artikel die Etablierung einer Eurasischen Föderation gefordert. Von Weißrussland über die Ukraine bis zu den zentralasiatischen Ländern, vor allem Kasachstan, sollte sich Russland mit diesen Ländern zu einer Zollunion, einem gemeinsamen Markt und dann auch zu einer politischen Union zusammenschließen. Nach dem Vorbild der EU sollte es auch eine Eurasische Kommission geben, um die gemeinsamen Projekte zu betreiben. Man kann darin bloß eine Gegenunion zur EU sehen oder einen zukünftigen Partner der EU. Sicher handelt es sich dabei auch um eine angestrebte Stärkung gegenüber China.
Ob Russland unter seinem alten und neuen Präsidenten Eurasien zu verwirklichen versucht und inwiefern die Nachbarn dabei mitspielen, kann heute noch nicht gesagt werden. Auch in Moskau gibt es dazu unterschiedliche Meinungen. Einer unserer Gesprächspartner, Nikolay Petrov von der Carnegie Stiftung, meinte, in den letzten Wochen habe es schon sehr konkrete Vorstellungen seitens Russlands für die Ausgestaltung einer eurasischen Union gegeben. Selbstverständlich haben wir als EU weder das Recht noch die Möglichkeit, eine solche Union zu verhindern. Aber selbstverständlich müssen wir uns Gedanken über den Charakter einer solchen Union machen und versuchen, unsere Interessen zu wahren.

Menschenrechte müssen gewahrt sein

Nach heutigem Stand wäre eine solche Union nicht gerade eine Union der Demokratien. Menschenrechte, jedenfalls die politischen, werden in etlichen dieser Staaten nicht gerade besonders beachtet. Und das absolute Gebot der Nichteinmischung gegenüber der Missachtung bzw. der Verletzung von Menschenrechten, wie es Russland vertritt, ist keine gute Basis für die Eurasische Union als Rechtsgemeinschaft. (Mir ist die EU schon zu „tolerant“ gegenüber Verletzung von „europäischen“ Standards und Normen hinsichtlich Demokratie und Menschenrechten in den eigenen Mitgliedsstaaten.) Aber natürlich haben wir auch wirtschaftliche Interessen, nicht zuletzt was die Energieversorgung betrifft. Wenn Russland die meisten Energie-, vor allem Gasproduzenten in seiner Nachbarschaft um sich schart, dann kann hier ein geschlossener Block entstehen, der das europäische Konzept der Diversifizierung unserer Gasversorgung konterkariert.

Ausbalancierte Politik der Verständigung

All das spricht jedenfalls dafür, unsere Gespräche mit und unsere Angebote an die von Russland anvisierten Länder zu verstärken. Sicher können gerade wir von der EU nicht unabhängig von Demokratie und Menschenrechten eine volle Zusammenarbeit mit diesen Ländern anstreben. Aber Russland und übrigens auch China würden solche Fragen überhaupt nicht anschneiden und sich diesbezüglich jeder Einmischung enthalten. Die EU muss also eine ausbalancierte Politik der Verständigung und der Zusammenarbeit gegenüber und mit Russland, aber auch den gemeinsamen Nachbarn wie der Ukraine und dem Südkaukasus und auch gegenüber und mit Zentralasien betreiben. Nur so könne wir unseren Handlungsspielraum zumindest aufrechterhalten und unsere politischen und wirtschaftlichen Interessen wahren.

Moskau, 3.11.2011