Wer ist die Türkei?

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Istanbul

Die Türkei und insbesondere Istanbul lassen mich nicht los. Da mögen die Rechten noch so hetzen, ich meine nach wie vor, dass die Türkei ein faszinierendes und für Europa äußerst wichtiges Land ist. Das muss nun nicht und kann sicher in den nächsten Jahren nicht zum Beitritt führen. In diesem Sinn habe ich auch bei der jüngsten Abstimmung gegen all jene Anträge gestimmt, die das Beitrittsziel überbetont haben. Die Verhandlungen müssen im Interesse beider Seiten „ergebnisoffen“ geführt werden.

Beitritt 2023?

Zufällig habe ich hier nach der Eröffnung einer großen Ausstellung im „Istanbul Modern“ einen Europaexperten getroffen, der mir gegenüber schon vor Jahren bei einem Gespräch in Istanbul erklärt hatte, das der Beitritt keineswegs kurzfristig zu realisieren sei. Aber 100 Jahre nach der Gründung der türkischen Republik, also 2023, sollte die Türkei Mitglied der EU sein.
Wer ist aber diese Türkei, die 2023 beitreten soll? Sind es jene fortschrittlichen, kosmopolitischen, laizistisch eingestellten Eliten, die ich bei der Eröffnung der Ausstellung im Modernen Museum getroffen habe? Oder sind es jene arbeitsuchenden Menschen aus den frommen ländlichen Regionen, die hier oft keinen Arbeitsplatz finden? Beide repräsentieren die Türkei, und es sind noch viele Schattierungen dieser Gruppierungen zu finden.

„Schichtungen“

Natürlich gibt es diese Unterschiede in allen Ländern. Aber in der Türkei scheinen mir diese „Schichtungen“ besonders ausgeprägt. Auf der einen Seite findet sich eine aufgeklärte, sehr nach außen blickende Oberschicht und auf der anderen Seite eine äußerst in den Traditionen verhaftete breite Schicht, die ich allerdings nicht nur als Unterschicht bezeichnen möchte. Dabei ist der Islam hier keineswegs aggressiv und manche der laizistisch Eingestellten sind sehr nationalistisch. Wie immer, eine sehr heterogene Gesellschaft, die regional sehr vielfältige Wurzeln hat: insbesondere am Balkan und im Südkaukasus.
Zwar wird auch die europäische Kulturhauptstadt Istanbul an diesen heterogenen Strukturen nichts ändern, und das sollte sie auch gar nicht. Aber einen Beitrag zur Weltoffenheit und zu einer spannenden Verbindung von Tradition und Moderne kann sie dennoch liefern.

Geschichtliche Wurzeln

Die grundsätzliche Frage, die immer wieder gestellt wird, ist allerdings nicht die nach einer weiteren Öffnung und Liberalität der Stadt, sondern nach einer Verengung der Geisteshaltung durch das Verschwinden bzw. die Vertreibung der Armenier, der Griechen etc. einerseits und der massiven Zuwanderung aus Anatolien anderseits. Immer wieder stößt man auf griechische, armenische, georgische Wurzeln einzelner BewohnerInnen dieser Stadt. Aber dabei handelt es sich mehr um die Wurzeln in der Vergangenheit und nicht um die Gegenwart oder gar die Zukunft. Gegenwärtig gibt es nur eine zum Teil legale, zum Teil illegale Zuwanderung von armen Armeniern und anderen Südkaukasus-Bewohnern, um Arbeit zu finden.
Sonst findet man Reste der ursprünglichen nicht-türkischen Einwohnerschaft, insbesondere in Form von Kirchen oder alten Palästen. So vor allem auch im Stadtteil Yeniköy, in dem sich das österreichische Generalkonsulat und das österreiche Kulturforum befinden. Untergebracht sind sie beide in einem großzügigen Gebäude mit Park, das der Sultan Kaiser Franz Joseph geschenkt hat, der es allerdings nie zu Sehen bekommen hatte. Es liegt direkt am Bosporus und ist mit tollen venezianischen Lustern und natürlich auch einem Bild von Kaiser Franz Josph ausgestattet. In unmittelbarer Nachbarschaft befinden sich nicht nur viele Fischlokale und zum Teil renovierungsbedürftige Bosporusvillen, sondern auch mehrere Kirchen.

Flair und Ausstrahlungskraft

Ein persönliches Beispiel der vergangenen Kosmopolität dieser Stadt traf ich auch beim Heimfliegen nach Wien. Mein Sitznachbar war ein österreichischer Unternehmer, der in Istanbul geboren wurde und von einer schwedischen Mutter und einem griechischen Vater abstammt. Heute ist er Geschäftsführer eines Unternehmens auf dem Verkehrssektor und pendelt zwischen Wien und Istanbul. Er spricht fließend Deutsch, Englisch, Schwedisch, Türkisch und Griechisch. Solche Menschen finden sich natürlich in einer globalisierten Welt zurecht.
Aber mir geht es, wenn ich an Istanbul denke (oder auch an Wien), weniger um die wirtschaftliche Globalisierung als um das Flair und die Ausstrahlungskraft von Städten, die durch Einflüße aus vielen Kulturkreisen gestaltet werden. Das war im Wien des ausgehenden 19. Jahrhundert der Fall und in Istanbul durch viele Jahrhunderte ebenso. Und gerade in diesen Zeiten haben diese Städte hervorragende Leistungen vollbracht, deren Früchte wir noch heute geniessen. Ja, es gab und gibt in solchen Städten auch Konflikte. Aber mit Geduld und gutem Willen können diese Konflikte auch friedlich ausgetragen werden.

Drehscheibe bleiben

Jedenfalls in diesen Februartagen, in Zeiten der beginnenden Aktivitäten der Kulturhauptstadt 2010, hat sich Istanbul mir friedlich dargestellt. Die Fahrten zwischen dem „europäischen“ und „asiatischen“ Teil mit der Fähre waren nicht Reisen zwischen zwei Welten, sondern innerhalb einer gemeinsamen Stadt mit all ihren unterschiedlichen Einflüßen. Nur die Fahrt mit dem Taxi nach Yeniköy und von dort zum Flughafen, jeweils über die Autobahn, hat ein anderes Istanbul gezeigt: Jenes der massiven und monokulturellen Zuwanderung aus Anatolien. Ich weiss nicht, wie viel diese Menschen mit der multikulturellen und multireligiösen Geschichte von Istanbul anfangen können. Was sagt ihnen die Geschichte der Hagia Sofia? Und die tragische Geschichte der Armenier sowie der Griechen etc.? Die wirtschaftliche Kraft dieser Stadt, die wird auch in den vielen Neubauvierteln sichtbar, aber die kulturelle weniger. Natürlich ist dies auch bei uns der Fall, aber in dieser extremen Form und so massiv sieht man das wahrscheinlich in kaum einer anderen Stadt so stark wie in Istanbul.
Bleibt zu hoffen, dass langfristig dennoch eine Integration unter Wahrung der multikulturellen Einflüsse gelingt. Der Stadt und all ihren BesucherInnen ist dies zu wünschen. Sie sollte eine Drehscheibe bzw. ein Gelenk zwischen den benachbarten Regionen und den verschiedenen Kulturen und Religionen bleiben. Und als solche auch fruchtbare Beziehungen zu Wien und Österreich behalten.

Istanbul, 18.2.2010