Bilanz des ungarischen Ratsvorsitzes

EU_Parlament_Strassburg_Zinner-034Herr Präsident, Herr Kommissionspräsident, Herr Premierminister! Eine rotierende Präsidentschaft hat zwei Aufgaben. Einerseits muss sie die Dossiers weiterentwickeln und womöglich zu Ende führen, die die laufenden Geschäfte betreffen, und auf der anderen Seite auch eine Vorbildfunktion in der Europäischen Union ausüben.

Was die erste Frage betrifft, Herr Premierminister, so möchte ich den politischen Mitarbeitern und den Beamten recht herzlich danken, weil viele Fragen gut gelöst worden sind. Das Kroatien-Dossier, das mir natürlich besonders am Herzen lag, ist gut abgewickelt worden, die Roma-Strategie ebenfalls. Herzlichen Dank dafür!

Was die zweite Frage betrifft, darf ich allerdings einige kritische Elemente hinzufügen, denn sowohl was das Mediengesetz als auch was die Verfassung betrifft, haben wir in diesem Parlament massive Kritik geäußert. Sie können dem entgegenhalten, dass das Innenpolitik sei. Aber, Herr Premierminister, Sie wissen ganz genau, dass heute in Europa – das ist ja der Sinn und Zweck Europas – Innenpolitik auch europäische Politik ist und europäische Politik auch im Inneren entsprechende Auswirkungen hat. Daher ist diese Kritik von europäischer Seite auch durchaus angebracht. Sie mussten ja auch das missglückte Mediengesetz ändern, obwohl die Europäische Kommission bei der Beurteilung dieses Gesetzes sehr milde war. Was die Verfassung betrifft, so wissen Sie, dass die Venedig-Kommission nicht nur den Prozess kritisiert hat, sondern auch einige wesentliche Bestandteile dieser Verfassung. Auch der Generalsekretär der UN, Herr Ban Ki-moon, hat massive Kritik geäußert.

Herr Premierminister, Sie sagen immer, Sie wollen an das Jahr 1949 anschließen. Aber dazwischen lag auch das Jahr 1956. Als sehr junger Mensch habe ich diese Revolution in Österreich erlebt, mit ihren großen Zielsetzungen des Pluralismus, der Medienfreiheit, der Meinungsfreiheit. Es wäre gut, gerade auch an das Jahr 1956 anzuschließen, an das Jahr der großen Revolution mit diesen Freiheiten, die europäische Werte und europäische Zielsetzungen sind. Das ist nicht nur, wie Sie immer wieder – zumindest als Vorsitzender des Fidesz – sagen, eine Kritik, die die Sozialisten an Ihrer Regierung üben. Sie waren selbst dabei, als im ungarischen Parlament vor wenigen Tagen Hillary Clinton bei einer Veranstaltung zu Ehren von Tom Lantos, einem hervorragenden ungarischstämmigen amerikanischen Kongressabgeordneten, sehr kritische Worte gefunden hat. Hillary Clinton hat, so wie viele andere auch aus Ihrem eigenen Land, zur Wachsamkeit aufgerufen, was die demokratische Entwicklung betrifft. Wir alle müssen wachsam sein, nicht nur in Ungarn, aber angesichts der Entwicklung besonders in Ungarn.

Ja, Sie haben eine 2/3-Mehrheit. Mit der können Sie theoretisch machen, was Sie wollen. Aber in einer Demokratie nach europäischem Muster zählt auch, was die Kritiker sagen, was die Opposition sagt, und nicht nur, was die 2/3-Mehrheit sagt.

Herr Premierminister, Sie haben sich hier bei der Europäischen Volkspartei bedankt – und nur bei der Europäischen Volkspartei. Das ist Ihr gutes Recht, obwohl es das erste Mal ist, dass sich nach den vielen Präsidentschaften, die ich erlebt habe, eine Präsidentschaft nur bei einer, bei ihrer Partei bedankt. Aber zu einer Demokratie gehören nicht nur diejenigen, die einen unterstützen, sondern auch diejenigen, die Kritik üben. Das ist jedenfalls das, was wir unter europäischer Demokratie verstehen. Ich würde mir wünschen, dass Sie sich den Zielsetzungen des Pluralismus, der Medien- und Meinungsfreiheit etwas nähern. So, wie es der große Ungar Tom Lantos auch in Amerika und in Ungarn zum Ausdruck gebracht hat, wäre es richtig und wichtig, gerade auch angesichts der europäischen Verantwortung, ja zu sagen zum Pluralismus, zur Medienfreiheit, zur Meinungsfreiheit und ja auch zur Kritik, denn die Kritik gehört zur Demokratie genauso wie jene, die Sie unterstützen, ob mit einer 2/3-Mehrheit oder nicht. Mehrheiten sind dazu da, ausgenutzt zu werden, aber auch auf die Gegner und die Kritiker Rücksicht zu nehmen. Das jedenfalls ist unser Verständnis von europäischer Demokratie.

05.07.2011