Rede zur Lage der Union – 12.09.2012

Herr Präsident! Herr Präsident Barroso, Sie haben eine gute Rede gehalten, in Teilen sogar eine sehr gute Rede. In einigen Dingen würde ich allerdings weiter gehen, und ich werde auch sagen, wo wir Sozialdemokraten weiter gehen würden. Sie haben sich zum Sozialmodell Europa bekannt. Das ist gut so! Ich hätte mir gewünscht, es hätte auf der rechten Seite für dieses Sozialmodell Europa mehr Zustimmung gegeben, denn es ist extrem gefährdet.
Sie haben sich bekannt zur Rolle Europas in der Welt, zu einer starken Rolle. Auch das ist richtig! Gestern hat uns unser Kollege Robert Goebbels von einem Treffen in Asien berichtet. Der asiatische Vertreter hat seine Rede begonnen mit „we from the emerging countries and you Europeans from the submerging countries“ . Das ist das Bild, das Europa heute zum Teil abgibt. Gemeinsam ist uns, dass wir Europa weiter zu den „emerging countries and regions“ zählen wollen. Wenn wir aber unsere Wirtschaftspolitik nicht ändern, wird daraus nichts werden. Wenn wir die Wirtschaftskrise nur als eine Staatsausgabenkrise sehen – Sie haben das differenzierter dargestellt, aber viele andere auf der rechten Seite sehen das so – und es daher nur um Kürzungen von Leistungen geht, dann kommen wir nicht aus der Krise heraus. Wir werden sogar in eine tiefergreifende Rezession kommen. Der portugiesische Premierminister hat es ja auch schon gesagt und deutlich gemacht: Beginnt man mit einer extremen Austeritätspolitik, muss man den Menschen immer tiefer in die Tasche greifen. Wir wollen das nicht! Wir wollen nicht, dass die Ärmsten Europas noch ärmer werden. Das ist nicht eine Politik, die wir Sozialdemokraten vertreten können.
(Beifall)
Herr Präsident, ich habe es Ihnen schon öfter gesagt: Die Troika ist leider ein Mithelfer bei dieser Rezessionspolitik. Die Troika sollte sich vielmehr um grundlegende Reformen von verkrusteten Strukturen bemühen, das ist notwendig. Aber wenn die Troika glaubt, man könne nur durch Kürzungen aus dem Schlamassel herauskommen, dann frage ich mich: Wo sind denn die Erfolge? Jede Prognose, die nach einer Maßnahmenempfehlung der Troika erstellt worden ist, musste korrigiert werden.
(Beifall)
In Spanien – der Außenminister und der Europaminister sitzen ja hier, unsere ehemaligen Kollegen, auch wenn sie jetzt miteinander plaudern –, ist die Arbeitslosigkeit von 11 auf 24 % gestiegen – ein Weltrekord für vergleichbare Länder – und die Staatsverschuldung von 40 auf 81 %. Und das soll ein Erfolg sein? Die Troika hat keinen Erfolg, weil sie falsche Rezepte hat, weil sie nicht auf Wachstum setzt, weil der Begriff „Nachfrage“ als Wachstumsstützung für sie ein unbekannter Begriff ist.
Kollege Daul, Sie haben Dombrovskis erwähnt. Hat Ihnen Herr Dombrovskis gesagt, wie viele gut ausgebildete Leute aus Lettland und aus den anderen baltischen Staaten und aus den südlichen Staaten auswandern mussten, weil sie keinen Job finden? So kann man Erfolg haben, wenn man bei hoher Arbeitslosigkeit die Betroffenen exportiert. Wohin sollen denn unsere Leute auswandern, wenn wir alle in eine Rezession kommen? Da werden Mosambik, Angola, Brasilien und andere Länder nicht groß genug sein.
(Beifall)
Seien wir ehrlich: Die Politik hat versagt! Die einzige Institution, die hier momentan in die Bresche gesprungen ist, ist die EZB. Nicht dass ich mit allen Maßnahmen glücklich bin. Aber hätten wir nicht eine EZB, dann steckten wir noch viel tiefer im Schlamassel. Und hätten wir nicht einen Mann wie Draghi, sondern einen Mann wie Weidmann an der Spitze, wäre die Katastrophe in Europa noch viel größer.
(Beifall)
Die Politik ist gefordert. Es gibt eine Alternative, die vor allem zu Investitionen führen muss. Herr Präsident Barroso, in den USA nehmen die öffentlichen Investitionen zu. In China nehmen die öffentlichen Investitionen zu. In Japan nehmen die öffentlichen Investitionen zu. Und in Europa? Was sollen wir da noch von Wettbewerbsfähigkeit reden, wenn wir nicht mehr investieren? Sie sind ja auf unserer Seite, was die Frage der Steuervermehrung und der Steuerhinterziehung betrifft. Wenn wir nur ein Viertel dessen bekämen, was uns jährlich an Steuerleistungen durch Steuerhinterziehung in Europa entgeht – durch Transfer in die Schweiz und in andere Steueroasen –, könnten wir die öffentlichen Investitionen in Europa um 40 % steigern. Das ist das Problem, das wir haben.
(Beifall)
Daher sind wir mit Ihnen einer Meinung: Damit die Finanzmärkte nicht so drastisch reagieren, brauchen wir eine stärkere Regulierung, die sich vor allem gegen den Hochfrequenzhandel richtet. Wir brauchen unbedingt Maßnahmen gegen die Steuervermeidung und Steuerflucht. Ich fordere Österreich und Luxemburg nochmals auf, der Kommission endlich ein Verhandlungsmandat für Verhandlungen mit der Schweiz zu geben. Wir brauchen auch die Finanztransaktionssteuer. Noch immer ist kein Antrag bei der Kommission eingegangen. Ich gebe Ihnen Recht, was die Bankenunion und die Überwachung der Banken betrifft, damit nicht wieder Steuergelder in diesen Bereich hineinfließen müssen. Und wir brauchen ein Budget, das auch Wachstum forciert. Wir sind auf Ihrer Seite. Ich kann Ihnen eines klar sagen: Die Fraktion der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten wird keinem europäischen Budget zustimmen, das keinen Beitrag zum Wachstum leistet. Wir lehnen absolut die Versuche ab, aus populistischen Gründen dieses Budget noch weiter zu kürzen. Es ist gering genug, aber viele Regionen brauchen dieses Budget.
(Beifall)
Was uns aber besonders betroffen macht, ist die Missachtung der sozialen Frage. Es ist ja nicht nur eine Frage der armen Länder. Denn wenn man die Jugendarbeitslosigkeit sieht, wenn man sieht, wie rasant sie steigt, betrifft das ja nicht nur die peripheren Länder. Wissen die Damen und Herren hier, dass jeder fünfte Arbeitnehmer in Deutschland, im guten, reichen Deutschland, Niedriglohnempfänger ist? Wissen die Kolleginnen und Kollegen auf der Rechten, die nicht von der CDU sind, dass Frau von der Leyen, ihre Ministerin, massiv kämpfen möchte gegen die Altersarmut, allerdings von ihrer eigenen Partei dabei behindert wird, so dass sie jetzt zur SPD gehen muss und um Unterstützung bittet? Das ist die Realität: Armut, Altersarmut, Jugendarbeitslosigkeit ist etwas, was zwar in den peripheren Ländern des Südens extrem ausgeprägt ist, aber es kommt schön langsam auch in die reichen Länder wie Deutschland! Und auch Deutschland rutscht in die Rezession hinein. Ein Drittel der Deutschen befürchtet einen sozialen Abstieg. Das ist das Europa von heute! Wenn wir Europa verteidigen, dann kann es doch nicht dieses Europa sein!
Ist es nicht ein Skandal – und Sie können wahrscheinlich zustimmen, Herr Präsident, aber ich fordere Sie auf zu Aktivität –, dass im Van Rompuy-Papier zu den sozialen Fragen eigentlich nichts steht. Das, was die meisten Leute heute in Europa berührt, nämlich Arbeitslosigkeit, Armut, sozialer Abstieg, ist im Van Rompuy-Papier nicht einmal erwähnt. Und daher fordere ich ein Kapitel im Van Rompuy-Papier zu sozialen Fragen. Ich fordere namens meiner Fraktion auch einen Sozialpakt, denn die Damen und Herren auf der rechten Seite dieses Hauses sind ja sehr erpicht darauf, einen Fiskalpakt zu haben. Ich bin einverstanden! Mit Mühe und Not und nur auf Druck der neuen französischen Regierung hat es einen Wachstumspakt gegeben, schwach zwar, aber immerhin. Aber ein Sozialpakt ist Ihnen anscheinend überhaupt nicht wichtig. Wir brauchen einen Sozialpakt, um gegen die Entsolidarisierung in Europa, gegen die Jugendarbeitslosigkeit, gegen die Altersarmut zu kämpfen und für die Integration unserer ausländischen oder zugewanderten Mitbürger. Es gibt viele soziale Fragen in Europa, und daher möchte meine Fraktion jetzt endlich auch einen Sozialpakt haben, und nicht nur einen schwachen Wachstumspakt, und nicht nur einen strengen Fiskalpakt.
(Beifall)
Herr Präsident, auch der Präsident des Parlaments hat die Frage der Demokratie angeschnitten. Die Demokratie ist gefährdet durch den Missstand der vielen Finanzmärkte. Da ist die Souveränität gefährdet, die nationale Souveränität ist nicht durch Europa gefährdet. Aber sicherlich ist die Demokratie auch gefährdet, weil wir antidemokratische Tendenzen sehen. Wenn der Europäische Rat immer mehr an sich zieht – jetzt auch in den Budgetfragen –, dann frage ich mich: Wem gegenüber verantwortet der Europäische Rat sein Handeln? Auf der nationalen Ebene sind es die einzelnen Ministerpräsidenten. Und Herr Van Rompuy ist ja der große Abwesende in diesem Haus, wir sehen ihn selten und meistens nur nachher, wenn er erklärt, was oder oft was nicht geschehen ist. Das ist keine Tendenz, die wir akzeptieren können. Wir wollen eine volle Verantwortung auch des Europäischen Rats, auch vor diesem Haus. Denn die parlamentarische Demokratie auf europäischer Ebene gehört zur Demokratie, ist ihr wesentlicher Bestandteil. Und der Europäische Rat soll sich nicht Dinge und Macht anmaßen, die ihm nicht zustehen. Das ist eine Verletzung der Demokratie!
(Beifall)
Es gibt Schriftsteller, die nicht zu Unrecht heute in deutschen und österreichischen Medien den Rat als Verteidigungsburg des Nationalismus sehen. Ich verstehe Ihren Begriff der Föderation der Nationalstaaten. Aber, Herr Kommissionspräsident: Es muss schon klar sein, dass wir gemeinsam dafür kämpfen, dass die Nationalstaaten jene Kompetenzen an Europa geben, die notwendig sind, damit wir gemeinsam unsere Souveränität in der Welt von heute und von morgen verteidigen können.
Zuletzt: Wir brauchen auch einen neuen Vertrag. Aber wenn wir den Arbeitslosen von heute sagen, wir haben keinen Job für euch, und gleichzeitig über einen neuen EU-Vertrag diskutieren, dann werden sie uns bestenfalls mit Unverständnis anschauen, wenn sie nicht gar handgreiflich werden. Daher müssen wir mit Vorsicht vorgehen. Wir brauchen zuerst eine europäische Debatte. Wir haben gestern mit einigen Außenministern, die an einem Papier arbeiten, darüber diskutiert. Wir brauchen eine europäische Debatte über die Ziele dieses zukünftigen Europas. Da haben wir vieles gemeinsam. Nach den nächsten Wahlen können wir dann einen Konvent einberufen. Wenn wir wissen, wohin wir gehen wollen, kann dieser Konvent auch – ich sage es ganz deutlich – eine neue Verfassung beschließen und nicht eine Vertragsänderung. Wir brauchen endlich eine europäische Verfassung, aber erst nach der Lösung unserer aktuellen Probleme, das ist ganz entscheidend.
Und schließlich, Herr Kommissionspräsident: Ich mache Ihnen das Angebot einer engen Zusammenarbeit. Wenn wir gemeinsam für das Europa der Beschäftigung, das Europa der sozialen Kohäsion und das Europa der Demokratie kämpfen, dann können wir einen guten gemeinsamen Weg gehen. Wir haben nicht mehr viel Zeit bis zu den nächsten Wahlen. Wir müssen dieses Europa ändern, wir müssen gemeinsam kämpfen gegen die Entsolidarisierung und gegen den Nationalismus. Der Nationalismus ist etwas, was uns bedroht. Man kann stolz sein auf die Fahne, aber wenn neben der britischen Fahne nicht die europäische Fahne steht, dann ist es falsch, hier diese Fahne aufzustellen. Steht die europäische Fahne, dann kann auch die britische stehen, denn das gemeinsame Europäische ist das, was uns verbindet.