Rede zur Vorstellung der neuen Mitglieder der erweiterten Kommission durch deren Präsidenten

Herr Präsident, Herr Kommissionspräsident, liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Kommission und aus diesem Haus! Der 1. Mai war sicherlich ein Tag – wie es in einem deutschen Leitartikel zu lesen war -, an dem wir aus dem langen Schatten von Hitler und Stalin herausgetreten sind. Aber jetzt beginnen die Mühen der Ebene, die Mühen des Alltags. Dafür ist vor allem auch die Europäische Kommission zuständig, aber nicht in dem Sinn, dass wir eine oberste Schicht von Technokraten oder Bürokraten brauchen. Nein, wir brauchen politische Menschen, Kommissarinnen und Kommissare aus Fleisch und Blut und nicht – da gebe ich dem Kollegen Poettering Recht – nicht parteipolitisch orientierte Mitglieder der Kommission. Nur, ich würde Sie, Kollege Poettering, beglückwünschen, wenn Sie das auch anderen Mitgliedern der Kommission, den Vizepräsidenten der Kommission etc. sagen würden, von denen wir auch manchen Kommentar gelesen und gehört haben, der nicht gerade für die Neutralität der Kommission spricht.
Wir brauchen Mitglieder der Kommission mit Visionen, mit politischer Gestaltungskraft für dieses Europa. Das, glaube ich, ist das Entscheidende. Da haben wir als sozialdemokratische Fraktion eine Bitte an Sie: Erstens, dass Sie das natürlich auch klar zum Ausdruck bringen. Da waren manche von Ihnen in den Hearings etwas zurückhaltend, vielleicht waren Sie noch schüchtern, vielleicht hatten Sie noch mehr Angst vor diesem Parlament, als Sie wahrscheinlich im Laufe der Zeit haben werden – obwohl Sie immer ein bisschen Angst haben sollten! Aber es geht vor allem um etwas anderes, es geht um das europäische Gesellschaftsmodell, das wir verwirklichen wollen. Manche, auch in diesem Haus, sehen vielleicht lieber den neoliberalen Sturm, der die Grundfesten des europäischen Gesellschaftsmodells hinwegreißt. Wir sehen lieber den Frühlingswind, der vielleicht lau ist, der aber Frische und neue Blüten und neue Blätter in dieses Europa bringt und dennoch nicht die Bäume zerstört, die hier wachsen.
Es geht auch darum, dass wir manche Defizite in Europa abbauen. Dafür tragen Sie eine große Verantwortung. Aber nicht nur für die Budgetdefizite. Es gibt andere Defizite, zum Beispiel bei den Arbeitsplätzen. Europa leidet unter diesen Defiziten, was die Beschäftigungspolitik betrifft. Wie der Kommissionspräsident gesagt hat: Unsere Konkurrenten sind in Amerika, in China, sie sind inzwischen in Indien. Ich warne davor, dass wir die Konkurrenz nur untereinander suchen, mit möglichst niedrigen Steuersätzen, um uns gegenseitig zu verdrängen, und dann eine Politik betreiben, bei der wir Arbeitsplätze von einem Teil des Kontinents in andere verlagern. Nein, wir wollen gemeinsam neue Arbeitsplätze in diesem Kontinent schaffen.
Es gilt auch, die Strategie von Lissabon ernst und noch ernster zu nehmen. Ich brauche mir nur anzuschauen, was in manchen Ländern passiert, was die Investitionen für Bildung, Ausbildung, Forschung und Entwicklung betrifft, und auch die Infrastruktur. In den neuen Ländern gibt es eine sehr schlechte und schlecht ausgebaute Infrastruktur, wenn ich zum Beispiel an die Verkehrspolitik denke. Ich würde mir, nicht nur von diesen Ländern, sondern auch von einem europäischen Budget größere Beiträge für Bildung, für Forschung, für Entwicklung, aber eben auch für die Infrastruktur wünschen. Das Ganze steht sicherlich auch im Zusammenhang mit einer nachhaltigen Entwicklung.
Kyoto ist ein Schlagwort, das Chemikaliengesetz ist als zweites Beispiel zu nennen. Wir müssen in Europa auch auf diesen Gebieten Pioniere sein. Allerdings – und hier geht es vor allem in Richtung Außenwirtschaftspolitik – müssen wir dafür sorgen, dass wir nicht die einzigen sind, die Kyoto verwirklichen und ein strenges Chemikaliengesetz verabschieden. Wir müssen stattdessen alle Möglichkeiten ausnützen, um Amerika, um Russland, um China, Japan etc. darauf zu drängen, dass sie ebenfalls diese Vereinbarungen einhalten. Denn sonst – da gebe ich der Vizepräsidentin Recht, nicht bezüglich ihres Kommentars, was die spanische Regierung betrifft, aber in diesem Punkt – kommen wir in große Schwierigkeiten, was unseren Wettbewerb und unsere Wettbewerbsposition betrifft. Daraus ergeben sich die großen Anforderungen an die Außenwirtschaftspolitik.
Auf diese Frage hat Frau Hübner Gott sei Dank eine positive Antwort gegeben. Auch über die Außenwirtschaftspolitik müssen wir unser europäisches gesellschaftspolitisches Modell verteidigen, zum Beispiel was die öffentlichen Dienstleistungen betrifft. Es geht nicht an, dass die Kommission immer und immer wieder trotz eines klaren Votums in diesem Hause versucht, die Liberalisierung und letztendlich auch die Privatisierung von Wasser, öffentlichem Nahverkehr, Gesundheit und Erziehung auf die Tagesordnung zu setzen. Wir als Fraktion sind auch für eine Marktöffnung, und gerade hier haben wir wieder – ich persönlich zum Beispiel auch, was die Eisenbahn betrifft – gemeinsam mit der Kommission durchaus positive Schritte gesetzt. Aber es gibt Bereiche, die zum Ureigensten dessen gehören, was wir als nationales oder europäisches Gesellschaftsmodell verstehen, und das sollte man auch in diesem Sinne akzeptieren und fortsetzen.
Wie ich schon gesagt habe, wollen wir eine politische Kommission, Kommissarinnen und Kommissare aus Fleisch und Blut, die in diesem Haus auch ihre politische Meinung sagen. Wir wollen eine Kommission, die auch mit uns streitet. Ich sehe manche hier, mit denen ich sehr gerne gestritten habe, weil sie selbst auch emotional waren, weil sie selbst manchmal auch aus Wut und Zorn agiert haben. Dann können wir mit Ihnen streiten, und Sie sollten mit uns streiten, aber seien Sie offen zu uns, seien Sie ehrlich zu uns, machen Sie keine Winkelzüge! Wenn Sie offen und ehrlich mit uns streiten, dann werden wir Sie auch im gemeinsamen Interesse dieses Europas unterstützen, an dem wir ja gemeinsam ein sehr, sehr großes politisches Interesse haben.
(Beifall)