100 Jahre Brünner Nationalitätenprogramm

Das Brünner Nationalitätenprogramm stellt einen Meilenstein in der Entwicklung der Ideen zu einem friedlichen Zusammenleben verschiedener Volksgruppen und ethnischer Gruppen dar. 
Am 23. September war ich von der Internationalen Abteilung des Renner-Insitutes eingeladen worden, an einer Konferenz zum Thema „100 Jahre Brünner Nationalitätenprogramm. Die Aktualität des zentraleuropäischen Gedankens“ an der Universität von Brünn zu sprechen. Gerne nahm ich die Einladung zu dieser Tagung an, die in Kooperation unter anderen mit der Friedrich Ebert Stiftung und der Prager Masaryk Akademie veranstaltet wurde, und brachte dort folgende Gedanken zum Ausdruck.

Das Brünner Nationalitätenprogramm aus dem Jahre 1899 stellt zweifellos einen Meilenstein in der Entwicklung der Sozialdemokratie, aber auch in der Entwicklung der Ideen zu einem friedlichen Zusammenleben verschiedener Volksgruppen und ethnischer Gruppen dar. Und es ist eine Tragik der Geschichte, daß dieses Programm nicht mehr die Entwicklung in der österreichisch-ungarischen Monarchie und damit letztendlich in Europa retten konnte.
Die Geschichte nahm ihren Lauf in Richtung einzelner Nationalstaaten, die aber dennoch zumeist eine gemischte Nationalitätenbevölkerung hatten. Damit wurden mit Ursachen für den Zweiten Weltkrieg geschaffen und es hat sehr lange gedauert, ein neues Europa aufzubauen, das nicht auf dem Nationalitätenprinzip beruht. Und es hat mehr als 90 Jahre gedauert, bis der Anstoß für eine neue Entwicklung in Mittel- und Osteuropa gegeben wurde. Selbst 100 Jahre nach dem Brünner Nationalitätenprogramm ist in Südosteuropa die Lage verworrener, widersprüchlicher und gewaltsamer als vor 100 Jahren.

Nationalismus – die stärkste politische Kraft unserer Zeit

Wenige Tage vor dem 100. Jahrestag des in Brünn tagenden Gesamtparteitages, bei dem das Brünner Nationalitätenprogramm beraten und letztendlich beschlossen wurde, besuchte ich den Kosovo und Mazedonien. Meine Bemerkungen und Anmerkungen zur Bedeutung des Brünner Nationalitätenprogrammes sind daher sicherlich beeinflußt von den Eindrücken dieser Reise, von den Eindrücken in eine durch vergangene Entwicklungen geprägte Situation, die scheinbar ausweglos verschiedene ethnische Gruppen gegeneinanderstellt, die auch nach einem Krieg und einer kriegerischen Auseinandersetzung den Weg in eine friedvolle, kooperative Zukunft nicht – jedenfalls noch nicht – weist.
Wenn Wilhelm Pfaff gemeint hat, daß der Nationalismus „die stärkste politische Kraft des 20. Jahrhunderts ist, die sich wohl auch als die stärkste des 21. erweisen wird,“, dann muß ich ihm leider recht geben. Prognosen in die Zukunft sind zwar immer stark beeinflußt von der gegenwärtigen Situation. Aber wer die Situation zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina und jetzt im Kosovo gesehen hat und sieht, der kann nicht umhin, festzuhalten, daß uns das Nationalitätenproblem auf lange Sicht beschäftigen wird und daß es sich hier nicht um eine Auseinandersetzung handelt, die nur die Ausläufer der Vergangenheit darstellt.
Und es ist im übrigen gerade in diesen Tagen nach den schlimmen Ereignissen in Osttimor anzumerken, daß, auch wenn für uns in Europa die europäischen Auseinandersetzungen im Vordergrund stehen, wir nichts desto trotz genau wissen, daß in vielen, wenn nicht in allen Kontinenten diese Auseinandersetzungen immer wieder zu Vertreibung, zu Diskriminierung, zu Segregation führen.

Die drei Eckpfeiler des Brünner Nationalitätenprogramms

Das Brünner Nationalitätenprogramm hat für mich drei wesentliche Elemente, die die Sozialdemokratie auch heute nach wie vor als Leitlinien betrachten muß.
Erstens: Das Programm anerkennt die nationale Frage als eine wesentliche Frage, die nicht zur Seite geschoben werden kann, die nicht als bloßes Hirngespinst einiger Extremisten, nicht bloß als Opium für das Volk betrachtet werden kann.
Zweitens: Das Nationalitätenprogramm geht davon aus, daß nur in übergeordneten Zusammenhängen, in regionalen Zusammenschlüssen agiert werden kann. Damals war es die Österreichisch-Ungarische Monarchie, heute ist es Europa, wie es sich derzeit in der Europäischen Union darstellt und ein Europa, das im Begriff ist sich zu erweitern, das jene Länder, die noch durch Nationalitätenkonflikte besonders geprägt sind, langsam, behutsam und gut vorbereitet an sich binden möchte.
Und drittens: Das Nationalitätenprogramm von Brünn geht davon aus, daß die Frage der Nationalitäten nicht die wichtigste, die allein entscheidende Frage für die Entwicklung ist, sondern andere politische Fragen entscheidend sind, vor allem die Frage der Demokratie und der demokratischen Entwicklung.

1.) Das Nationalitätenprogramm von 1899 hat – sonst würde dieses Programm ja keinen Sinn machen – die nationale Frage als eine durchaus wichtige politische, wirtschaftliche und soziale Frage anerkannt. Das Nationalitätenprogramm hat dabei insbesondere darauf hingewiesen, daß es kein nationales Vorrecht gibt und daß es daher keine guten und schlechten Nationalitäten gibt.
Aber durch diese Anerkennung ist klargestellt, daß die unterschiedliche geschichtliche, politische, ökonomische und soziale Entwicklung sowie religiöse und kulturelle Faktoren eine Prägung darstellen, die nicht einfach beiseite gewischt werden kann. Man kann auch sagen, daß es sich um Prägungen handelt, die durchaus zur kulturellen Vielfalt beitragen können, die eine Bereicherung jeglicher politischen oder geographischen Landschaft darstellen. Dabei heißt Anerkennung von Nationalitäten, von ethnischen Gebräuchen, aber keineswegs, daß damit eine vollständige Akzeptanz verbunden sein muß. Anerkennung heißt Respekt, heißt vor tatsächlichen Einflüssen und Entwicklungen nicht die Augen zu verschließen, heißt aber nicht volle Akzeptanz, Unterstützung und gar kritiklose Hin- und Übernahme.

Die nationale Frage ist immer auch eine Bewußtseinsfrage

Auch meine Erfahrungen in den südosteuropäischen Krisengebieten Europas, aber auch darüber hinaus, zeigen, daß die Spannungen zwischen Nationalitäten und ethnischen Gruppen keineswegs nur auf eine kleine politisch tätige Minderheit beschränkt sind. Mein Besuch in der Stadt Mitrovica im Kosovo, eine durch Stacheldraht und Bewachungsmannschaften der KFOR-Truppe geteilte Stadt, hat mir genau das zuletzt wieder deutlich gemacht. Nicht nur die politischen Repräsentanten der beiden Gruppen – der Kosovo-Albaner und der Serben – haben die Spannungen klar an den Tag gebracht, sondern auch ein Gespräch im inzwischen bekannt gewordenen Spital von Mitrovica.
Es handelt sich um ein Spital im serbischen Teil der Stadt, das aber auch die regionale Versorgung für die zum Großteil von Albanern bewohnte Region zu gewährleisten hat. Die beiden Chefärzte der ethnischen Gruppen -also der Albaner und der Serben – haben im Unterschied zum französischen Leiter des Spitals weniger von den aktuellen Versorgungsproblemen, vom Mangel an Geräten, vom Mangel an Medikamenten, vom Mangel an ausgebildetem Personal gesprochen, sondern primär von dem eigenen Leiden und den Diskriminierungen, vom Ungleichgewicht in der ethnischen Zusammensetzung des Personals, von Ängsten nicht um die Gesundheit, sondern vor der jeweiligen anderen ethnischen Gruppe. Die nationale Frage geht also tief in das Bewußtsein der Mitglieder und Repräsentanten der verschiedenen Nationalitäten hinein und ist nicht hinwegzuleugnen.

2.) Eine wesentliche Konsequenz, die das Brünner Nationalitätenprogramm zieht, ist die, daß es eines neuen, umfassenden Gemeinwesens bedarf, das den verschiedenen Nationalitäten Rechte und Möglichkeiten der Entfaltung gibt, autonome Entwicklungen zuläßt, aber auf der anderen Seite durchaus übergeordnete Institutionen der Kooperation schafft. 1899 ging es um die Umgestaltung Österreichs, heute geht es um die Neugestaltung, um den Aufbau eines gemeinsamen Europas.

Orientierung am „Zentrum“

Dabei hat man auch heute den Eindruck, den Joseph Roth damals, als er die „Kapuzinergruft“ geschrieben hat, von Österreich hatte, nämlich daß es vor allem die Völker an den Rändern sind, die an übergeordneten Gemeinwesen interessiert sind, die eine Orientierung an einem Zentrum haben, das ein Zentrum für eine möglichst umfassende und große Gemeinschaft darstellt. „Freilich sind es die Slowenen, die polnischen und ruthenischen Gallizianer, die Kaftanjuden aus Boryslaw, die Pferdehändler aus der Bacska, die Moslems aus Sarajewo, die Maronibrater aus Mostar, die `Gott erhalte` singen. Aber die deutschen Studenten aus Brünn und Eger, die Zahnärzte, Apotheker, Friseurgehilfen, Kunstphotographen aus Linz, Graz, Knittelfeld, die Kröpfe aus den Alpenländern, sie alle singen `Die Nacht am Rhein`. Österreich wird an dieser Nibelungentreue zugrunde gehen. (…) Die österreichische Substanz wird genährt und immer wieder aufgefüllt von den Kronländern.“
Und so könnte man heute sagen, daß die europäische Substanz sehr stark genährt wird von dem Wunsch jener Staaten, die nicht bzw. noch nicht der Europäischen Union angehören, während in der Europäischen Union zunehmender Skeptizismus und eine Rückbesinnung auf nationale Autonomie vorhanden ist. Dennoch müssen wir mit allem Nachdruck die Völker, die nach Europa streben, aufmerksam machen, daß das gemeinsame Europa keine Alternative zur regionalen Kooperation darstellt. Daß wir nicht akzeptieren können, daß dieses gemeinsame Europa gewissermaßen den Referenzwert für eine politische Entwicklung in den einzelnen Ländern und Regionen darstellt, aber die unterschiedlichen ethnischen Gruppen nicht bereit sind, mit ihren unmittelbaren Nachbarn, die alle für sich nach Europa schauen, zusammenzuarbeiten.

Regionale Zusammenarbeit als Basis für ein starkes Europa

Das gemeinsame Europa kann nicht von Brüssel aus geschaffen werden, sondern Brüssel kann, muß und wird helfen, daß Brücken in der Region geschaffen und geschlagen werden und dadurch die Voraussetzungen für die Erweiterung Europas bei gleichzeitiger Stärkung Europas geschaffen werden. Die Sozialdemokratie muß daher mehr als es die Konservativen heute tun, auf regionale Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Völkern, Nationen, Nationalitäten, ethnischen Gruppen drängen, um auch auf diese Weise die Bedeutung bzw. die Rolle der nationalen Frage als eine trennende, eine immer wieder Konflikt und letztendlich Krieg schaffende Rolle zurückzudrängen, abzubauen und zum Verschwinden zu bringen.
Dabei ist es gar nicht notwendig, statt an der nationalen Identität mit aller Gewalt an einer europäischen Identität zu arbeiten. Dies soll auch Europa Kraft und Unterstützung geben. Aber wir sollen auch durchaus das nützen, was uns heute und morgen hilft und gerade auch den ärmeren Nationen auf diesem Kontinent entgegenkommt. In diesem Sinn stimme ich Richard Herzinger durchaus zu, der in einem Beitrag in „Die Zeit“ gemeint hat: „Alle Anstrengungen, eine `europäische Identität` zu definieren, führen in eine Sackgasse. Doch statt sich darüber Sorgen zu machen, sollte Europa seine grundsätzliche Undefinierbarkeit als seine größte Chance begreifen. Daß der Motor ihrer Einigung heute die Industrie- und Finanzwirtschaft ist, ist keine Schande für die Europäer – es ist ein Glück. (…) Die unblutige Integrationskraft des Geldes ist unideologisch und kulturell neutral genug, um das entstehende Staatengebilde für künftige Mitglieder offenzuhalten.“
Es mag etwas brutal klingen und zu einseitig sein, aber es hat durchaus seine Bedeutung und seine Richtigkeit, wenn hier auf die ökonomische Kraft als Integrationskraft gesetzt wird, denn so wird von den fruchtlosen nationalen Streitigkeiten und den Auseinandersetzungen zwischen dem der einzelnen ethnischen Gruppen abgelenkt.

3.) In der Geschichte gibt es wenig hundertprozentige Aussagen nach dem Muster „wenn, dann“. Aber es gibt doch eine Reihe von Faktoren, die eine hohe Wahrscheinlichkeit darstellen. Beispielsweise zeigt und lehrt die Erfahrung, daß Demokratien miteinander kaum Krieg führen.
So hat Amartaya Sen vor kurzem belegt, daß in Demokratien keine Hungerkatastrophen vorkommen, und daß selbst auf Naturkatastrophen ganz anders reagiert wird als in Diktaturen. Weder schließt das aus, daß es in Demokratien Säbelgerassel gibt noch, daß es Hunger gibt, noch daß es Naturkatastrophen gibt. Aber die Bewältigung solcher Phänomene und die Verhinderung der katastrophalen Entwicklung solcher Phänomene ist sicher in den Demokratien ganz eindeutig stärker gegeben also dort, wo keine Demokratie herrscht.

Demokratie als Garant gegen Auswüchse des Nationalismus

In diesem Sinn fordert das Brünner Nationalitätenprogramm auch ein wahrhaft demokratisches Gemeinwesen, basierend auf dem allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrecht. Und in diesem Sinn fordert das Brünner Nationalitätenprogramm die Umwandlung in einen demokratischen Nationalitätenstaat.
Demokratie ist auch ein sehr geeignetes Mittel gegen die Auswüchse des Nationalismus, gegen extremen Hader aus ethnischen, nationalistischen, religiösen Gründen. Nur die Demokratie schafft die Voraussetzung, daß Menschen auch nach anderem fragen als nach der Berücksichtigung ihrer nationalen Interessen, sondern eben auch nach wirtschaftlichem und sozialem Aufschwung, nach Beschäftigung, nach Sicherheit, etc.
Beim jüngstem Besuch im Kosovo hat ein sehr bekannter Journalist, der inzwischen von den Extremisten seiner eigenen ethnischen Gruppe bedroht wird, zu uns gemeint: „Befragen Sie die Politiker in diesem Land über ein Detail aus der Geschichte ihrer Nationalität und sie werden das ganz genau mit unterschiedlichen Interpretationen schildern können. Die Vergangenheit ist ihnen voll bewußt und bekannt. Fragen Sie die Politiker aber, wie im Kosovo die Sozialversicherung aufgebaut werden soll, und Sie werden keinen Politiker finden, der darüber auch nur irgendeine Idee hat.“
Das hat mir wirklich vor Augen geführt, wie notwendig es ist, bei Anerkennung der nationalen Frage die Aufmerksamkeit der Menschen und vor allem auch der Politik Zug um Zug, stärker und stärker in Richtung der wirklichen Überlebens- und Lebensbedürfnisse der Menschen zu richten. Und es ist ja bekannt, daß Nationalismus aufs engste verknüpft ist mit Korruption, mit Bereicherung, letztendlich – gerade auch in Südosteuropa – mit mafiösen Entwicklungen.
In einem nationalistischen Klima ist alles, was ein Angehöriger der eigenen Nationalität tut, gerechtfertigt – es dient der guten Sache. Das aber, was ein anderer tut, ist von vornherein verdächtig, ja negativ und abträglich. Diese geteilte Auffassung und Bewertung ist natürlich der beste Deck- und Schutzmantel für mafiöse Machenschaften. Demokratie dagegen ist der Feind von Korruption und Bereicherung, und Demokratie ist der Feind von nationalistischen Auswüchsen und extremen Handlungen wie Vertreibung und Tötung.
Nichts folgt automatisch. Aber die Kombination von demokratischen Entwicklungen auf der einen Seite und von Orientierung an einem übergeordneten Gemeinwesen, das viele Nationalitäten, ethnische Gruppen, religiöse Bekenntnisse etc. umfaßt, das sind die beiden Stützpfeiler, die es schaffen können, daß die Nationalitätenfrage bei aller Anerkennung der Bedeutung der nationalistischen Neigungen relativiert, zurückgedrängt und vielleicht irgend wann einmal auch zu einer mehr oder weniger irrelevanten Frage macht. Diese Entwicklung muß daher in größerem Ausmaß als bisher fortgesetzt werden.
 
Brünn, 23.9.1999