2007 oder 2008?

Bulgarien wünscht sich, 2007 der EU beizutreten – auch wenn es weiß, dass noch nicht alle Reformen erldigt sind.
Wir – eine Gruppe von sozialdemokratischen Europaabgeordneten, darunter auch mein Kollege Jan Marinus Wiersma – sind nach Bulgarien gekommen, um uns vor Ort über die Vorbereitungen des Landes auf seinen möglichen Beitritt 2007 zu informieren.

Beitritt 2007?

Wir wollten herausfinden, ob wir dafür plädieren können, dass dieser Beitritt tatsächlich 2007 erfolgt oder ob wir den möglichen Aufschub auf 2008 bevorzugen sollen. Außerdem interessierte uns, auf welche Bereiche wir weiterhin besonderes Augenmerk legen müssen. Was sollte einem Monitoring, einer Sicherheitsklausel unterzogen werden? Und wo müsste die EU-Kommission besondere Maßnahmen treffen, um zu garantieren, dass Bulgarien auch nach einem Beitritt 2007 die entsprechenden Schritte setzt, um allfällige Lücken zu schließen?
Gestern früh trafen wir eine Reihe von NGO-VetreterInnen, die sich mit der demokratischen Entwicklung im Land beschäftigt haben, insbesondere mit der politischen Situation und der spezifischen Lage der Kinder in Bulgarien. Unzählige Kinder sind in Heimen untergebracht, und es gibt große Kritik an den Unterbringungsbedingungen und enormen Verbesserungsbedarf.

NGO-VetreterInnen

Die NGO-VetreterInnen waren sich nicht ganz einig, ob sie für einen Beitritt 2007 oder eher für ein Aufschieben plädieren sollen. Ihnen war wichtig sicherzustellen, dass der Druck auf die Reformen aufrechterhalten wird. Sie gaben zu Bedenken, dass diese Reformen erst relativ kurz in Gang gesetzt wurden – insbesondere durch die neue Regierung, die von Sozialdemokraten geleitet wird, der aber auch die Partei des früheren Königs Simeon II. angehört. Simeon ist eigentlich nie wirklich König gewesen, sondern Ministerpräsident der vorigen Regierung.
Unter der Voraussetzung, dass es entsprechenden Druck seitens der Europäischen Union bei der Korruptionsbekämpfung, aber auch bei der Integration der Roma und der Behandlung der vor allem psychisch kranken und behinderte Kinder gibt, sprachen sich die NGO-VetreterInnen schließlich doch für einen Beitritt im Jahr 2007 aus.

Kampf gegen Korruption

Einige sahen trotzdem die Gefahr, dass es nicht zum Beitritt kommen könnte, sollte die rechtsgerichtete Partei Attac, eine Anti-EU Partei, wie wir sie bei Jörg Haider und seiner alten bzw. der neuen FPÖ, aber auch in Polen und anderen Ländern finden, Zugewinne verzeichnet.
Augenscheinlich war die einhellige Meinung, wie übrigens auch bei den Vertretern der Gewerkschaft und Parteien, die wir im Anschluss trafen, dass die Bevölkerung fordert, den Kampf gegen die Korruption und gegen das organisierte Verbrechen weiterzuführen und Verbesserungen im Gesundheits- und Sozialwesen vorzunehmen.

Reformen angehen

Nach den Gesprächen mit den NGOs haben wir die verschiedenen Parteien besucht, insbesondere jene, die in der Koalition vertreten sind. Diese Gespräche haben ein mehr oder weniger klares Bild ergeben: Der Wunsch, 2007 beizutreten, das Bekenntnis, noch nicht alles erledigt zu haben und auch die Bereitschaft, mit der Europäischen Union gemeinsam an den weiteren Reformen zu arbeiten, zogen sich quer durch alle Lager.
Ähnlich ist auch das Treffen mit der Integrationsministerin Kuneva verlaufen, die ich bereits in Brüssel getroffen hatte, wo sie mich einmal besuchte. Sie ist schon in früheren Regierungen tätig gewesen und arbeitet sehr engagiert am Image ihres Landes, aber auch an den notwendigen Veränderungen.

Justizreform

Wir sprachen mit Kuneva, wie auch mit den VertreterInnen der politischen Parteien über das Problem, dass die Reformen in Bulgarien relativ spät in Angriff genommen worden sind, vor allem die Justizreform. Jetzt gibt es zwar einen neuen Generalstaatsanwalt, der dafür Sorge tragen soll, dass die Maßnahmen gegen das organisierte Verbrechen und die Korruption intensiviert werden. Dieser Druck kann aber auch dazu führen, dass übereilte Handlungen gesetzt werden, ohne über ausreichendes Beweismaterial zu verfügen und die Gerichte die Gefangenen in der Folge wieder freilassen müssen.
Heute früh trafen wir Innenminister Rumen Petkov. Er selbst wies darauf hin, dass es erst jetzt durch die Justizreform zu entsprechenden Veränderungen gekommen ist. Die verschiedenen Experten aus den EU-Ländern geben allerdings über diese Veränderungen unterschiedliche Urteile ab, da die einzelnen Traditionen innerhalb der EU ja sehr unterschiedlich sind.

Graubereich Rechtsstaatlichkeit

Diese spannende Frage erörterten wir am Abend zuvor bei einem Essen in kleinem Kreis mit Ministerpräsident Sergei Stanishev und seinem Stellvertreter in der Partei und Parlamentspräsident Georgi Pirinski: Was kann die Europäische Union von einem Beitrittskandidaten in jenen Bereichen verlangen, für die es keinen aquis communitaire, also keine europäische Gesetzgebungs- und Regelungskompetenz gibt?
Wir verlangen einerseits gemäß den Kopenhagener Kriterien Rechtsstaatlichkeit, diese ist allerdings nicht im Detail definiert. Daher kann es durchaus dazu kommen, dass diese Rechtsstaatlichkeit von verschiedenen Experten sehr unterschiedlich definiert wird. Es handelt sich hier zweifelsohne um einen Graubereich.

Fingerspitzengefühl

Ich habe im Gespräch mit dem Ministerpräsidenten verteidigt, dass wir uns intensiv mit dieser Frage auseinandersetzen, obwohl das Problem gar nicht dem aquis communitaire unterliegt. Wir tun das deshalb, weil unserer BürgerInnen in unseren eigenen Ländern fordern, dass Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Gerichte hergestellt wird. Wenn ein Gerichts- bzw. Justizsystem sehr langsam arbeitet, wie das in Bulgarien der Fall ist, dann stellt sich schon die Frage, wie viel Einfluss der Justizminister und die obersten Justizbehörden haben sollen und inwieweit Beschleunigung positiv sein kann oder politische Einflussnahme bedeutet.
Man muss in diesen Fragen mit Fingerspitzengefühl vorgehen. Ich habe versucht deutlich zu machen, dass diese Aspekte jedenfalls im Interesse Bulgariens, aber auch im Interesse der Europäischen Union besonders betont werden sollten. Auch mein Kollege Wiersma, der aus einer stärkeren kalvinistischen Situation heraus kommt, unterstützte meine Position.

Moderne sozialdemokratische Vision

Das Gespräch mit Ministerpräsident Stanishev verlief äußerst angenehm. Ich habe ihn bereits kennen gelernt, als er noch Internationaler Sekretär war. Gemeinsam mit Jan Marinus Wiersma habe ich immer wieder versucht dazu beizutragen, dass die verschiedenen sozialdemokratischen Parteien in Bulgarien zueinander finden und der Bevölkerung eine moderne sozialdemokratische Vision anbieten. Das war sicher ein Grund dafür, dass die Sozialisten nicht nur die Präsidentnenwahl gewonnen haben, sondern dass in der Folge auch Stanishev zum Premierminister gewählt worden ist.
Vor unserem Abendessen mit Stanishev hatten wir die Sozialministerin getroffen. Mit ihr erörterten wir Fragen der Roma-Integration, der Frauenrechte und des Ausbaus der sozialen Leistungen, soweit diese unter den Restriktionen des Internationalen Währungsfonds möglich ist. Die Anstrengungen, trotz des niedrigen Einkommensniveaus ein einigermaßen sozial ausgeglichenes System zu schaffen, haben uns beeindruckt.

Im Wettbewerb standhalten

Die niedrigen Löhne und Gehälter in Bulgarien standen im Zentrum unserer Gespräche mit den Gewerkschaften, die wir heute geführt haben. Außerdem war hier der Wunsch nach dem Kampf gegen Verbrechen und Korruption vorherrschend. Mittel- bis langfristig hoffen die GewerkschafterInnen aber auch auf eine Verbesserung der Beschäftigungssituation und auf die Integration in ein Wirtschaftssystem, das von sich die Möglichkeiten schafft, auch auf globaler Ebene erfolgreich zu agieren.
Am Ende unserer Gespräche fragte ich eine Stellvertreterin des Gewerkschaftspräsidenten, ob die bulgarische Wirtschaft stark genug sei, um im Wettbewerb Stand zu halten. Sie gab offen zu, dass einige Unternehmen und Betriebe dem globalen Wettbewerb zum Opfer fallen werden und es zu wesentlichen Veränderungen kommen wird. Damit hat sie sicher Recht. Ob auch die BulgarInnen diese Meinung teilen, ist eine andere Frage. Wir erleben ja auch in unseren eigenen Ländern, dass den jeweiligen Beitritten zur Europäischen Union Entwicklungen zugeschrieben, die gar nichts mit diesen Beitritten zu tun haben, sondern mit den globalen wirtschaftlichen Veränderungen zusammenhängen. Abschließend hatten wir ein noch Arbeitsessen mit dem Leiter der Delegation der Europäischen Kommission in Bulgarien, Dimitris Kurkulas, den ich schon länger kenne.

Wünsche Bulgariens

Schon beim Premierminister, aber auch bei den Vertretern der sozialdemokratischen Partei innerhalb der Regierungskoalition und beim Außenminister Kalfi haben wir versucht herauszuarbeiten, was unsere Empfehlungen sein könnten und wie der Prozess im Europäischen Parlament ablaufen soll. Außenminster Kalfi ist ein sehr angenehm, offener und sehr pragmatisch denkender Mensch.
Seine Argumentationsweise war, wie auch jene des Premierministers und der Europaministerin, keinesfalls von Drohungen begleitet, wenn wir zu keiner positiven Empfehlung kommen sollten. Vielmehr hat man versucht zu vermitteln, warum es für Bulgarien wichtig ist, dass der Beitritt jetzt stattfindet. Zum einen hinsichtlich des Ratifizierungsprozesses in den einzelnen Ländern, der noch immer nicht abgeschlossen ist – auch in Österreich nicht. Zum zweiten, um die Reformkoalition im Land erhalten zu können. Und um drittens zu verhindern, dass die rechtsgerichtete populistische Partei Attac nicht gestärkt wird.

Mitspracherecht des EU-Parlaments

Man hofft auf eine Entscheidung über den Beitrittstermin im Juni, und so ist es auch vorgesehen. Die Frage, ob es für Bulgarien – dasselbe würde auch für Rumänien gelten – besondere Sicherheitsklauseln geben soll, sodass im Falle von nicht durchgeführten Reformen entsprechende Konsequenzen gezogen werden könnten, von Verringerungen der finanziellen Leistungen bis zu Zugangsbeschränkungen zum europäischen Markt, sollte hingegen erst im Herbst getroffen werden. Das gäbe dem Land die Möglichkeit, die Zeit zu nützen und die entsprechenden Reformschritte zu setzen. Eventuell notwendige Sicherungsmaßnahmen könnten so auf ein Minimum begrenzt werden.
Für uns im Europäischen Parlament ist es wichtig, ein entsprechendes Mitspracherecht zu haben. Wir haben dem Beitritt 2007 mit der Möglichkeit der Aufschiebung auf 2008 unter der Voraussetzung eines solchen Mitspracherechts zugestimmt. Dieses wurde uns sowohl von der Kommission als auch vom Rat versprochen.

Kommissionsbericht abwarten

Die Letztkompetenz liegt bei der Europäischen Kommission, die einen abschließenden Bericht vorlegen wird. Wir wollen der Kommission auch gar nichts vorschreiben, obwohl gerade unsere Fraktion durch eine eigene Monitoring-Kommission mit detaillierter Arbeit und Erforschung der Entwicklungen vorgegangen ist. Wir sollten den Kommissionsbericht abwarten und dann unsere Meinung abgeben, ob wir mit ihren Empfehlungen einverstanden sind oder nicht. Mit unseren Äußerungen würden dann die Kommissionsempfehlungen an den Rat gehen. Dies scheint mir die beste Vorgangsweise zu sein.
Ich hab diese Strategie gemeinsam mit Jan Marinus Wiersma und Martin Schulz entwickelt und in einem Gespräch mit Bulgarien abgestimmt. Wir hoffen, dass der weitere Beitrittsprozess in dieser Form abgewickelt werden kann. Wir werden darüber in den nächsten Tagen während der Plenarsitzung in Straßburg entscheiden und versuchen, noch eine ähnliche Factfinding-Tour in Rumänien zu absolvieren, um uns so endgültig klar zu werden, wie der Gesamtprozess für Rumänien und Bulgarien ablaufen soll.

Keine Abkoppelung

Ein Abkoppeln eines Landes vom anderen scheint mir nicht sinnvoll zu sein. Aus meiner Sicht bestehen zwischen den beiden Ländern keine gravierenden Unterschiede. Einem Land den Vorrang zu geben, scheint mir daher nicht akzeptabel zu sein. Wir sollten beide Länder grundsätzlich gleich behandeln, wenngleich die Sicherheitsklauseln in Rumänien und Bulgarien unterschiedlich ausgebildet sind.
Ich habe in Bulgarien argumentiert und werde das auch gegenüber der Kommission tun, bei der Umsetzung der bestehenden Gesetze nicht oberlehrerhaft als von oben kommende Kontrolle zu agieren, sondern im Sinne einer zielgerichteten Partnerschaft zu kooperieren, solange, bis die wesentlichen Reformen umgesetzt sind.

Rechtsstaatlichkeit auch in der EU wahren

Leider gibt es auch innerhalb der Europäischen Union zweifelhafte Entwicklungen – ob das Berlusconis Italien, Haiders Kärnten oder das Polen der Brüder Kacinski betrifft. Die EU muss sich überlegen, wie sie mit Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit, dem nicht Respektieren von Gesetzen oder Entscheidungen Oberster Gerichtshöfe umgeht, selbst wenn es sich nicht um Verletzungen des aquis communitaire im engeren Sinn handelt.
Die BürgerInnen legen Wert auf die Einhaltung der Gesetze und die Europäische Union muss dies entsprechend unterstützen. Wäre die Grundrechtcharta bereits in einer Verfassung verankert, würde dies wesentlich leichter fallen. Wenn es den europäischen Institutionen nicht gelingt, die Befolgung und Einhaltung von Rechtsgrundsätzen und -staatlichkeit zu garantieren, so wird jedenfalls die Glaubwürdigkeit der Europäischen Union massib darunter leiden.

Sofia, 1.4.2006