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Für den Terrorismus kann es keine Sympathie und kein Verständnis geben, aber ebenso muss es eine Bereitschaft geben, die politischen Konflikte zu lösen – vom Nahen Osten bis zum Tschetschenienkonflikt.
Heute ist ein denkwürdiger Tag, der 11. September – drei Jahre nach dem fürchterlichen Terroranschlag in New York.

Metamorphose der Stadt

Ich befinde mich in Venedig. Eine Einladung zur Teilnahme an der Eröffnung des Österreich-Pavillons bei der Architektur-Biennale lockte mich in diese traumhafte Stadt. Als Wiener Planungsstadtrat hatte ich naturgemäß mehr mit Architektur zu tun als derzeit, aber Architektur sowie Stadtentwicklung und Stadtplanung interessieren mich auch heute nach wie vor.
Thema der diesjährigen Biennale ist die Metamorphose der Stadt durch Architektur. In der Tat haben sich unsere Städte durch die wirtschaftlichen und sozialen Strukturveränderungen in den vergangenen Jahren stark gewandelt, und darauf konnten die Stadtplanung und die Architektur reagieren. Taten sie dies geschickt und mit Weitblick, konnten neue wirtschaftliche, aber vor allem auch Freizeitchancen für die StadtbewohnerInnern gewonnen werden.

Nord-Süd-Gefälle

Auffallend bei der Präsentation der Projekte in Venedig war, dass fast ausschließlich Projekte aus Europa und den dynamischen Ländern Asiens gebracht wurden. Dabei bedürften insbesondere die bevölkerungsreichen und ärmeren Städte des „Südens“ (Lateinamerika, Afrika) besonderer Aufmerksamkeit. Die Trennung zwischen den reichen Regionen (USA, Westeuropa, Japan) sowie den wirtschaftlich dynamischen Regionen (vor allem China) kommt auch in der Stadtplanung und Architektur zum Ausdruck.
Und so verweist der Kritiker der Süddeutschen Zeitung in seinem heutigen Kommentar zur Biennale zu Recht darauf, dass die Städte im Süden von Glück reden könnten, wenn ihre Vorstädte so aussehen würden wie in Deutschland. Aber das sollte kein Trost sein für die Menschen, die in unansehnlichen, unattraktiven Vorstädten leben – sei es in Europa oder in den „Molochen“ des Südens.

Europa als Gegenmacht zur USA

Es gibt aber noch andere Spaltungen, die quer durch den reichen Norden verlaufen, vor allem zwischen den USA und dem Europa der EU. Jüngste Umfragen haben bestätigt, dass Europas Bevölkerung der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik (oder sollte man lieber Unsicherheitspolitik sagen) äußerst skeptisch bzw. ablehnend gegenüberstehen. Die Super- bzw. Hypermacht USA stößt in Europa, übrigens auch in der Türkei (!), auf großes Misstrauen.
Europas PolitkerInnen werden aufgefordert, eine Gegenmacht zu bilden, allerdings werden steigende Militärausgaben, die im Normalfall damit verbunden sind, abgelehnt. Die Frage allerdings, ob eine EU ohne starke militärische Komponente ein wirkliches Gleichgewicht zu einem Amerika, das seine militärische Übermacht immer wieder einsetzt, bilden kann, ist offen. Da jedoch eine ähnlich hochgerüstete Supermacht Europa keinen Sinn macht, muss der Versuch unternommen werden, eine alternative „Macht“ global wirksam werden zu lassen – im Bewusstsein, dass man vieles nicht durchsetzen wird können. Allerdings, wie erst die jüngsten Ereignisse im Irak immer wieder deutlich machen, stoßen auch die hochgerüsteten USA auf enge Grenzen bei der Verbindung bzw. Bekämpfung des Terrors.

Die Bush-, Putin-, Sharon-Formel

Ähnlich geht es einer anderen hochgerüsteten Macht, nämlich Russland. Ein furchtbarer Terroranschlag, der auch Kinder nicht verschont hat, hat das einer erschrockenen und betroffenen Weltöffentlichkeit vor Augen geführt. Und die Unfähigkeit der Verantwortlichen in Russland hat das ihre dazu beigetragen, dass der Terror diesmal sogar eine große Anzahl von Kindern auf seinem Gewissen hat, sofern man hier überhaupt von Gewissen sprechen kann.
Auch Präsident Putin hat inzwischen laut über Präventivschläge nachgedacht, keine zu Optimismus und Freude Anlaß gebende Drohung. Überhaupt zieht sich eine gefährliche Linie durch eine gemeinsame Konzeption zur Terrorismusbekämpfung von Bush, Putin und Sharon: Gewalt braucht Gegengewalt – und damit basta! Es ist dies eine einfache, verständliche, aber nicht zu Erfolg führende Formel. Kein Staat, keine Gemeinschaft kann auf – auch gewaltsame – Bekämpfung des Terrors verzichten. Aber es geht darum, nach dem Prinzip zu handeln, das kürzlich sogar der frühere konservative britische Außenminister Douglas Hurd zum Ausdruck gebracht hat: Es gilt, jene zu bekämpfen, die bereits Terroristen sind und es gilt gleichzeitig zu verhindern, dass es Menschen gibt, die Sympathie für die Terroristen aufbringen.
Eine gemeinsame Strategie Bush, Putin und Sharon verspricht aber genau das Gegenteil. Diese Strategie verspricht nicht Frieden und Konfliktlösung, sondern Aufheizen und Konfliktverschärfung. Hier ist Europa besonders gefordert. Kein Nachgeben gegenüber der Gewalt und dem Terrorismus, aber intensive Bemühungen um Konfliktbereinigung und darum, den Terroristen jede Art von Unterstützung und Sympathie zu entziehen.

Gewalt und Gegengewalt

Bush, Putin und Sharon – und einige andere – haben sich also auf einen Krieg gegen den Terrorismus eingeschworen. In der heutigen Ausgabe der „International Herald Tribune“ gibt es zwei widersprüchliche Meinungen dazu. Der russische Autor Viktor Erofeev meint klar und deutlich: „Ein ernsthafter Krieg hat in Russland begonnen und wir müssen gemäß den Gesetzen einer Kriegszeit leben und uns der herrschenden Autorität unterwerfen.“ Und, bei aller Kritik an Putin: „In der Abwesenheit einer wirklichen politischen Opposition der zivilen Gesellschaft, es ist der Präsident, der entscheiden muss, auf welcher Seite des Krieges Russland steht.“
Im Gegensatz dazu meint der spanische Autor Javier Marias: „Es gibt keinen Krieg gegen den Terrorismus.“ Der Gegner ist viel zu versteckt und wir müssen auch ein normales Leben führen, das im Kriegsfall unmöglich wäre. Seine Mahnung zur Geduld ist allerdings zu wenig, um als politische Strategie anerkannt zu werden.

Die Gegenstrategie

Um es nochmals klar zu sagen: Für den Terrorismus kann es keine Sympathie und kein Verständnis geben, aber ebenso muss es eine Bereitschaft geben, die politischen Konflikte zu lösen – vom Nahen Osten bis zum Tschetschenienkonflikt. Dass der Nah-Ostkonflikt in besonderem Maße Verantwortung für die Ausbreitung des Terrorismus trägt, erkennt jeder, der die Realität sehen möchte.
Dabei ist heute aufgrund der Entwicklungen klar, dass selbst bei einer Lösung dieses Konfliktes der Terrorismus nicht von Heute auf Morgen aus der Welt verschwindet. Aber ohne Lösung dieses Konfliktes kann der Terrorismus nicht wirksam bekämpft werden. Europa darf nicht aufhören, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen und muss seinen Standpunkt entsprechend unmissverständlich klar machen. Wir müssen die Alternative zur Bush-, Putin- und Sharon-Linie klar darlegen – nach außen und nach innen.

Muslimische Bevölkerung einbeziehen

Für diese Linie müssen wir auch unsere muslimische Bevölkerung gewinnen. Dann können wir auch von ihnen verlangen, dass sie für diese „Doppelstrategie“ der Ablehnung und des Kampfes gegen den Terrorismus sowie der Hilfe für die Armen – hier in Europa, aber auch bei ihren Glaubensbrüdern und -schwestern – eintreten. Insofern war die einhellige Solidarität der europäischen muslimischen Bevölkerung angesichts der Geiselnahme von zwei Franzosen im Irak sehr erfreulich.
Aber Terrorismus und Geiselnahmen generell müssen geächtet werden, genauso wie die militärischen Aktionen von Besatzungsmächten und die mangelnde Bereitschaft, für politische Probleme politische Lösungen zu finden.
Venedig, 11.9.2004