Alles im Fluss

Schon auf Grund der internationalen Glaubwürdigkeit ist es wichtig, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beginnen. Das Versprechen dazu wurde vor Jahrzehnten gegeben und immer wieder bekräftigt und bestätigt.
Die eben zu Ende gegangene Straßburgwoche verlief für mich sehr abwechslungsreich. Auch diesmal stand die „normale“ gesetzgeberische Arbeit im Mittelpunkt. Hier ist besonders das Eisenbahnpaket zu erwähnen – es ist bereits das dritte seiner Art. Außerdem fand eine Debatte und Abstimmung über die Türkei, konkret über die Frage der Eröffnung von Verhandlungen und den damit verbundenen Bedingungen, statt.

Spannende und abwechslungsreiche Plenartagung

Besonders spannend war für mich die Begegnung mit zwei – in ihrer Art sehr unterschiedlichen – Ministerpräsidenten: Bundeskanzler Schröder aus Deutschland und Ministerpräsident Sanader aus Kroatien. Außerdem stand auch diesmal die übliche Vorbereitung und Führung der parlamentarischen Arbeit auf dem Programm, ebenso wie das Treffen mit den Ausschussvorsitzenden der sozialdemokratischen Fraktion, mit den Koordinatoren, mit der Arbeitsgruppe zur Zuckerreform innerhalb der EU, die Fraktionssitzungen und schließlich eine Diskussion im Vorstand mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission Barroso und einigen Kommissaren.

Das dritte Eisenbahnpaket

Was die gesetzgeberische Arbeit betrifft, möchte ich kurz auf das Eisenbahnpaket zurückkommen. Ich war, damals noch als Mitglied im Verkehrsausschuss, in der abgelaufenen Gesetzgebungsperiode selbst einer der Berichterstatter des zweiten Eisenbahnpaketes. Nun kam es zu einem dritten Paket. Dieses soll eventuelle Liberalisierungsmaßnahmen und auch den Lokführerschein beschließen. Ging es ursprünglich um die Liberalisierung des Güterverkehrs, so kam es damals schon zu einem Kompromiss mit den Konservativen, in der neuen Gesetzgebungsperiode die Frage der Liberalisierung des Personenverkehrs zu behandeln.
Das ist aus meiner Sicht sehr zwiespältig. Einerseits gibt es selbst im Güterverkehr lediglich Ansätze einer Liberalisierung – ein Beschluss über Liberalisierungen ist noch nicht gleichbedeutend mit der Umsetzung. Andererseits haben wir noch viel zuwenig Erfahrung mit Liberalisierungsschritten, insbesondere um klar zu sehen, wie die Dinge laufen. Grundsätzlich wurde schon beim zweiten Eisenbahnpaket vor Jahren beschlossen, dass der grenzüberschreitende Personenverkehr auch in den kommenden Jahren eine Liberalisierung erfahren soll.

Streit um des Kaisers Bart

Im Klartext: auch private Eisenbahnunternehmungen sollen ein Anrecht haben, ihre Dienste im grenzüberschreitenden Verkehr anzubieten. Aber bisher war das eben nicht verpflichtend. In einzelnen Fällen gab es zwar entsprechende Angebote, allerdings keine besonders verlockenden, weil derzeit daraus kaum Gewinne zu machen sind.
Insofern war die Auseinandersetzung über die nähere Definition der Liberalisierung beim grenzüberschreitenden Verkehr und der Nachfolge beim innerstaatlichen Verkehr ein Streit um des Kaisers Bart. Dieser ist so ausgegangen, dass sich die Mehrheit des Europäischen Parlaments für Liberalisierungsschritte ausgesprochen hat, die ich persönlich mit meinen österreichischen KollegInnen und vielen anderen aus unserer Fraktion abgelehnt habe.

Liberalisierung vollbringt keine Wunder

Es sei nochmals gesagt: Die unmittelbaren Konsequenzen, gerade für Österreich, dessen Rechte eine viel weitergehende Liberalisierung ermöglicht, sind gering. Ich befürworte prinzipiell eine Öffnung der Märkte, weil die bestehenden Unternehmungen zu starr agieren. Trotzdem darf man sich aber von einer Liberalisierung keine Wunder erwarten. In der nächsten Zeit muss den bestehenden Unternehmungen in den einzelnen Mitgliedsländern der Europäischen Union mehr Effizienz und Reformbereitschaft abverlangt werden.
Und noch etwas wäre entscheidend, was zwischen Belgien und Frankreich oder zwischen Holland und Deutschland bzw. mit Großbritannien bereits geschieht: internationale Hochgeschwindigkeitszüge als wirkliche Alternative zum Flugverkehr zu etablieren. Der Eurostar zwischen London und Paris bzw. Brüssel sowie der Talis zwischen Brüssel und Paris mit Anknüpfungen nach Holland und Deutschland sind zukunftsweisende Beispiele.

Versprochen ist versprochen

Einen größeren Raum in den Debatten im Parlament und in den Fraktionen, aber vor allem auch in der Öffentlichkeit nahm die Türkeifrage ein. Es ging dabei zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht um die Frage einer Mitgliedschaft der Türkei, sondern schlicht darum, ob die Versprechungen, die man der Türkei über viele Jahre hinweg gemacht hat – Verhandlungen mit dem Ziel eines Beitritts zu eröffnen – eingehalten werden sollen oder nicht.
Die wesentlichen Vorbedingungen, die man von der Türkei verlangt hat, sind aus meiner Sicht auch eingehalten worden. Und schon auf Grund der internationalen Glaubwürdigkeit ist es wichtig, die Verhandlungen mit der Türkei zu beginnen. Das Versprechen dazu wurde vor Jahrzehnten gegeben und immer wieder bekräftigt und bestätigt. Für mich ist es inakzeptabel, diese Versprechungen einfach ins Leere laufen zu lassen und dadurch international große Unglaubwürdigkeit zu zeigen. Aber auch im Interesse der Menschenrechte und der demokratischen Entwicklung in der Türkei, ebenso im Interesse der Auseinandersetzung um die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie ist es wichtig, den Reformprozess in der Türkei nicht abzubrechen, sondern zu unterstützen und fortzusetzen.

Offener Ausgang

Zweifellos ist der Fall Türkei anders gelagert als wir es gewohnt sind. Bei anderen Mitgliedsländern kommt es im Wesentlichen auf den Zeitpunkt des Beitritts an. Im Falle der Türkei ist auch die prinzipielle Frage, ob es zu einem Beitritt kommen kann, offen. Wir haben seitens des Europäischen Parlaments immer wieder betont, dass es sich um einen Prozess mit offenem Ausgang handelt. Das Ziel – und bei Verhandlungen muss ja immer ein Ziel angegeben werden – ist zwar die Mitgliedschaft, und diese wurde ja auch immer wieder versprochen. Aber mit aller Deutlichkeit muss im konkreten Fall der offene Ausgang unterstrichen werden.
Ich sah und sehe keinen Grund, von dieser Linie abzuweichen und glaube, dass es gerade im Verhältnis nicht nur zwischen Europa und der Türkei, sondern auch zwischen Europa und dem Islam wichtig ist, diesen grundsätzlichen Versprechen auch Taten folgen zu lassen und die Verhandlungen mit der Türkei zu beginnen. Ich kann akzeptieren, wenn es zur Frage des Beitritts andere Meinungen gibt. Aber ich glaube doch, dass man auch die Frage der Glaubwürdigkeit zu berücksichtigen hat.

Persönliche Angriffe

In den Tagen vor und nach der Abstimmung, die für die Türkei letztendlich positiv ausfiel, gab es auch kritische Stimmen mir gegenüber, weil ich mich für den Verhandlungsbeginn ausgesprochen habe. Ich möchte daher nochmals betonen: Ich verstehe, dass es unterschiedliche Meinungen gibt. Was ich aber zutiefst bedauere, ist die Gehässigkeit, mit der zum Teil andere kritisiert werden, ist beispielsweise der Hinweis auf Parteidisziplin und vieles andere mehr. Nicht die inhaltliche Auseinandersetzung steht hier im Vordergrund, sondern Kritik und völliges Unverständnis dafür, wie sich jemand überhaupt für den Verhandlungsbeginn mit der Türkei aussprechen kann.
Schon aus demokratiepolitischen Gründen muss ich auch darauf hinweisen, dass ich bereits vor der letzten Wahl zum Europäischen Parlament und auch schon 1999 deutlich gemacht habe, dass ich für einen Verhandlungsbeginn bin. Und zwar unter der Voraussetzung, dass die Türkei die Bedingungen und die Versprechungen, die sie gegenüber der Europäischen Union gegeben hat, auch einhält.

Geradliniger Weg

Ich habe nie mit falschen Karten gespielt, ich habe mich nie um eine Aussage in dieser Frage herumgedrückt und ich bin der Meinung, dass man auch in der Politik geradlinig vorgehen muss. In diesem Sinn bin ich überzeugt, dass mein Abstimmungsverhalten nicht nur inhaltlich korrekt ist, sondern genau dem entspricht, was ich zu dieser Frage immer wieder betont habe. Deshalb können mich auch gehässige Unterstellungen nicht von diesem Weg abbringen.

Schwache EU-Kommission

Wie eingangs erwähnt, führten wir in dieser Straßburgwoche ein ausführliches Gespräch mit Kommissionspräsident Barroso. Ich glaube, dass Barroso die Europäische Union gegenüber den Regierungen mit zu wenig Stärke und Kraft vertritt.
Ich bedauere immer wieder, dass gerade in diesen schwierigen Zeiten, in denen viele Menschen den Glauben an die Europäische Union und an die Sinnhaftigkeit eines europäischen Zusammenschlusses verloren haben, die Kommission derart zögerlich und schwach auftritt und keine deutliche Führungsposition einnimmt. Es gibt zwar einzelne gute Kommissare, aber die Kommission insgesamt und vor allem ihr Präsident agieren in der Öffentlichkeit sehr schwach – und das ist ein enormes Problem.

Kritik resistenter Barroso

Unsere Debatte dazu verlief sehr anregend und heftig. Barroso steckt nicht gerne Kritik ein. Diesmal wollte er auch mir gleich das Wort abschneiden. Es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung mit ihm. Diese war weder negativ noch beleidigend motiviert. Ich habe lediglich versucht zu verdeutlichen, dass wir von der Kommission ein stärkeres Auf- und Eintreten für europäische Anliegen sowie eine stärkere Kooperation mit dem Parlament erwarten.
Als Parlamentarier könnten wir uns eigentlich über eine schwache Kommission freuen. Das tun wir aber nicht. Wir brauchen einen starken Widerpart, mit dem wir auch in einen durchaus sachlichen Streit eintreten können. Und genau das ist derzeit mit Barroso nicht möglich.

Relaxter Schröder

Am Dienstag lud mich Martin Schulz, unser Fraktionsvorsitzender, zu einem Gespräch mit Bundeskanzler Schröder ein – ein Arbeitsmittagessen, an dem auch Kanzleramtsminister Steinmeier teilnahm. Schröder war nach Straßburg gekommen, um bei einer Internationalen Tagung eine Rede zu halten.
Ich habe Schröder schon früher in einem kleineren Kreis getroffen, aber nie in einer derart intimen Runde bei einem Mittagessen. Er war unwahrscheinlich locker. Von der Spannung des Wahlkampfes und der übertriebenen Euphorie am Wahlsonntag war nichts mehr zu spüren. Schröder erkundigte sich auch über die politische Situation in Österreich und die Beweggründe „unserer“ Haltung in der Türkeifrage, der fast identischen Haltung der SPÖ mit der Regierung. Er selbst berichtete von vielen Gesprächen der vergangenen Tage zu Fragen des EU-Budgets und der EU-Verfassung. Unsere kurze Begegnung hat bei mir den Eindruck verstärkt, dass er eine starke europäische Gesinnung hat.

Reformbereite Deutsche

Schröder ist der Meinung – und ich teile diese Meinung – dass die Wahlen in Deutschland durchaus eine Bestätigung des Reformkurses gebracht haben. Das Wahlergebnis spiegelt das Interesse für die Reformen, wie sie die Sozialdemokraten vorgenommen haben bzw. für Reformvorschläge der CDU/CSU wieder. Nur ein geringer Prozentsatz sprach sich für die extrem radikalen Forderungen der FPD bzw. die extreme radikale Reformablehnung von Lafontaine und Gysi aus.
Aus meiner Sicht – und Schröder hat das bestätigt – ist der Ausgang der Wahlen in Deutschland eine Bestätigung zur Reformbereitschaft der Deutschen und nicht, wie immer wieder betont wird, eine Ablehnung.

Große Koalition

Schröder zeigte sich überzeugt, dass sich eine Große Koalition bilden wird. Zur Frage, wer diese Koalition anführen wird, äußerte er sich nicht. Es wurde aber klar, dass für ihn nicht mehr der entscheidende Punkt ist, ob er selbst diese Koalitionsregierung führt, sondern es vielmehr darum geht, die Weichen dafür zu stellen, dass die SPD auch in Zukunft tragende Regierungsverantwortung übernehmen wird.

Gesprächsbereiter Sanader

Der zweite Ministerpräsident, den ich in Straßburg getroffen und mit dem ich gemeinsam mit Martin Schulz ein ausführliches Gespräch geführt habe, war Kroatiens Ministerpräsident Sanader. Sanader hatte begonnen, seine Kontakte in Hinblick auf den kommenden Außenministerrat, bei dem neben der Türkei auch über die Frage der Beitrittsverhandlungen Kroatiens entschieden werden sollte, breiter zu streuen.
Das Gespräch verlief sehr angenehm. Ich bin Berichterstatter des EU-Parlaments für Kroatien und in dieser Funktion eine wichtige Ansprechperson für ihn. Sanader spricht hervorragend Deutsch. Er hat in Innsbruck studiert und pflegt enge Beziehungen zur ÖVP, da er selbst aus dem konservativen Lager kommt. Er versucht aber jetzt, seine Ansprechbasis bzw. Unterstützungsbasis zu verbreitern.

Kooperationen

Ich erwähnte, dass ich am kommenden Wochenende auf Einladung des Oppositionsführers, also dem Chef der Sozialdemokraten, Ivica Racan nach Kroatien fahren werde. Daraufhin lud mich Sanader sofort ein, ihn am Freitag gemeinsam mit meinem Kollegen Jan Marinus Wiersma zu besuchen und wir fixierten einen Termin für den Vormittag.
Das untermauerte das große Interesse an einer guten Kooperation mit dem Parlament und auch mit den Sozialdemokraten.

Straßburg, 29.9.2005