Am Ground Zero

Im August 2002 merkt man nichts vom Absturz und Niedergang New Yorks, der schon so oft – und erst recht nach dem schrecklichen Attentat im vergangenen September – prognostiziert worden ist. 
Kommt man vom verschlafenen, monokulturellen New England ins quirlige, multikulturelle New York, könnte die Diskrepanz kaum grösser sein. New York präsentiert sich dem Besucher im Sommer 2002 – fast ein Jahr nach der furchtbaren Katastrophe vom 11. September 2001 – zwar nach wie vor als ein vielschichtiger Kosmos auf kleinem Raum. Bei näherem Hinsehen bemerkt man aber doch Unterschiede, die über den „ground zero“ als neue Touristenattraktion hinausgehen. Nein: Nicht nur die neue, ruhigere und kompaktere Skyline ohne die Twin Towers des World Trade Centers verleiht der Stadt ein anderes Gesicht. Auch die Tatsache, dass die Besucher des früheren Einwanderungszentrums Ellis Islands nicht mehr – vor- bzw. nachher – die Freiheitsstatue besteigen können, weist etwa auf die generell erhöhten Sicherheitsvorkehrungen hin.

Wiederaufbau

Beobachtet man die Medien, so kann man fast jeden Tag Überlegungen zur Neubebauung des Areals der ehemaligen Twin Towers nachlesen. Die bisherigen architektonischen Vorschläge waren allerdings wenig überzeugend.
Die Stadt New York würde zudem gerne das Eigentum an diesem Grundstück – im Tauschgeschäft – übernehmen. Das Areal gehört derzeit der New York Port Authority, die ihrerseits im Besitz und Einflussbereich der beiden Bundesstaaten New York und New Jersey steht. Dieser Status war der Stadt und vor allem ihrem Bürgermeister Guiliani schon lange ein Dorn im Auge. Und so will die Stadt nun die furchtbare Katastrophe vom 11. September 2001 sowie den geplanten Wiederaufbau zum Anlass nehmen, um die Verhältnisse zu ihren Gunsten neu zu ordnen. Es wird sich zeigen, ob ihr das gelingt.

Faszinierende Stadtlandschaft

Darüber hinaus merkt man auch im Jahr 2002 nichts vom Absturz und Niedergang New Yorks, der schon so oft – und erst recht nach dem schrecklichen Attentat im vergangenen September – prognostiziert worden ist. Ob Central Park oder Soho, ob Greenvich Village oder die Museumslandschaft: die faszinierende Stadtlandschaft beeindruckt wie eh und je. Manche Stadtviertel, so zum Beispiel Harlem, erfahren sogar einen unerwarteten Aufschwung. Das kleine Büro, das der ehemalige Präsident Clinton dort eröffnet hat, war dem Image Harlems zweifellos zuträglich. Aber auch schon vorher hat ein neues Selbstbewusstsein die entsprechenden Veränderungen unterstützt.

Der „american way of capitalism“

Allerdings bleibt noch viel zu tun, um die Zeichen des Verfalls und der Diskriminierung in diesem Teil der Stadt zu beseitigen. Wie schnell das voranschreitet, hängt nicht zuletzt von der allgemeinen wirtschaftlichen Situation ab. Und die ist nicht gerade rosig. Vor allem die skandalösen Entwicklungen, mit denen sich einige Manager riesige Gewinne zugeschanzt haben, zeigen, wie wenig überzeugend der „american way of capitalism“ ist. Dass gerade die USA Europa immer wieder über den wahren Weg zur freien und effizienten Wirtschaft belehren wollen, ist angesichts dieser Skandale besonders grotesk.
Inzwischen ist nicht nur in Europa, sondern auch in den USA selbst eine neue Debatte über die grundsätzliche Strategie der USA in der Welt entflammt. Bestimmt wird sie von den Konservativen, ja geradezu reaktionären Kräften. Nachdem Amerika versucht, die Welt nach seinem eigenen Muster zu stricken, ist diese Debatte jedenfalls auch und vor allem für unsere eigene Zukunft relevant. 
New York, 2.8.2002