Am stürmischen Ohridsee

Eine der zentralen Fragen bei den Beziehungen zwischen Mazedonien und der Europäischen Union ist die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. 
Es ist kühl geworden heute Abend in Ohrid. Und es geht ein etwas starker Wind, der die Wellen des vor meinen Füßen liegenden Ohridsees aufpeitscht. Gestern Abend bin ich in Ohrid angeommen.
Natürlich landeten wir mit Verspätung. Das Flugzeug der Mazedonien-Airlines aus Zürich war gerammelt voll mit vielen mazedonischen Familien, vor allem aus der Schweiz, die zur ihrem Sommeraufenthalt in ihre ursprüngliche Heimat gekommen sind. Wir sind hier in einer Hotel- bzw. Ferienanlage untergebracht, die gut in Schuss gehalten, aber sicherlich schon bessere touristische Zeiten gesehen hat. Heute sind es vor allem Soldaten der KFOR, also der Truppen im Kosovo, die mit ihren Frauen und Freundinnen hier Urlaub machen.

Recht auf eigene Sprache

Ich bin allerdings nicht zum Urlaub da, sondern um mich mit unseren KollegInnen des mazedonischen Parlaments zu treffen. Die Diskussionen konzentrierten sich am Vormittag vor allem auf die in Mazedonien vor gesehen Reformen im Erziehungswesen. Für uns sind diese Reformen insofern von Relevanz, weil es vor allem um die Frage geht, wie in einem Land, das zu 30% oder 40 % von Minderheiten – vor allem von albanischen, aber auch von einer türkischen, bosnischen Minderheit bewohnt wird -, das Erziehungswesen organisiert. Es gab lange Streit darüber, ob die Albaner eigene höhere Erziehungsanstalten und Universitäten mit der Unterrichtssprache Albanisch haben könnten und ob die informell gegründete „Universität“ in Tetova offiziell anerkannt werden würde.
Wir hofften bei all den vorhergehenden Treffen, dass es zu einer vernünftigen Lösung kommen könnte. Auf Grund einer internationalen besetzten Kommission und vor allem auf Grund der Initiative des Beauftragen des Europarates für Minderheitsfragen, van der Stoll, wurde der Entwurf eines Gesetzes ausgearbeitet und dem Parlament vor kurzem vorgelegt. Dieses Gesetz sieht auch private Universitäten vor und macht es außerdem möglich, dass diese Universitäten den Unterricht in einer nicht-mazedonischen Sprache, also in albanisch, englisch, türkisch etc. gestalten. Allerdings müssen trotzdem zumindest drei Fächer in mazedonischer Sprache abgehalten werden.
Mir scheint das ein vernünftiger Kompromiss zu sein, denn das Argument, das von der nicht-albanischen Mehrheit im Land vorgebracht wird, dass die mazedonische, also eine slawische Sprache doch die Grundlage für eine Integration in Mazedonien selbst sei, aber auch für die Chancen in der Region sehr wichtig ist, scheint mir einleuchtend zu sein.
Die Vertreter der albanischen Minderheit in Mazedonien selbst waren dennoch nicht ganz einverstanden mit dem Vorschlag der Regierung, eine Regierung, in der ja auch albanische Vertreter beteiligt sind. Aber ich nehme doch an, dass es in den nächsten Tage oder Wochen zu einer Beschlussfassung kommen wird. Jedenfalls ist es ein schwieriges Ringen, um die Berücksichtigung der Minderheiten und ihrer Sprachen einerseits, und um das Recht der Mehrheit auf Integration andererseits.

Assoziierungs- und Stabilisierungsabkommen mit der EU

Nach der eingehenden Diskussion über die Vorschläge für das neue Erziehungswesen in Mazedonien berichtete der stellvertretende Ministerpräsident, der Beauftragte für die Gespräche und Verhandlungen mit der Europäischen Union, Turpowski, über den Stand der Verhandlungen des Assoziierungs- und Stabilisierungsabkommen. Ich war der Berichterstatter im Europäischen Parlament zu dieser Frage und habe meinen, in Mazedonien sehr anerkannten und geschätzten, Bericht zu dieser Frage abgegeben. Und ich habe auch jene Klausel hineingebracht, die nach der Beschlussfassung im Parlament von der Kommission akzeptiert wurde und zuletzt auch bei den Beschlüssen in Feira seitens des Rates.
Ich bin der Auffassung, dass es auch den Ländern am Balkan frei steht, den sicherlich langen und mühsamen Weg zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu gehen, dass also auch sie das Recht haben, der Union nach entsprechender Erfüllung und Erledigung der Aufgaben und entsprechender wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung beizutreten. Natürlich gibt es auch diesbezüglich Gespräche und Diskussionen zwischen EU und Mazedonien, wie eine so genannte Evolutionsklausel im Detail definiert sein soll. Denn es ist ja, wenn es zu einem vereinten Mazedonien kommt, davon auszugehen, dass diese Formulierung auch für alle anderen Länder – Kroatien, Albanien etc. – gelten wird. Und damit hat diese Formulierung zugleich Modellcharakter.

Evolutionsklausel

Ich habe in der Debatte klar und deutlich festgehalten, dass ich eine solche Evolutionsklausel für die Länder Süd-Ost-Europas unterstütze, weil ich das ja selbst als einer der Ersten in die konkrete Debatte eingebracht habe. Aber man muss diese Klausel natürlich so formulieren, dass daraus nicht die Illusion abgeleitet werden könnte, die Frage des Beitrittes sei eine Frage von heute, morgen oder übermorgen. Das Beitrittsprozedere ist natürlich sehr, sehr langfristig zu sehen ist und aus einer solchen Klausel entsteht keinerlei Automatismus.
In der Mittagspause fuhren wir über den spiegelglatten Ohridsee zu einem nahe gelegenen kleinen Dorf, wo wir unser Essen einnahmen. Ein Essen, das sich allerdings, wie immer bei solchen Gelegenheiten, als Arbeitsessen entpuppte. Denn natürlich war es interessant, mit unseren Kolleginnen und Kollegen aus dem mazedonischen Parlament, aus sehr verschiedenen Parteien kommend – aus dem mazedonischen Mehrheitsparteien und aus den verschiedenen albanischen Minderheitsparteien -, die Situation im Lande näher zu beleuchten.

Auftrieb für den Tourismus

Ich saß zwischen dem Vorsitzenden der mazedonischen Delegation und einem Vertreter einer kleineren Partei, der selbst aus Ohrid stammt. Deshalb wusste der Mann natürlich, dass es bald zu Investitionen in die touristischen Einrichtungen kommt, dass die bestehenden Hotelanlagen privatisiert werden, neue Investitionen erfahren und neues belebendes Management bekommen, dem Tourismus in dieser Region wieder Auftrieb zu geben.
Der Ohridsee ist ein sehr großer, tiefer See, der fast wie ein Meer wirkt. Wenngleich er von Bergen umgeben ist – einerseits jene, die zu Mazedonien gehören, und andererseits jene, die zu Albanien gehören. Es ist sogesehen ein See, der diese beiden Länder trennt, aber gleichzeitig auch verbindet. Früher hat er sie nur getrennt, heute tut er das vielleicht etwas weniger, stellt aber immer noch einen trennenden Faktor zwischen diesen beiden Ländern dar.
Am Nachmittag ging unsere Debatte weiter, und es ging noch einmal um die Beziehungen zwischen Mazedonien und der Europäischen Union. Im Mittelpunkt standen dabei die Frage des Stabilitätspaktes in dieser Region, die Frage, wie die zukünftige finanzielle Unterstützung dieser Region gestaltet sein soll, und auch die Überzeugung, dass die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Bekämpfung der illegalen Wanderungen, aber vor allem der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität, immer wichtiger wird.

Gemeinsam gegen die Kriminalität

Ob es sich um den Drogenhandel, um den Handel mit Frauen und auch Kindern handelt, in allen Fällen zeigen verschiedene Ereignisse in der Vergangenheit, so etwa der schreckliche Fund von unzähligen Toten in einem Nachtwagen, der auf dem Seeweg von Belgien nach Great Britain nach Dover gelangt war, wie wichtig gerade auf diesem Gebiet die Zusammenarbeit ist. Auch wenn diese Region aus dem Ruf, eine Region nicht nur der äußeren, sonder auch der inneren Unsicherheit zu sein und dass gerade in dieser Region viel dieser grenzüberschreitenden Kriminalität ihren Ursprung hat herauskommen will, dann muss man etwas Gemeinsames dagegen unternehmen.
Am Abend ging es dann über den inzwischen sehr, sehr veränderten See in die kleine Stadt Ohrid. Ein starker Wind ist von den albanischen Bergen heruntergekommen und hat den See aufgewühlt. Einige von uns haben es dann in letzter Sekunde vorgezogen, mit dem Auto nach Ohrid zu fahren. Mir war zwar etwas mulmig bei der Sache, aber dennoch wollte ich die Fahrt über den See genießen, was aber großteils nur innerhalb der Kapitänskajüte möglich war, weil das Wasser uns sonst total durchnässt hätte.

Ein Balkan-Schicksal

Erst die letzte halbe Stunde ging ich wieder auf Deck hinaus und unterhielt mich mit einem jungen Matrosen, der auf diesem kleinen Schiff Dienst tat. Er erzählte mir, dass seine Eltern in Deutschland leben, er ist auch dort geboren, kam aber mit 14 Jahren nach Mazedonien zurück, um hier in die Schule zu gehen und war eigentlich nur in den Ferien bei seinen Eltern. Aber jetzt hat er keinen anderen Job gefunden, als eben hier auf diesem Schiff Dienst zu tun, zwischen April und Oktober, also in der Sommersaison, und im Winter darauf zu warten, dass im Mai das Geschäft wieder angeht. Vielleicht wird er in einigen Jahren wieder nach Deutschland zurückkehren, wahrscheinlich dann, wenn seine Eltern in Pension gehen und nach Mazedonien zurückkehren.
Das ist zwar ein Schicksal, dass sicherlich viele, die heute in der Balkanregion leben, mitmachen. Und es ist nicht das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Aber es ist doch eine sehr ungewisse Situation, viel ungewisser und problembeladender, als die Meisten von uns ihre Situation zu beschreiben hätten. Der Matrose erzählte auch mit Stolz, dass der Ohridsee zu zwei Drittel zu Mazedonien und nur zu einem Drittel zu Albanien gehörte. Und er meinte, dass leider Gottes, da die Albaner so arm seien, sie oftmals versucht seien, Boote zu stehlen und dass die Mazedonier heutzutage ihre Schiffe immer fest anbinden müssen, um das zu verhindern.
Die Aussagen dieses jungen Matrosen waren nicht wirklich rassistisch, aber sie waren doch gekennzeichnet von einer Distanz und Ablehnung der Nachbarn, jedenfalls davon, dass klare Grenzen zu ziehen sind, um sich von den ärmeren Nachbarn zu schützen. So geht das durch unseren ganzen Kontinent, dass wir uns alle immer vor den ärmeren Nachbarn schützen müssen. Und wir jedenfalls noch weit davon entfernt sind, ein gemeinsames Europa aufbauen zu können.  
Ohrid, 10. Juli 2000