Am Vorabend der Entscheidungen

In den letzten Monaten und Wochen wurden an den Gipfel von Nizza grosse Erwartungen gestellt, da er einen wesentlichen Schritt in Richtung stärkerer Funktionsfähigkeit der EU leisten könnte. 
Am gestrigen Tag führten wir eine intensive sicherheitspolitische Debatte im Europäischen Parlament, insbesondere im Zusammenhang mit dem Bericht von Catherine Lalumiere, einem sehr guten und ausgewogenen Bericht, der die europäischen Außen- und Sicherheitspolitik in einen vernünftigen, zukunftsweisenden Rahmen setzt.

Parlamentarische Dimension der Sicherheitspolitik

Das Problem dabei ist sicherlich die parlamentarische Dimension und es ist eigentlich sehr bedenklich, dass die Regierungen, insbesondere auch die französische Präsidentschaft, eine parlamentarische Dimension der Europäischen Union hinsichtlich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik nicht anerkennen will. Schon während meiner Rede hat der europäische Verteidigungsminister, der anwesend war, abgewunken. Er hat mir das auch schon bei einer Diskussion in Paris signalisiert. Aber ich glaube, zur Demokratie gehört, gerade auch diese sicherheitspolitische Dimension parlamentarisch zu beraten und letztendlich zu kontrollieren. Wir sollten in dieser Frage nicht nachgeben, bevor wir nicht zu einer vernünftigen parlamentarischen Ebene, z.B. auf Basis einer Zusammenarbeit von EU-Parlamentariern mit den Parlamentariern der einzelnen Länder, kommen.

Gross oder Klein?

Am selben Abend gab es noch zwei weitere Ereignisse, die für mich wichtig waren. Einerseits war das die Vorstellung meines Buches „Europa-Tagebuch 1999/2000. An den Grenzen Europas“ im Wien Haus in Brüssel, das im Rahmen einer Podiumsdiskussion mit Maria Berger und Jo Leinen, einem deutschen Kollegen, präsentiert wurde. Wir wollten dabei herausfinden, ob die Fragestellung „Groß oder Klein“ eine relevante Fragestellung für den Gipfel von Nizza bzw. für die Weiterentwicklung der Europäischen Union ist. So sehr wir, nämlich Maria Berger und ich einerseits und Jo Leinen auf der anderen Seite unterschiedliche Meinung hinsichtlich der Sitzverteilung im Europäischen Parlament vertreten, so sehr sind wir natürlich eher für eine nicht ausschließlich proportionale Sitzverteilung, sondern wollen den kleinen und mittleren Ländern nach wie vor ein größeres, relatives Gewicht geben.
Dementsprechend sind wir auch einer Meinung, dass eine starke, gemeinschaftliche, übernationale Struktur der Europäischen Union, wo es nach inhaltlichen Kriterien und nach Verdienst geht – Verdienst im Sinne von Leistung und Problemorientierung – und nicht so sehr darum, welche Länder welche Zielsetzungen verfolgen, den Kleinen sicher gut tut und die Machtgelüste der größeren Länder hinhalten kann.

Zwitterstellung

De facto ist aber die Europäische Union eine Union, die aus einer eigenartigen Mischung zwischen supranationalen, gemeinschaftlichen Elementen und einer Union von selbstständige, autonomen Staaten besteht. Aus dieser Zwitterstellung, aus diesem eigenwilligen Charakter heraus ergeben sich natürlich auch die Probleme, dass die EU weder ein Staatenverbund ist, in dem jeder Staat eine Stimme hat, ob groß oder klein, noch eine feste Union, in der alle staatlichen Determinanten ausgeschaltet sind und es einfach nach dem demokratischen Prinzip „one man, one vote“, also jede Stimme eines Bürgers einer Bürgerin zählt genau so viel wie jede andere, geht.
Was macht die Konstruktion und auch die Form der Europäischen Union vor Nizza so schwierig? Allein der Streitpunkt zwischen Frankreich und Deutschland hinsichtlich der Gewichtung und das Beharren Frankreichs auf der gleichen Stimmgewichtung im Europäischen Rat wie Deutschland macht die Dinge nicht einfach. Schon aus diesem Grund hat Romano Prodi, der Präsident der EU-Kommission, nett und höflich, aber ungewöhnlich deutlich Frankreich aufgefordert, sich im Zuge der Beratungen vor und bei Nizza zu bewegen, um in dieser Frage einen Kompromiss zu erzielen.

Problemkind Frankreich

Frankreich hat ja nach all jenen, die informiert sind, schon in Biarritz den Druck eher auf die kleinen ausgeübt und gemeint, diese müssten nachgeben, um zu einer Entscheidungsfähigkeit der Europäischen Union zu kommen und um sie auch wirklich erweiterungsfähig zu machen. Aber das Problem liegt nicht so sehr bei den kleineren oder anderen Ländern, sondern eher bei Frankreich selbst, das wie gesagt, darauf beharrt, das gleiche Stimmengewicht zu bekommen, obwohl es doch deutlich kleiner ist als Deutschland. Und über die Frage des Erfolges oder des Misserfolges von Nizza ging es auch bei einem Abendessen mit Romano Prodi, das wir seitens der Delegationsleiter der Sozialdemokraten hatten.

Die Dinge beim Namen nennen

Nach der Buchpräsentation und der Diskussion im Wienhaus bin ich ins Parlament geeilt, um dort meine Rede zur Außen- und Sicherheitspolitik zu halten und danach sofort wieder, etwas unhöflich gegenüber dem Verteidigungsminister Frankreichs, dessen Antwort ich mir nicht anhören konnte, ins Swisshotel zum Essen mit Prodi zu eilen. Ich habe auch in der Diskussion mit Prodi klar zum Ausdruck gebracht, dass, wenn wir bzw. die Regierungschefs in Nizza nicht zu einer Einigung kommen, wenn also Nizza scheitert, das eine Krise der Europäischen Union bedeutet. Man sollte die Dinge beim Namen nennen.
In den letzten Monaten und Wochen wurden an Nizza grosse Erwartungen gestellt und man hat dieser Konferenz entscheidende Bedeutung beigemessen, da sie einen wesentlichen Schritt in Richtung stärkerer Funktionsfähigkeit der Europäischen Union leisten könnte. Und als eine wesentliche Voraussetzung für die Erweiterung ist klar: Das Scheitern von Nizza wäre eine Krise. Sie wird sich aus meiner Sicht auf den EURO auswirken, und das Vertrauen in die neue Währung wird noch weiter sinken bzw. wieder sinken, da es momentan etwas besser ist.

Die Folgen eines Scheiterns

Ein Scheitern von Nizza wäre auch eine Krise für die Erweiterung, vor allem hinsichtlich jenen Erweiterungskandidaten, die ohnedies meinen, das Niveau bei den Vorbereitungen und der Umstrukturierung sei zu hoch und man sollte in diesem Punkt den Mitgliedsländern der Europäischen Union und der Europäischen Kommission nicht all zu sehr nach geben, man sollte diese Reformen etwas vorsichtiger durchführen. Es gibt ja auch viele die meinen, die Europäische Union wolle die Erweiterung ohnedies nicht. Warum sollten sie sich deshalb nach einer Gemeinschaft orientieren, die gar nicht so darauf aus ist, die Mitglieder des ehemaligen Ostblocks, also die Erweiterungskandidaten, aufzunehmen.

Drittens wäre ein Effekt eines Scheiterns in Nizza sicherlich der, dass jene Bevölkerungsschicht, die für uns kritisch sind – sei es Dänemark nach dem Scheitern der Eurovolksbefragung, seien es vor allem ältere Bevölkerungsschichten, die in Österreich das Volksbegehren in Richtung Austritt aus der Europäischen Union unterschreiben – Aufwind gegeben würde. Es wäre deshalb wichtig, für alle Bevölkerungsschichten, und vor allem für die kritischen, klare und deutliche Schritte zu unternehmen, die Europäische Union zu reformieren und entscheidungsfähiger zu machen. Sollte das nicht gelingen, wäre auch klar zu sagen, dass man vor einer Krisensituation steht und dass es besonderer Anstrengung bedarf, um diese Krise zu überwinden.
Eine Nichtentscheidung von Nizza als Krise darf nicht verschleppt, nicht klein gemacht, nicht ins Nebensächliche abgeschoben werden, sondern muss zu einem starken Signal führen, das trotz dieses Scheiterns die Europäische Union an diesem Bestreben festhalten und in einen starken Dialog mit der Bevölkerung eintreten möchte. Aus Nizza muss in der einen oder anderen Form ein klares Signal hervorgehen, wie: „Die Union soll nicht scheitern, sie darf nicht scheitern.“ Und es muss mit Kraft daran gearbeitet werden, dass es hier vorwärts geht. Entweder, weil die Entscheidung getroffen worden ist oder weil man eine Krisensituation ernst nimmt und neue Überlegungen anstellt.

Das Modell Konvent

Eine Überlegung für einen Ausweg aus einer möglichen Krise, die für mich eigentlich ziemlich auf der Hand liegt, wäre das Modell des Konvents, das wir im Falle des Erarbeitens der Grundrechtscharta angewendet haben, wieder zur Anwendung bringen. Das heißt: die Parlamentarier aus dem Europäischen Parlament und aus einzelnen nationalen Parlamenten sollten einen Ausschuss bilden, der sich mit der Frage der Reformenentwicklung der Europäischen Union beschäftigt. Und sie sollten beweisen, dass sie vielleicht schneller zu einer Lösung kommen, als das die Regierungschefs und die Außenminister können. Viele meinten ja nicht zu unrecht, dass wir heute noch an den ersten Artikeln der Grundrechtscharta arbeiten würden, hätten wir diese Arbeit den Regierungsvertretern überlassen. Nun ist sicherlich die Frage der Weiterentwicklung und die Reform der Europäischen Union, insbesondere der Institutionen, eine Fragestellung, die ungleich schwieriger ist. Dennoch meine ich, dass der Konvent so gut gearbeitet hat, dass eine Anwendung auch auf die Institutionenreform der Europäischen Union Sinn machen würde. 
Brüssel, 30.11.2000