Anmerkungen zur „Leitkultur“

In Deutschland wird seitens der CDU und auch der CSU durch die Diskussion über die Leitkultur für Zuwanderer eine Rechtswendung vollzogen. 

In den vergangenen Tagen hat sich in Deutschland eine heftige Diskussion um den Begriff „Leitkultur“ entwickelt. Der Fraktionsvorsitzende der CDU hatte diesen Begriff in die Debatte gebracht um klarzulegen, dass Zuwanderung nur dann möglich und akzeptabel ist, wenn die Zugewanderten die deutsche Leitkultur anerkennen.
Aber was ist, wenn sich diese deutsche Leitkultur von der europäischen bzw. vielleicht sogar der westlichen Leitkultur unterscheidet? Wie geht man mit jenen Deutschen um, die diese von der CDU/CSU definierte deutsche Leitkultur selbst nicht anerkennen? Und wie ist die Anerkennung der deutschen Leitkultur durch die Zuwanderer möglich, überprüfbar bzw. bindend? All das sind Fragen, die weder mit dem Begriff als solches noch von denen, die auf diesem Begriff beharren, beantwortet werden können.
Vertreter der Linken meinten in Diskussionsbeiträgen, der Forderung nach Anerkennung einer Leitkultur sei die Forderung nach Anerkennung der Verfassungsgrundsätze und damit das Verlangen eines Verfassungspatriotismus entgegenzustellen. Andere wieder äusserten, dass die Kenntnis der deutschen Sprache und der deutschen Geschichte notwendig seien. Politiker, Künstler, Dichter – viele haben sich an dieser Debatte beteiligt, zum Teil oberflächlich und zum Teil mit sehr tief gehenden Analysen und Beobachtungen.

Nicht deutsche, sondern europäische Werte

Was mich jedenfalls bedenklich stimmt, ist die Tatsache, dass heute prominente Politiker und eine grosse Partei in Fragen der Integration ausdrücklich eine deutsche Leitkultur in den Vorgrund stellen und nicht europäische Werte. Die europäische Grundrechtscharta behandelt ja Grundsätze, wie sie der Staat zu respektieren, zu akzeptieren und zu fördern hat. Und in diesem Sinn sind es sicherlich auch Grundsätze, die in unserer Gesellschaft gestaltet wurden und gestaltet werden sollen und die auch von allen anzuerkennen sind.
Was mich außerdem bedenklich ist stimmt ist, dass Forderungen gegenüber den Zuwanderern gestellt werden, die selbst bei den eigenen Staatsbürgern kaum nachvollziehbar sind. Die Kenntnis der Geschichte und des Bewusstseins der eigenen staatlichen oder europäischen Organe, der Persönlichkeiten, die diese Organe jeweils besetzen, ist nicht so leicht und generell voraussetzbar. Erst gestern habe ich zufällig in einem italienischen Fernsehsender gesehen, wie einer Italienerin bei einer Quizsendung die Frage nach dem Namen ihres Staatspräsidenten gestellt wurde. Auch der Hinweis, dass dieser früher Minister und Nationalbankpräsident gewesen ist, hat der Kandidatin nicht weitergeholfen: der Name Ciampi kam ihr nicht über die Lippen.

Zweierlei Mass

Will man anderseits auch all diejenigen, die durch Nicht-Wissen, durch Nicht-Respekt vor grundsätzlichen Werten auffällig werden, aus dem jeweiligen nationalen Staatsverband ausschliessen? Müssen nicht kulturelle und gesellschaftliche Werte mit Unterstützung der politischen Kräfte so viel Überzeugungskraft haben und Integrationskraft zum Ausdruck bringen, dass eine Debatte über die Anerkennung der Leitkultur oder des Verfassungspatriotismus nicht notwendig ist? Kann man von den Zuwanderern das verlangen, was man bei den eigenen Staatsbürger noch nicht durchsetzen kann – sei es bei jenen, die diese Zuwanderer tätlich angreifen, beleidigen und kränken, verletzen oder gar töten, oder sei es bei jenen Wählern rechtspopulistischer Parteien, die durch ihre Stimme nicht nur eine Unzufriedenheit mit bisherigen Regierungen, sondern eine bewusste Abkehr von den Werten der Humanität und der Toleranz zum Ausdruck bringen wollen?
Aus meiner Sicht handelt es sich um eine Rechtswendung, die in Deutschland seitens der CDU und auch der CSU vollzogen wird. Ich weiss, es ist sicherlich populärer, allen Zuwanderern strenge Kriterien aufzuerlegen, als die selben Kriterien im Inland zur Anwendung zu bringen. Aber ich glaube doch, dass man zu einer generellen Haltung für alle Bewohner kommen sollte. Die Grundrechtscharta und die europäischen Werte, die in ihr ausgedrückt werden, sollten als Leitlinie von politischen Parteien und gesellschaftspolitischen Organisationen anerkannt und respektiert werden. Und sie sollten für die Orientierung aller auf europäischem Boden gelten, seien sie schon lange europäische BürgerInnen einzelner Staaten oder Zuwanderer nach Europa.

Die eigentlichen Werte sind nicht sepzifisch deutsch

Toleranz gegenüber Andersdenkenden, Respekt vor Leib und Leben, Achtung vor kulturellen Äusserungen – all das sind nicht spezifisch deutsche Werte. Es sind Werte, die wir uns – genau so wie die Trennung von Religion und Staat – mühsam über Jahrhunderte erarbeitet haben und weder aufgeben wollen noch dürfen. Verletzungen dieser Werte sind je nach der Schwere anzuklagen und zu verfolgen. Eine konsequente Politik in dieser Richtung muss Jedem, ob Staatsbürger oder nicht, deutlich vor Augen führen, welche Werte der Staat im Namen der Gesellschaft vertritt und welche Werte zu respektieren sind. 
Wien, 1.11.2000