Armenische Premiere

Die große armenische Diaspora in Armenienkämpft erbittert für die Anerkennung des Genozids, der an den Armeniern durch die Türkei verübt worden ist.
Als Mitglied der Delegation des Europäischen Parlaments mit dem Südkaukasus, war ich eingeladen worden, an einer Delegationsreise nach Armenien, konkret nach Eriwan, teilzunehmen.

Genozid
Für mich war es der zweite Besuch im Südkaukasus. Ich bin bereits in Aserbeidschan gewesen, aber noch nie in Armenien. Mit dem Land selbst hatte ich schon einiges zu tun, da die Diaspora in Armenien immer wieder für die Anerkennung des Genozids, der an den Armeniern durch die Türkei verübt worden ist, kämpft.
Früher hatte ich zu diesem Thema eine große Distanz. Für mich galt dies stets als Versuch, die Türkei vom Verhandlungstisch mit der Europäischen Union über eine mögliche Mitgliedschaft entfernt zu halten. Außerdem war und bin ich noch immer der Meinung, dass man die tragischen Ereignisse der Vergangenheit nicht permanent vor sich hertragen sollte, wenn es darum geht, eine neue und gemeinsame friedliche Welt zu schaffen.

Türkei muss ihre Geschichte aufarbeiten

Ich anerkenne allerdings historische Tatsachen und habe immer wieder betont, dass die Türkei selbst entsprechende Schritte setzen muss, um ihre Geschichte aufzuarbeiten bzw. ein Verhältnis zur eigenen Geschichte zu entwickeln. Im Zuge dessen müssen auch tragische Ereignisse und schwere Fehler anerkannt werden.
Das ist gar nicht so leicht. In einem nationalistischen Land ist ein derartiger Prozess psychologisch schwierig. Die Türkei hat außerdem nicht ganz zu Unrecht Angst, dass daraus auch finanzielle Kompensationsforderungen entstehen können, bis hin zur Frage der Nichtanerkennung der Grenze. Einige wollen Teile der heutigen Türkei vielmehr in Armenien sehen als in der Türkei. Sie suchen zumindest Argumente, um der Türkei entsprechende Forderungen aufs Aug zu drücken.

Ein verlorener Tag

Um es vorwegzunehmen: Meine Fragen sowohl an den Ministerpräsidenten als auch an den jungen, äußerst agilen und kompetenten Parlamentspräsidenten konzentrierten sich genau in diese Richtung. Ich wollte verdeutlichen, dass es Parteien und PolitikerInnen gibt, die die Frage der Kompensation sehr wohl in Zusammenhang mit der Anerkennung des Genozids sehen, was allerdings eine Lösung umso schwerer macht.
Aber zurück zum Beginn meines Besuches in Armenien. Die AUA hatte ihren Flug nach Yerevan gekancelt, und so musste ich mein Ticket umtauschen und über Paris in die armenische Hauptstadt fliegen, was einen immensen Umweg bedeutete und mich einen vollen Tag kostete. Aber es blieb mir nichts anderes übrig, als es in Kauf zu nehmen.

Unzufriedene NGOs

Am ersten Tag unseres Aufenthaltes trafen wir VertreterInnen der NGOs. Sie sind mit der Entwicklung im Land unzufrieden und sehen weder die Frage der Menschenrechte noch der Demokratie positiv gelöst. Aus ihrer Sicht ist der Einfluss des Präsidenten, der mit starker Hand regiert und keine Rücksicht auf die Opposition, die Grund- und Freiheitsrechte und die Medienfreiheit nimmt, nach wie vor zu groß.
Manche meinten zudem, dass auch die im kommenden Jahr stattfindenden Wahlen keinesfalls zufrieden stellend ausfallen werden, vielleicht sogar schlechter verlaufen werden als die Wahlen der Vergangenheit. Hier war insbesondere die Präsentation der Opposition in den Medien extrem schwach ausgefallen.

Fragwürdige Medienfreiheit

Wir haben über die Frage auch mit MedienvertretrInnen gesprochen, und sie beurteilten diese Einschätzung sehr unterschiedlich. Ein Journalist von A1+ berichtete, dass er – mit technischen und anderen Argumenten – nach wie vor behindert wird, sein Unternehmen aufrecht zu halten und Sendungen auszustrahlen. Andere hingegen behaupteten, dass sie selbstverständlich Interviews mit Oppositionspolitikern veröffentlichen.
Ein Vertreter eines behinderten Mediums merkte an, dass Interviews mit Oppositionspolitikern immer dann zu lesen oder zu sehen wären, wenn eine Delegation aus dem Ausland bzw. aus der Europäischen Union in Armenien sei. Sonst sei dies äußerst selten der Fall. Die Situation ist jedenfalls zweifellos unbefriedigend. Und der nach wie vor starke Einfluss des Präsidenten auf die Medien, die Justiz, etc. ist uns ein Dorn im Auge. Das haben wir in unseren Gesprächen in Eriwan auch kommuniziert.

Russische Akzente

Wir trafen auch Vladimir Priakhin, den Chef der OSCE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit. Er ist russischer Diplomat, sein Stellvertreter Amerikaner. Dieser kam allerdings in unserem Gespräch kaum zu Wort und übernahm eher organisatorische Aufgaben. Es war interessant zu sehen, dass der Russe der Tonangebende war und der Amerikaner der Unterstützende und Beobachtende.
Am Abend hatte ich Gelegenheit, mit dem russischen OSCE-Chef persönlich zu sprechen. Er bringt ein hohes Maß an Erfahrung aus der ehemaligen Sowjetunion und aus der Diplomatie mit. Da Armenien exzellente Verbindungen zu Russland hat, hat er ein besonderes Gespür und hegt Sympathie das Land, wenngleich er nicht unkritisch ist. Immerhin muss er seitens der OSCE die Prinzipien der Transparenz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vertreten. Er tut dies allerdings mit einer starken „russischen“ Note.

Große Diaspora

Priakhin erwähnte, dass sich die größte Diaspora in Russland befindet und die reichste in Amerika. In Armenien leben ca. drei Millionen EinwohnerInnen, die armenische Diaspora umfasst hingegen sechs bis neun Millionen Menschen. Es leben also wesentlich mehr ArmenierInnen im Ausland als in Armenien selbst. Das verleiht dem Land – über seine Größe hinaus – eine höhere politische Bedeutung und bringt große finanzielle Vorteile. Diese benötigt Armenien auch dringend, da es keine eigenen Ressourcen hat, etwa im Energiesektor.
Im Rahmen der Sowjetunion war Armenien technische und technologische Entwicklung zugeteilt worden. In diesem Bereich gibt es auch entsprechend qualifizierte Fachkräfte. Die eigene Industrie ist allerdings nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ebenfalls zusammengebrochen. Und so konnte Armenien nicht an seine technischen Fähigkeiten anknüpfen. Aus diesem Grund ist es heute weitgehend auf die Überweisung von finanziellen Mitteln aus der Diaspora angewiesen.

Gleichgewichtsposition

Die Diaspora führt außerdem dazu, dass das Land sehr unterschiedlich und vielfältig verankert ist. Einerseits gibt es enge Bande zu Russland, es gibt in Armenien nach wie vor russische Truppen. Es besteht eine starke Achse nach Amerika, nicht nur über die Diaspora. Der gegenwärtige Außenminister spricht ein dermaßen perfektes, ja akzentfreies Amerikanisch, dass er eigentlich auch ein amerikanischer Politiker sein könnte.
Armenien nimmt außerdem an Übungen der NATO teil. Und es pflegt sehr gute Beziehungen zum Iran. Das kleine Land versteht es also äußerst geschickt, sich in einer Gleichgewichtsposition zu halten, bis auf zwei Ausnahmen: die Türkei und Aserbeidschan.
Eriwan, 18.4.2006