Auf dem Weg zum European Leadership?

Wir brauchen ein europäisches Europa, das sich zu seinen Eigen- und Besonderheiten bekennt und in einen Wettbewerb mit anderen Kontinenten und globalen Mächten tritt. 
Heute Abend fand eine aus meiner Sicht sehr spannende Veranstaltung statt, zu der ich im Rahmen eines von mir initiierten Ideenwettbewerbes zur Zukunft Europas eingeladen hatte. Georg Hoffmann-Ostenhof leitete die Diskussion im Sigmund-Freud-Museum, an der Emmy Werner, Eva Novotny, Helmut Kramar, Caspar Einem und ich selbst teilnahmen.
Natürlich ging es um Europa. Um die Schritte Europas nach vorne und die Schritte zurück. Und um die Entwicklung dieses Europas. Die Diskussion war dankenswerterweise kontroversiell. Sie war, nicht zuletzt durch Emmy Werner, sehr lebendig. Und sie hat den zahlreichen Besucher auch wichtige Informationen geliefert. Das Publikum, so schien es mir, war sehr zufrieden.

Für ein europäisches Europa

Aus meiner Sicht habe ich versucht, jenes Europa darzustellen, von dem ich glaube, dass wir noch hart daran arbeiten müssen: ein demokratisches, ein politisches, ein soziales Europa. Und vor allem auch ein europäisches Europa, das sich ganz klar zu seinen Eigenheiten und Besonderheiten bekennt, um sie nicht anderen Regionen der Welt aufzudrängen, sondern in einen Wettbewerb mit anderen Kontinenten und globalen Mächten zu stellen.

Mehr Demokratie

Was das demokratische Europa betrifft, so habe ich schon in verschiedenen Thesen das Anforderungsprofil klar definiert. Wir brauchen die direkte Wahl der Vertreter im Europäischen Parlament. Wir brauchen, so glaube ich, zusätzlich eine Direktwahl des Kommissionspräsidenten. Wir brauchen ausgewählte Referenden, die von Zeit zu Zeit europäische Meinungen zu grundlegenden Fragen direkt erfragen können. Und wir brauchen einen Rat, der viel offener und transparenter agiert als es der jetzige tut.

Mehr Politik

Mit diesem Mehr an Demokratie ist natürlich die Frage des politischen Europas eng verbunden. Europa darf nicht länger als ein Mechanismus verstanden werden, bei dem die Bürokratie europaweite Regeln, unabhängig von Besonderheiten lokaler Natur und dem politischen Willen, durchzusetzen versucht.
Kürzlich erst hat mir ein befreundeter und gut bekannter Kommissionsbeamte anlässlich der laufenden Debatte über den öffentlichen Nahverkehr etwas berichtet, das mich sehr erschreckt hat: Die Europäische Union müsse demnach den Nahverkehr deshalb stärker regulieren, weil sich andernfalls die Unternehmer beschweren könnten, dass sie in ihrer Niederlassungsfreiheit beschränkt sind, wenn sie sich nicht überall um die Durchführung des Nahverkehrs bewerben könnten.
In dieser Frage muss man sicher juristische Argumente ernst nehmen, und ich habe durchaus Verständnis für die Rechtsdurchsetzung. Aber von den Konsumenten, den Wähler und der demokratischen Entscheidung war und ist bei den Kommissionsbeamten und im entsprechenden Kommissionsvorschlag nicht die Rede. Ich hoffe, wir können hier noch einiges zurecht biegen.

Marktwirtschaft ja, Marktgesellschaft nein

Die Frage eines politischen Europas beinhaltet noch einen weiteren Aspekt. Wir wollen eine Marktwirtschaft, aber keine Marktgesellschaft. Der Markt hat durchaus seine Berechtigung, um wirtschaftliche Beziehungen untereinander zu regeln. Dazu hat er sich, zwar nicht immer optimal, aber doch als weitaus besser erwiesen als die Planwirtschaft. Aber es darf keinesfalls so sein, dass der Markt sich überall durchsetzt und die Gesellschaft und möglicherweise die Politik generell verdrängt.
In diesem Punkt muss es eine politische Priorität geben, und gerade Europa muss das klar vermitteln und darf nicht als eine Konstruktion aus Markt und Bürokratie erscheinen, sondern muss dem Bürger entgegenkommen.

Gegenmodell zu Amerika

Wenn wir ein solches Europa skizzieren, dann bekommen wir das Bild eines Europas, das demokratischer gestaltet ist als heute, das sich auch zu politischen Entscheidungen bekennt und das versucht, die sozialen Nöte und Bedürfnisse, insbesondere die Frage der Arbeitslosigkeit, aber auch der Einkommensverhältnisse etc., in seinen politischen Entscheidungen zu berücksichtigen und diesen Fragen einen hohen Stellenwert zu geben.
Das soll zugleich sicherstellen, dass dieses Europa ein anderes Profil hat als die Vereinigten Staaten von Amerika. Wir sind keine Marktgesellschaft. Wir anerkennen die soziale Frage als sehr, sehr wichtig. Und wir sind darüber hinaus durch eine Vielfalt der Kulturen und Religionen gekennzeichnet, auch wenn wir sicher noch um die optimale Form von Toleranz und Anerkennung dieser Verschiedenartigkeit einerseits und doch eine gewisse Einheitlichkeit, um auch nach außen hin agieren zu können, ringen.

Europa als „global player“

Ich habe für mich persönlich den Ausspruch, dass Europa ein globaler Faktor werden soll, übernommen. Das mag etwas überzeichnet klingen, aber wir wollen unmissverständlich eine globale Rolle spielen und in einen Wettbewerb mit den anderen großen Regionen treten. Und wir wollen unsere eigenen vielfältigen Probleme – von der ethnischen Vielfalt bis zu den wirtschaftlichen und sozialen Fragen – auf bestmögliche Weise lösen.
Die Amerikaner sind viel weniger zögerlich, wenn es gilt, ihre Lebensart, ihre Form der Wirtschaft und ihre Bewältigung politischer Probleme als „Heilslehre“ anzubieten. Sie definieren sich nicht einfach dadurch, ihre Art und Weise der wirtschaftlichen Probleme im Dialog und Wettbewerb zu präsentieren, sondern es geht ihnen immer darum, das „American Leadership“ durchzusetzen.
Natürlich bringt es nichts, dem „American Leadership“ , blindlings und ohne Differenzierung, ein „European Leadership“ gegenüberzustellen. Aber wir sollten doch in einigen eigenen Bereichen entsprechende Führungskraft und Fähigkeit demonstrieren und vor allem das Modell Europa entwickeln und dort, wo wir es für wichtig halten, auch selbstständig und selbstbewußt auftreten.

Streitpunkt Sicherheitspolitik

Wie schon am Tag zuvor bei einer Diskussion der SPÖ-Sektion in Brüssel, an der ich gemeinsam mit meinem Kollegen Jan Marinus Wiersma teilnahm, floss auch im Sigmund-Freud-Museum das Thema Sicherheit und Sicherheitspolitik in die Debatte ein. Ich vertrat dabei – gemeinsam mit dem Diskussionsleiter Hoffmann-Ostenhof – eine Minderheitsposition.
Hoffmann-Ostenhof meinte, dass Sicherheitspolitik generell und europäische Sicherheitspolitik im Besonderen eine sehr große Aufgabe sei und auch von Europa mitgetragen werden müsse. Wir könnten, so Hoffmann-Ostenhof, nicht verhindern, dass in unserem Nahbereich Konflikte entstehen. Aber wir könnten uns auch nicht aus diesen Konflikten heraushalten, indem zwar gute Ratschläge zur Lösung geben, aber nicht selbst mithelfen.
Einigkeit herrschte darüber, dass die Krisenvorbeugung und -prävention Vorrang haben muss und dass in dieser Frage viel zu wenig geschehen ist. Man muss aber auch verdeutlichen, dass man, wenn man vorbeugen und Krisen verhüten möchte, auch eine bestimmte, wenngleich begrenzte militärische Kapazität aufweisen sollte, die ernst genommen wird. Diese sollte nicht vorschnell eingesetzt werden, aber sie ist jedenfalls notwendig, um der vorbeugenden Krisenbewältigung ein entsprechendes Gewicht zu verleihen. 
Wien, 26.4.2001