Auf den Spuren Atatürks

Atatürk hat den Weg, den die Türkei gehen sollte, vorgezeigt. Diesen Weg aber heute mit den notwendigen Änderungen und Anpassungen zu gehen, fällt der Türkei sehr schwer.
Ich befinde mich wieder einmal in Istanbul. Heute vor genau 83 Jahren trat zum ersten Mal das türkische Parlament – die große Nationalversammlung – unter dem Vorsitz von Kemal Mustafa Atatürk zusammen und begründete so die neue Türkei als Nachfolger des Osamanischen Reiches.

Türkischer Nationalfeiertag

Aus diesem Anlass ist das Bildnis des Staatsgründers Atatürk heute noch viel öfters auf den Straßen und an den Häuserfronten zu sehen als sonst – ebenso wie die türkische Flagge aus kräftigem Rot mit Halbmond und Stern. Unermüdlich wird Attatürk in den Reden bei der Festsitzung des Parlaments zitiert: von Parlamentspräsident Arinc, den ich nach der Sitzung traf und den ich persönlich als sehr sympathisch empfand, von Ministerpräsident Erdogan als Vorsitzender der AK-Partei, und besonders von Denis Baykal, dem Oppositionsführer. Er ist Vorsitzender der CHP, die sich von Atatürk gegründet sieht und sich der Kemalistischen Ideologie des einheitlichen, nationalen und laizistischen Staat besonders verbunden fühlt.
Aber nicht der Nationalfeiertag als solches war der Anlaß meiner Reise in die Türkei, sondern ein Symposium anläßlich dieses Feiertages, das sich im Parlamentsgebäude der Änderung der türkischen Verfassung widmete. Ich sollte, so wie drei andere KollegInnen aus dem Europäischen Parlament, die Ideen und Vorschläge der türkischen Experten bewerten und kommentieren.

Vage Bestimmungen

Ich nahm im besonderen zur Rolle der Parteien und des Militärs Stellung. Was das erstere betrifft, gibt es ja in der Türkei nach wie vor Bestimmungen, die das Verbot von politischen Parteien relativ leicht machen, etwa wenn das Statut, das Programm oder die Aktivitäten der Parteien gegen die „unteilbare Integrität des Staates mit seinem Territorium und seiner Nation“ oder gegen die „laizistische Republik“ verstößt. Die erste Bestimmung wurde und wird angewandt, um gegen „separatistische“ kurdische Parteien vorzugehen, die zweite, um „islamistische“ Parteien zu verbieten. Diese Bestimmungen und die darin gebrauchten Begriffe sind meiner Meinung nach zu vage, um sie rechtsstaatlich anzuwenden.
Was nun die Rolle des Militärs betrifft, so sind die Bestimmungen hinsichtlich des Nationalen Sicherheitsrates in den letzten Jahren gelockert und „demokratisiert“ worden.

Militär entkräften

Dennoch müsste einiges geändert werden, um der europäischen Rechtsstaatlichkeit zu entsprechen. So wird der Generalstabschef gleich unmittelbar nach dem Ministerpräsidenten genannt – noch weit vor dem zivilen Verteidigungsminister, und der Staatspräsident als Vorsitzender des nationalen Sicherheitsrates muss bei der Festsetzung der Tagesordnung nur auf die Vorschläge des Ministerpräsidenten und des Generalstabes Rücksicht nehmen. Überdies wird „nationale Sicherheit“ sehr weitgehend definiert und umfasst auch die Verteidigung der nationalen Errungenschaften, wie die Einheit des Staates und die säkuläre Republik etc.
Nun, kein ernst zu nehmender Mensch kann ein Interesse haben, dass ein derart großes und regional so bedeutendes Land wie die Türkei zerfällt oder islamistisch regiert wird. Aber letztendlich müssen starke rechtsstaatliche und zivile Institutionen vom Parlament bis zum Verfassungsgerichtshof die Kontrolle und den Schutz der Verfassungsziele übernehmen und nicht das Militär.

Und wieder: die Beitrittsfrage

Natürlich waren auch der Irakkrieg und, wie immer eigentlich, die angestrebte Mitgliedschaft der Türkei in der EU, Themen der Gespräche am Vorabend und am Rande der Tagung. Einer der Gesprächsteilnehmer, ein mir schon länger bekannter Wissenschaftler, meinte bezüglich des Irakkrieges und der Ablehnung des Angebotes der USA, daran teilzunehmen, habe die Türkei moralisch richtig, strategisch aber falsch gehandelt. Manche befürchten nämlich, dass das Verhältnis zu den USA sich verschlechtert hat, ohne sich zu Europa nachhaltig zu verbessern.
Aber vielleicht ist es – zumindest für die nächste Zeit – das oberste Interesse der Türkei, als bedeutende Regionalmacht mit den USA ein enges Bündnis zu pflegen und dennoch die Beziehungen zur EU schrittweise auszubauen. Das schließt eine spätere Mitgliedschaft nicht aus. Aber weder die strategische Rolle der Türkei in dieser unruhigen Region, noch die inneren Verhältnisse lassen derzeit eine klare und rasche Beitrittsperspektive zu.

In der Sommerresidenz des Staatsgründers Atatürk

Die Tagung, zu der man mich einlud, fand im Parlament in Ankara statt. Jetzt mache ich Zwischenstation in Istanbul. Das türkische Parlament hat mich im Florya-Hotel einquartiert, einem Hotel, das der Taxifahrer vom Flughafen aus nur mit Mühe fand, obwohl es sich in der Nähe des Flughafens befindet. Denn eigentlich ist es gar kein Hotel, sondern die Sommer- und Baderesidenz des Staatsgründers Atatürk. So habe ich am Jahrestag der Gründung des türkischen Parlaments durch Atatürk die Gelegenheit, meine Gedanken über die heutige Situation in der Türkei mit Blick aufs Meer zu sammeln. Es ist zu kalt, um baden zu gehen, aber die Ruhe, die hier schon Atatürk genossen hat, ist noch zu spüren.
Die Zeiten für die Türkei sind heute allerdings fast so unruhig wie vor 83 Jahren. Atatürk hat den Weg, den die Türkei gehen sollte, vorgezeigt. Diesen Weg aber heute mit den notwendigen Änderungen und Anpassungen zu gehen, fällt der Türkei sehr schwer.
Istanbul, 23.4.2003