Auf höchster Ebene

Unabhängig von der Parteizugehörigkeit des Ministerpräsidenten und der jeweiligen Parteienzusammensetzung der Regierung haben wir in der Europäischen Sozialdemokratie ein klares Ziel vor Augen: Die Krisenregion Balkan muss in Europa integriert werden.
Donnerstagmittags fuhr ich gemeinsam mit unserem Fraktionsvorsitzenden Martin Schulz nach Kroatien. Wir waren vom kroatischen Ministerpräsidenten Ivo Sanader eingeladen worden, ihm einen offiziellen Besuch abzustatten. Sanader wollte die Basis für die Unterstützung für den Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union ausbauen.

Politische Taktik

Unsere Freunde der sozialdemokratischen Partei Kroatiens waren darüber nicht gerade glücklich. Wir machten ihnen aber klar, dass wir eine offizielle Einladung des kroatischen Ministerpräsidenten nicht ablehnen können und wollen. Wir forderten sie auf, Termine zu organisieren, bei denen wir sie im Rahmen unseres Besuches treffen könnten. Zudem war der Vorsitzende der kroatischen Sozialdemokraten von Sanader gebeten worden, den gemeinsamen EU-Ausschuss zu leiten, da er die Bestrebungen Kroatiens, der EU beizutreten, von vornherein auf eine breite Basis stellen wollte.
Ich mache mir keine Illusionen darüber, dass hinter dieser Vorgangsweise Sanaders auch eine Menge taktisches Geschick steckt. Aber das ist ein Teil politischen Handelns, um jene Ziele, die man sich gesetzt hat, auch tatsächlich zu erreichen.

Treffen mit Racan und Piccula

Bei unserer Ankunft wurden wir protokollgemäß von der Regierung empfangen und im Anschluss den KollegInnen der Sozialdemokratischen Partei „übergeben“. Wir führten Gespräche mit deren Vorsitzendem, dem früheren Ministerpräsidenten Ivica Racan. Racan ist eigentlich ein sehr introvertierter Mensch und besticht nicht auf den ersten Blick. Er braucht eine Anlaufzeit, um sich entfalten zu können. Racan wurde vom früheren Außenminister Tonino Piccula begleitet, der heute Bürgermeister und Abgeordneter im kroatischen Parlament ist.
Nach dem ca. eine Stunde dauernden Gespräch mit Racan und Piccula gaben wir eine gemeinsame kurze Pressekonferenz. Anschließend setzten wir unser Gespräch fort. Racan ging nun endlich aus sich heraus, als er vom Zusammenbruch Jugoslawiens und den noch bestehenden Grenzkonflikten zwischen Slowenien und Kroatien über den Meerzugang berichtete.

Einigkeit über den Betritt

Am Abend lud uns der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses des kroatischen Parlaments sowie des gemischten parlamentarischen Ausschusses EU-Kroatien zu einem Arbeitsessen ein. Er hatte auch verschiedene ParlamentarierInnen aus den unterschiedlichen politischen Gruppen zu diesem Treffen gebeten – von den Sozialdemokraten bis zu VertreterInnen der Rechtsparteien.
Es entspann sich eine lebhafte Diskussion über Europa, über Kroatien in Europa und auch über das Erbe des Kommunismus. Bei den einzelnen Abgeordneten haben sich in diesem Punkt unterschiedliche Anschauungen herauskristallisiert. In der europäischen Frage und hinsichtlich des Wunsches, Kroatien möglichst bald zum Mitglied der Europäischen Union zu machen, nahmen sie allerdings eine relativ einheitliche Position ein.

Bei Ivo Sanader

Am kommenden Morgen frühstückten wir mit den Botschaftern, besuchten die Vertretung der Europäischen Kommission und trafen schließlich Ministerpräsident Ivo Sanader. Dieser hatte seine Außenministerin sowie seinen Kulturminister, der viel fotografierte, zu unserem Gespräch eingeladen. Auch der Chefverhandler, der Botschafter Kroatiens in Brüssel und der für EU-Fragen und regionale Zusammenarbeit zuständige Staatssekretär des Außenministeriums sowie Sanaders Kabinettschefin waren anwesend.
Obwohl fast sein ganzes Team an dem Gespräch teilnahm, war es auf kroatischer Seite fast ausschließlich Sanader, der das Gespräch bestimmte. Er betonte einmal mehr die Notwendigkeit, Kroatien in die Europäische Union zu führen, drängte dabei aber auf kein bestimmtes Datum. Klar sprach er sich für die Vollendung der Maßnahmen zur Flüchtlingsrückkehr aus. Er signalisierte seine Bereitschaft zu einer starken regionalen Zusammenarbeit. Und er wiederholte seinen Wunsch, vor der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament zu sprechen. Und das, obwohl er ja aus dem anderen politischen Lager kommt. Sanader ist Vertreter der ehemaligen Tujdman-Partei HDZ, also einer streng konservativen Partei, die er allerdings in vielen Bereichen modernisiert und in Richtung einer mitte-rechts stehenden Volkspartei entwickelt hat.

Mangelnde Meinungsfreiheit

Ich selbst schnitt bei unserem Gespräch eine Frage, die uns im Europäischen Parlament beschäftigt hat. Einige JournalistInnen, unter anderem auch aus dem kroatischem Rundfunk und Fernsehen, sind massiv unter Druck geraten, weil sie die Ära Tudjman kritisch hinterfragt und damit am Image des großen rechten Führers gekratzt haben. Wie immer man zu Tudjman steht: Es muss in einer Demokratie möglich sein, dass Journalisten ihre Sicht der Dinge darstellen und Aspekte präsentieren, die manchen politisch nicht genehm sind.
Sanader gab mir Recht. Er meinte, es zwar sei an jenem Tag, an dem diese Frage im kroatischen Parlament diskutiert worden ist, nicht anwesend gewesen. Aber er habe seinen KollegInnen ganz unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass die Freiheit der JournalistInnen und der Medien gewahrt werden müsse. Mir ging es nicht darum, die Worte Sanaders auf die Goldwaage zu legen. Ich wollte aber zeigen, dass wir in Europa und im Europäischen Parlament derart kritischen Entwicklungen, insbesondere im Medienbereich, sehr Ernst nehmen und auch entsprechend dazu äußern.

Bei Stipe Mesic

Im Anschluss an Sanader besuchten wir Staatspräsident Stipe Mesic. Ich kenne Mesic schon länger und war erstaunt, dass auch er mich wieder erkannt hat. Er bat mich sofort zu sich, um ein gemeinsames Foto aufzunehmen. Mesic verfügt nur über begrenzte Macht. Aber er nützt diese Macht aus, um mit den entsprechenden rechtlichen Begründungen in jenen Bereichen zu intervenieren, von denen er annimmt, dass es zu keiner für ihn befriedigenden Lösung kommt.

„Hausgemachte“ Abspaltung

Mesic ist nach wie vor tief in Beziehungen zu den früheren jugoslawischen Gliedstaaten verhaftet. Er war der letzte Staatspräsident des alten Jugoslawien. Wie ich erst jetzt erfahren habe, saß Mesic mit Franjo Tudjman und dem letzten Ministerpräsidenten Ante Markovic im Gebäude des Sitzes des jetzigen Premierministers zusammen, als einige MIGs der jugoslawischen Nationalarmee das Gebäude bombardiert hatten. Nach einer rechtzeitigen Warnung konnten sich die Drei in den Keller flüchten und so vor dem Angriff schützen.
Durch diesen Anschlag war klar geworden, dass die jugoslawische Armee Milosevic nicht dulden und es zu anderen Struktur kommen wird. Milosevic wollte die Abrennung Kroatiens durch einen Krieg verhindern, letztendlich kam es aber zur totalen Abspaltung. In dieser Frage die einseitige Haltung einzunehmen, die damalige Unterstützung Österreichs und Deutschlands für Kroatien sei die Ursache für das Auseinanderfallen des alten Jugoslawien gewesen, ist historisch nicht haltbar. Hätte es darüber in der Europäischen Union eine große Übereinstimmung gegeben, hätte man vielleicht darauf drängen können, dass dieser Auflösungsprozess friedlich vor sich geht – ähnlich wie bei der tschechischen und der slowakischen Republik, die aus der Tschechoslowakei hervorgegangen sind. Alles andere wäre eine Illusion.

Wie geht es weiter im Kosovo?

Stipe Mesic residiert in einem historischen Gebäude, das in den 60er Jahren für Tito errichtet worden ist. Tito mochte dieses Haus nicht, da es extrem groß ist. Es verfügt aber durchaus über den Stil jener Zeit: es ist transparent, es gibt unzählige Glasfassaden, man hat herrliche Ausblicke. Auch das Gespräch mit Mesic drehte sich in erster Linie um die früheren jugoslawischen Teilstaaten, die nun selbstständig geworden sind.
Uns interessierte in besonderem Maße die Situation im Kosovo. Mesic war am Tag zuvor beim Begräbnis von Ibrahim Rugova, dem Präsidenten des Kosovo, gewesen. Er und der albanische Präsident waren die einzigen, die an der eigentlichen Grablegung teilnehmen durften, während die anderen Staatsgäste lediglich dem Trauerakt beiwohnten.

Plädoyer für die Unabhängigkeit

Bei aller Vorsicht ging Stipe Mesic von der Unabhängigkeit des Kosovo aus. Er pflegt schon seit längerem gute Beziehungen zur kosovo-albansichen Führung. Mesic erzählte uns, wie Tito nach einer anfänglich zögerlichen Haltung den Kosovo-Albanern schließlich doch eine Autonomie verliehen hat, die de facto mit der Autonomie der Teilrepubliken des alten Jugoslawien gleichberechtigt war. Und er erzählte uns, wie Milosevic das alles wieder zerstört und die Kosovo-Albaner in eine Parallelstruktur hineingedrängt hat.
Mesic merkte an, dass Serbien stets seine Geschichte betone und den Kosovo immer als einen Teil Serbiens bezeichne. Genauso sollte es aber deklarieren, dass die Vojvodina historisch gesehen nie ein Teil Serbiens war, sondern erst nach dem Ersten Weltkrieg zu Serbien gekommen ist. Serbien, so meinte Mesic, könne nicht bei der Vojvodina darauf pochen, dass dort viele Serben leben und sie daher serbisch sei und beim Kosovo beanspruchen, dass, obwohl dort viele Kosovo-Albaner leben, er trotzdem serbisch bleiben müsse, weil das schon seit Jahrhunderten so war.

Fingerspitzengefühl ist gefragt

Aus meiner Sicht fährt der Zug klar in Richtung Unabhängigkeit. Es geht jetzt um das Wann, das Wie, um die Voraussetzungen, um den Schutz der Minderheiten und der Kulturgüter. Es handelt sich zweifellos um eine schwierige Frage für Serbien und dessen Nationalgefühl. Aber diese Frage muss in der nächsten Zeit gelöst werden – mit viel Fingerspitzengefühl und großer Unterstützung anderer serbischer Anliegen.
Allerdings wurden zwei der vermutlichen Hauptkriegsverbrecher – Mladic und Karadzic – aus dem serbischen Bereich bzw. aus der Republika Srpska aus Bosnien-Herzegowina bisher nicht gefasst und dem Kriegsverbrechertribunal überstellt. Das stellt ein Problem dar und erschwert die Zusammenarbeit mit Serbien ohne jeden Zweifel.

Dazugelernt

Aber zurück zu Kroatien. Das Land hat seine Beziehungen zu Serbien wieder aufgenommen. Sanader besuchte Serbien, Kostunica Kroatien, und bald wird ein weiteres Treffen stattfinden. Sanader wie auch Mesic sind Vertreter einer Politik, die für diese Stärkung der Beziehungen steht. Sie unterstützen auch die serbische Einigkeit von Bosnien-Herzegowina. All jene Punkte, die Sanader unter Racan kritisiert hat, setzt er jetzt selbst um. Es ist positiv zu bewerten, dass er bei den wichtigen internationalen Aspekten auf der Politik Racans aufbaut.
Wir hatten Racan bei unserem Zusammentreffen gefragt, warum es nach der Verhaftung von General Gotovina, dem Volkshelden aus dem Krieg gegen Jugoslawien, und seiner Überstellung zum Kriegsverbrechertribunal nur kurze Demonstrationen gegeben und sich alles relativ schnell im Sand verlaufen hat. Racan meinte, als er Ministerpräsident gewesen sei und als Verräter kritisiert worden war, der mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zusammenarbeite, hätten Sanader und seine Partei unzählige Demonstrationen mobilisiert und organisiert. Dies sei nun nicht mehr der Fall, und deshalb sei es relativ rasch zu einem Rückzug der DemonstrantInnen gekommen.

Die Wurzeln der HDZ

Am letzten Tag unseres Besuches in Zagreb fand ein Abschlussessen auf Einladung des Staatssekretärs im Außenministerium statt. Wir genossen im Restaurant Dubrovnik am Fuße des Burgviertels, wo sich Parlament und Regierungssitz befinden, ausgezeichnete dalmatinische Küche.
Vor diesem Essen führten wir noch ein kurzes Gespräch mit einem stellvertretenden Parlamentspräsidenten der konservativen HDZ, der auch schon in der kommunistischen Partei eine Rolle gespielt hat. Dies macht die Vorwürfe HDZ, die Sozialdemokraten seien die Nachfolger Kommunisten, eigentlich lächerlich.

Den Balkan integrieren

Insgesamt war unser Besuch in Kroatien erfolgreich. Unabhängig von der Parteizugehörigkeit des Ministerpräsidenten und der jeweiligen Parteienzusammensetzung der Regierung haben wir in der Europäischen Sozialdemokratie ein klares Ziel vor Augen: Die Krisenregion Balkan muss in Europa integriert werden. Diese Haltung ist angesichts mancher politischer Verhältnisse, gerade auch in Kroatien, das durch eine starke katholische Orientierung geprägt ist, keine Selbstverständlichkeit.
Ich bin sehr froh, dass ich als Motor dieser Entwicklung – gemeinsam mit meinem holländischen Kollegen Jan Marinus Wiersma – meine Fraktion davon überzeugen konnte, bei einer Tagung in Ljubljana ein entsprechendes Positionspapier zu beraten und anzunehmen. Auch mit diesem Besuch konnten wir klar die Richtung aufzeigen, in die sich unserer Überzeugung nach die kritische Region des Balkans entwickeln muss.

Keine schwarzen Löcher zulassen

Wir dürfen diese Frage nicht den Konservativen überlassen, sondern müssen sie von uns aus aktiv vorantreiben. Alles andere würde die Krisensituation in der Region perpetuieren und verschärfen. Auch die Abwanderung würde forciert.
Wir brauchen in Europa keine schwarzen Löcher, die Gefährdungen produzieren. Wir brauchen eine stufenweise – nach Maßgabe der Reformen in der Europäischen Union, aber auch in der Region – zu entwickelnde Integration aller Staaten im Süd-Osten Europas in die Europäische Union.
Zagreb, 26.1.2006