Auf historischem Boden

Der geschichtsträchtige Boden in Polen, der mit viel Blut und sicher auch mit viel Hass getränkt ist, ist leider auch etwas Europäisches. 
Der Morgen hat gut begonnen. Ich war pünktlich am Flughafen, die Maschine nach Wien startete ebenfalls fast pünktlich – aber dann, plötzlich, kehrten wir nach Warschau zurück, auf Grund technischer Probleme, was immer das bedeutete. So sitze ich nun, anstatt am Wiener Flughafen in eine Maschine nach Skopje umzusteigen, in der Ankunftshalle des Warschauer Flughafens und warte auf weitere Informationen.

Polnische Innenpolitik

Das gibt mir aber zugleich auch die Gelegenheit, meine Erfahrungen des gestrigen Tages noch einmal Revue passieren zu lassen. In der Früh ging es zu Leszek Miller, dem Vorsitzenden der SLD, der allerdings auf Grund der im Land herrschenden Regierungskrise nicht in seinem Büro war, weil er zu Präsident Kwasniewski gerufen worden war. Stattdessen empfing mich sein Stellvertreter, Bokowski, der Vizepräsident des Parlaments, ein sehr sachlicher und versierter Vertreter der SLD, gemeinsam mit dem Internationalen Sekretär Jewinski.
Wir konnten uns ausführlich über die verschiedenen Aspekte der polnischen Innenpolitik, das Reformprogramm der Regierung im Gegensatz zur SLD und die angestrebte EU-Erweiterung unterhalten. Was die Frage der Privatisierungen bzw. Reprivatisierungen betrifft, so sprachen sich die Vertreter der SLD zwar nicht gegen gewisse Entschädigungen für jene aus, deren Vermögen verstaatlicht worden ist. Aber sie meinten, dass die Entschädigungen nicht in einem Ausmaß erfolgen könnten, das die Finanzen des Staates überfordern würde.
Vielmehr sei es vernünftig, eine niedrigere Entschädigung in gleichem Ausmaß für alle auszuzahlen bzw. ähnlich wie im ungarischen Modell jenen, die weniger verloren haben, einen höheren Prozentsatz zu geben als den ganz Reichen.
Hinsichtlich der landwirtschaftlichen Problematik versuchten auch die Vertreter der SLD klar zu machen, dass die kolportierten 25-27% der Bevölkerung, die von der Landwirtschaft abhängig sind, zu hoch gegriffen seien. Nach ihren Einschätzungen sind das 10% bis maximal 13%. Auch sie sind überzeugt, dass die Regierung zu wenig unternimmt, um alternative Arbeitsplätze im landwirtschaftlichen bzw. ländlichen Bereich zu schaffen.

Machtwechsel

Die Vertreter der SLD sind nicht ungeduldig, was die wirtschaftliche und politische Entwicklung im Lande betrifft. Sie gehen davon aus, dass es im heurigen Jahr keine Wahlen mehr geben wird, und dass sie im kommenden Jahr als führende Kraft – vielleicht sogar mit einer absoluten Mehrheit ausgestattet – die Regierung übernehmen werden. Sie sind sich dabei bewusst, dass die Finanzlage keineswegs rosig ist, da die jetzige Regierung einerseits massiv die Steuern gesenkt hat und andererseits eine teure Reprivatisierung vornimmt, sodass für die Infrastruktur, für die Ausbildung der jungen Menschen im Lande zu wenig Geld vorhanden ist.

Die Gewerkschaften

Nach diesem Besuch bei der SLD ging es weiter in die Friedrich Ebert Stiftung, deren Leiter Hermann Bünz meine Polen-Reise in einer sehr effizienten Weise organisiert hat. Dort informierten wir uns über das Programm der Friedrich Ebert Stiftung und über das Programm jener, die in der Gewerkschaftsarbeit sehr aktiv tätig sind.
In Polen gibt es zwei Gewerkschaften: zum einen die Solidarnosc, die sich als christliche Gewerkschaft versteht und in enger Verbindung mit der ADS steht, einer politischen Sammelbewegung, die derzeit mit der Freiheitsunion die Regierung und auch den Regierungschef stellt und zum anderen die aus den ehemaligen kommunistischen Gewerkschaften hervorgegangenen Arbeitnehmervertretungen, deren Zentrale zwar relativ geschwächt ist, die aber in einzelnen Branchen durchaus stark vertreten ist. Solidarnosc ist im Unterschied zur ehemals kommunistischen Gewerkschaft auch Mitglied im Europäischen Gewerkschaftsbund. Auf Ebene der Betriebe gibt es eine Zusammenarbeit, überbetrieblich allerdings herrscht eher Konkurrenz als Kooperation vor.
Auch im Rahmen der Friedrich Ebert Stiftung versucht man, mit den Gewerkschaften in Kontakt zu kommen und außerdem internationale Kontakte mit Gewerkschaftern in anderen Ländern herzustellen. Die Gewerkschaften in Polen leiden sicherlich darunter, dass es einerseits keine wirklich langjährige Tradition der Gewerkschaftsarbeit gibt und dass andererseits viele neue Investoren in Polen nicht bereit sind, das zu tun, wozu sie in ihren eigenen Herkunftsländern bereit sein müssen: mit den Arbeitnehmervertretern zu kooperieren, um ein funktionierendes Sozialpartnerschaftssystem aufrechtzuerhalten.

Von Zerstörung keine Spur mehr

Am frühen Nachmittag ging es dann weiter nach Danzig, Gdansk genannt. Danzig ist eine Stadt, die historisch berühmt ist und leider auch dadurch bekannt wurde, dass sie im Krieg total zerstört worden ist – einerseits durch die Angriffe der Deutschen und andererseits durch die Angriffe der Alliierten. Es ist unfassbar, wenn man die Bilder der zerstörten Stadt Danzig sieht und wie die Stadt heute zum Großteil wieder in ihrer alten bzw. mittelalterlichen barocken Struktur aufgebaut worden ist.
Zuerst ging es in Danzig zum Stadtpräsidenten, Pawel Adamovicz. Er ist ein Vertreter der ADS, aber ein moderner und durchaus nach vorne blickender Mann, der sich bemüht, für die Stadt neue Investoren zu finden, da er weiß, dass die alten Industrien nur mehr zum Teil zukunftsträchtig sind. Zwar gibt es in den Danziger Werften, die nicht zuletzt durch Lech Walensa bekannt geworden sind, heute noch etwa 3000 Mitarbeiter. Aber auf der anderen Seite sind das doch deutlich weniger, als es noch vor 10 Jahren der Fall war.

Suche nach Investoren

Danzig ist also wie viele andere Städte auf der Suche nach neuen Investoren und ist auch aus diesem Grund gegen lange Übergangsregelungen beim Grundstückskauf, wie es die Regierung auch auf Druck der Bauernpartei verlangt. Die Bauern fürchten einen Ausverkauf insbesondere an die Deutschen und fordern daher eine bis zu 15 Jahre währende Ausnahmeregelung von der Liberalisierung des Grundverkehrs. Adamovicz meint wiederum, das sei viel zu lange, da man ja Investoren an sich ziehen wolle, die Grundstücke und Industrie aufkaufen und nicht langjährige Verfahren beim Innenministerium in Kauf nehmen möchten, um zu einem Liegenschaftseigentum zu kommen.
Was die Regierungskrise in Polen betrifft, so geht er davon, dass es wahrscheinlich noch heuer oder im nächsten Jahr zu Wahlen kommen wird und er hofft, dass die SLD im Falle ihres Wahlsieges als erneuerte Partei demokratisch, rational und reformorientiert arbeiten wird. In Danzig selbst gibt es natürlich oft politische Auseinandersetzungen, weil die Verfolgten des alten kommunistischen Regimes mit jenen, die entweder direkt in der alten Zeit in der kommunistischen Partei tätig waren oder sich in gewisser Weise als Nachfolger fühlen und auch gerieren, gemeinsam im Stadtsenat sitzen.
Diese Konflikte treten in dieser Stadt, die der Ausgangspunkt und Ursprung vieler Protestbewegungen im Kommunismus und letztendlich die Geburtsstadt der Solidarnosc gewesen ist, sicher deutlicher als in anderen Regionen Polens zu Tage.
Gemäß Pawel Adamovicz handeln manche eher wie die PDS, und noch nicht alle so wie die SPD. Das muss aber aus seiner Sicht das Ziel für die SLD sein. Erst dann kann er sich durchaus eine gute Zusammenarbeit mit dieser Partei vorstellen.

Im Solidarnosc-Hauptquartier

Nach diesem Gespräch, das im nicht sehr schmucken „kommunistischen“ Rathaus stattfand, besuchte ich das Hauptquartier der Solidarnosc und traf dort den Internationalen Sekretär Andrzej Adamczyk. Später stieß auch noch der Vizepräsident von Solidarnosc, Adamek, zu uns. Adamczyk ist ein sehr lebendiger, versierter, viele Sprachen sprechende Vertreter der Gewerkschaft Solidarnosc. Er berichtete, dass er unmittelbar von einer Konferenz an der deutsch-polnischen Grenze zurückgekehrt war, wo die Europakommission der Europäischen Gewerkschaften getagt hatte. Alle bis auf die österreichische Vertreterin hätten dort zugestimmt, dass es bei der Freizügigkeit am Arbeitsmarkt keine Übergangsregelungen geben soll.

Die Zuwanderungsdebatte

Das hat natürlich sofort zu einer diffizilen Debatte zwischen uns geführt. Ich meinte, es sei nicht sehr ehrlich, wenn Gewerkschaftsvertreter aus der Europäischen Union so tun, als gäbe es das Problem der Migration, des Einpendelns auf den europäischen und insbesondere den deutschen und österreichischen Arbeitsmarkt nicht. Ich bleibe dabei: Es wird bei dieser Diskussion generell zu sehr übertrieben. Niemand kann vorhersagen, wie das Einpendeln sich wirklich gestalten wird. Ich selbst gehe nicht von einer massiven Zuwanderung aus.
Man sollte aber trotzdem ehrlich genug sein zuzugeben, dass ein Problem entstehen kann, und damit dieses Problem sich nicht schockartig auswirkt, muss es eine präventive Regelung geben. Eine Regelung, die auch entsprechend flexibel ist und jederzeit aufgehoben werden kann, falls es nicht zu den entsprechenden Wanderungsbewegungen kommt, sondern das eintritt, wovon in Osteuropa ausgegangen wird: dass nämlich die Wanderungsbewegung sehr gering sein wird.
Wenn aber Adamczyk selbst zugegeben hat, dass die Gewerkschaften natürlich damit rechnen, dass einerseits Menschen aus der Landwirtschaft kommen werden, die in ihrem Bereich kein Einkommen mehr finden und andererseits natürlich auch mit der Reform der Industrie Menschen „freigesetzt“ werden, dann ist ganz einfach mit einer höheren Arbeitslosigkeit zu rechnen. Und genau das kann – es muss nicht, aber es kann – durchaus zu einer erhöhten Migration führen. Das mag nicht zuletzt auch dann ein Problem für Polen werden, wenn hoch qualifizierte und gut ausgebildete Arbeitskräfte das Land verlassen wollen, weil sie in Regionen außerhalb ihres Heimatlandes wesentlich mehr verdienen können.

Gemeinsame Lösungen suchen und finden

Die polnischen Vertreter sind meistens sehr intensiv dabei, auf die psychologische Situation in ihrem Land zu verweisen, zu betonen, wie wichtig ein rascher Beitritt ist und wie schändlich und unangenehm es wäre, der eigenen Bevölkerung Übergangsfristen zuzumuten, sie gewissermaßen als europäische Bürger zweiter Klasse zu degradieren. Aber sie nehmen dabei oft nicht oder jedenfalls zu wenig auf die psychologische Situation in den Mitgliedsländern in der Europäischen Union Rücksicht. Die Erweiterung ist aber ein gemeinsamer Prozess, ein Prozess, bei dem man aufeinander zugeht und die Probleme, die sich im Zuge dieses Prozesses ergeben können, gemeinsam zu lösen versuchen muss.
Bei diesem Gespräch war nicht zuletzt interessant, dass Pawel Adamczyk, der doch aus der christlich orientierten Arbeiterbewegung stammt, jene Propaganda, die „Radio Maria“, ein katholischer Radiosender, verbreitet, als fundamentalistisch, rassistisch, antisemitisch und vor allem anti-europäisch bezeichnete und meinte, dass das eine besonders gefährliche Propaganda gegen die Mitgliedschaft in der Europäischen Union sei.

Das Blut ist fast getrocknet

Nach diesem Besuch bei Solidarnosc ging es weiter in die Stadt – zunächst zu jenem Denkmal, das noch während der kommunistischen Zeit von Vertretern der Solidarnosc als Mahnmal gegen die Diktatur und als Erinnerung an die vom kommunistischen Regime getöteten Vertreter von Solidarnosc errichtet wurde. Danach besuchten wir die Brigitta-Kirche, jene Kirche, die das Zentrum von geheimen Informationsaustäuschen gewesen ist und federführend für die Organisation der verschiedenen Aufstände in Danzig mitverantwortlich zeichnete. Unser nächster Weg führte uns schließlich in die Altstadt, die nach der Zerstörung im Krieg wieder errichtet worden ist und sich jetzt durchaus als lebendige Stadt präsentiert – mit all jenen Insignien des Massentourismus, die heute unverzichtbar sind.
Es war – jedenfalls für mich – ein politisch interessanter Besuch, der mir die Auseinandersetzungen zwischen Polen und Deutschen, zwischen Polen und Russen und zwischen Polen und Polen vor Augen führte. Dieser geschichtsträchtige Boden, der mit viel Blut und sicher auch mit viel Hass getränkt ist, ist etwas, das leider auch europäisch ist. Noch sind der Hass und die Gegensätze nicht überwunden, aber Europa kann sicher dabei helfen, die Konflikte zu überwinden und so zur Schaffung nicht nur eines neuen Europas, sondern auch eines neuen Polens beitragen. 
Warschau, 31.5.2000