Bei Vladimir Putin

Moskau führt gerne das Gespräch mit uns, übt große Kritik an Amerika, meint aber nicht, internationale und europäische Sicherheitsfragen könnten ohne Amerika diskutiert werden. Es will einen klaren, verantwortungsvollen Partner in der EU haben.
An unserem heutigen letzten Tag in Moskau trafen wir vormittags den stellvertretenden Außenminister Alexander Gruschko zu einem ausführlichen Gespräch. Außenminister Sergej Lavrov musste sich entschuldigen. Er war direkt von einem Treffen, das er gemeinsam mit Präsident Medwedew sowie mit Angela Merkel und Außenminister Steinmeier in Sankt Petersburg hatte, nach Armenien weitergereist.

Zurückhaltung

Mit Minister Gruschko diskutierten wir die gesamten Aspekte der Beziehungen zwischen Russland und Europa, insbesondere was die Frage des Schwarzen Meeres betrifft. Wir sprachen auch über meinen ursprünglichen Vorschlag einer Schwarzmeerunion, der mittlerweile von der Fraktion aufgenommen worden ist. Mit dieser Schwarzmeerunion wollen wir die Länder der Region, inklusive der Türkei, aber auch Russland, zusammenbringen, um gemeinsam die offenen Probleme zu lösen.
Dass Russland diesbezüglich zurückhaltend ist, ist nachvollziehbar, denn man will nicht, dass sich Europa allzu sehr engagiert. Aber es schien dann doch klar zu sein, dass Lukjanovs Einschätzung, Europas Engagement werde zwar nicht unbedingt gefördert, aber doch – im Unterschied zum Engagement der Nato – akzeptiert wird, zutrifft.

Im Weißen Haus

Im Anschluss an dieses Treffen sind Martin Schulz und ich zum Weißen Haus gefahren. Es war lange Zeit unsicher, ob es möglich sein wird, einen Termin bei Vladimir Putin zu bekommen und ob er nur den Fraktionsvorsitzenden allein empfangen will oder es möglich sein wird – was auch der Wunsch von Martin Schulz war -, dass ich ihn begleiten kann. Es war schon eine eher außengewöhnliche Einladung, die hier erfolgt ist, denn so schnell kommt ein Fraktionschef im Europäischen Parlament nicht dazu, den sowjetischen Premierminister zu treffen. Viele Außenminister und Kommissare haben schon länger den Wunsch gehabt, Putin zu treffen, aber es ist nicht möglich gewesen.
Wir waren daher durchaus angetan von der Tatsache, dass Putin für uns Zeit haben würde – und zwar viel Zeit: unser Gespräch dauerte eineinhalb Stunden. Putin schilderte ausführlich die Ereignisse des Sommers im Zusammenhang mit der Kaukasuskrise, zumindest so, wie er sie gesehen hat. Und er schilderte die Versuche, Bush doch noch von einem rechtzeitigen Stopp der Angriffe zu überzeugen – allerdings vergebens. Er hat uns außerdem seine Einschätzung der Intervention Frankreichs im Namen des Europäischen Rates und der Europäischen Union wiedergegeben. Da ich selbst Gelegenheit gehabt habe, Sarkozy im kleinen Kreis im Elyseé-Palast zu hören, bemerkte ich viele Übereinstimmungen und Parallelitäten in den Schilderungen Putins und Sarkozys.

Was uns eigentlich am meisten beeindruckt hat, war doch die klare Analyse Putins, dass Russland schon seit Jahren versucht, gemeinsam mit den USA und der EU viele Fragen zu lösen – sei es hinsichtlich des Iran oder der Entwickelung von Sicherheitskonzepten. Putin kam aber letztendlich zu dem Schluss, dass die USA nicht bereit gewesen sind, diesen gemeinsamen Weg mit Russland zu gehen – mit Ausnahme von formellen Belangen. Der Nato-Russlandrat ist für Putin unterm Strich kein Rat für gemeinsame Beratungen und Beschlüsse, sondern lediglich ein Rat für Mitteilungen der Beschlüsse der Nato an Russland. Und daran ist Russland eigentlich nicht interessiert. Russland hat sich jedenfalls mehr erwartet.
Die Nato ist für Putin per se keine demokratische Organisation, deren Grundlage auf breiter Basis aller Mitgliedsländer basiert. Vielmehr ist er überzeugt, dass im Wesentlichen die USA bestimmen. Und wenn die Nato gegen einen Beschluss sei, dann entschieden eben die USA allein bzw. bilateral mit einzelnen Nato-Mitgliedern – wie es etwa im Fall der Installation von Raketenschildern in Polen und der Tschechischen Republik sowie bei der Schaffung neuer Stützpunkte in Rumänien und Bulgarien geschehen sei. Auf diese Weise würden internationale Vereinbarungen, die früher zwischen Nato und Warschauer Pakt geherrscht haben, umgangen, indem nicht die Nato, sondern die USA die entsprechenden Stützpunkte schaffen.

Neo-Imperialismus ist nicht gerechtfertigt

Insgesamt hat Putin das Heranführen der Nato an Russlands Grenzen, dieses „Umzingeln“, stark kritisiert und als inakzeptabel bezeichnet. Er meinte, er fürchte nicht so sehr, dass die Ukraine oder Georgien Mitglieder der Nato seien, sondern vielmehr, dass die USA diese Mitgliedschaft benützen, um dort ebenfalls Stützpunkte unterzubringen und ihren militärischen Einflussbereich entsprechend auszudehnen.
Ich kann Putin nicht Unrecht geben – auch ich halte das für problematisch. Trotzdem ist dadurch das Entwickeln neo-imperialer Ideen Russlands nicht gerechtfertigt. Vor diesem Hintergrund darf man sich nicht wundern, dass Russland, wirtschaftlich durch erhöhte finanzielle Einnahmen und die entsprechenden Aktivitäten des frühren Präsidenten und jetzigen Premierminister Putin, versucht, seine Muskeln zu zeigen.

Internationale Sicherheitskonferenz

Zweimal hat Putin während unseres Gesprächs darauf hingewiesen, dass man die Idee von Präsident Medwedew nach einer Internationalen Sicherheitskonferenz aufgreifen sollte. Er versuchte uns zu vermitteln, dass man die Frage der Sicherheit nicht ausschließlich der Nato überlassen könne, sondern alle Staaten dieses Kontinents, ebenso wie Nato, OSCE und andere Organisationen einbeziehen sollte, um Vorstellungen darüber zu entwickeln, wie die Sicherheit in Europa gewahrt werden soll.
Wir versprachen, diese Anregung aufzugreifen und in diese Richtung weiterarbeiten zu wollen. Seitens der Fraktion haben wir bereits die Idee einer Schwarzmeerunion zum Gegenstand weiterer Überlegungen gemacht und werden in Kürze in Bulgarien und im Anschluss auch in Rumänien Tagungen dazu abhalten. Die Frage der europäischen Sicherheit ist in der Tat äußerst zentral.

Recht auf EU-Mitgliedschaft

In diesem Kontext kommen mir noch einmal die deprimierenden, aber sehr offenen und klaren Darstellungen von Fjodor Alexandrovitsch Lukjanov in den Sinn. Zieht man diese heran, so stellt sich einerseits die Frage, wie wir es verhindern können, dass die Nato sich ausdehnt, aber wie wir andererseits Ländern wie Moldawien, der Ukraine oder Georgien auch Unterstützung geben können. Hier wird es eines stärkeren Signals bedürfen, dass diese Länder ein Anrecht haben, in einem angemessenen Zeitraum – in 10, 15, 20 Jahren – bei entsprechender Vorbereitung auch Mitglieder der EU zu werden.
So habe ich meine Konzeption einer Schwarzmeerunion immer auch als Vorbereitung, als einen mittel – bis längerfristigen Ersatz für eine Mitgliedschaft einiger Anrainerstaaten des Schwarzen Meeres gesehen, nachdem wir diese zum jetzigen Zeitpunkt nicht anbieten können. Aber ich habe auch immer betont, dass es unseren BürgerInnen in Europa schwer zu verkaufen sei, dass wir der Ukraine schon jetzt eine Mitgliedschaft anbieten, selbst wenn wir hinzufügen, dass diese erst in 10 oder 15 Jahren in Kraft tritt. Schritte in diese Richtung zu tun, eine langfristige Perspektive zu entwickeln, scheint mir dennoch unabdingbar.

Verantwortungsvolle Politik einfordern

Das ist eine der Schlussfolgerungen, die ich aus diesem Besuch in Russland und aus den verschiedenen offiziellen und inoffiziellen Gesprächen ziehe. Wir müssen und sollen nicht gegen Russland kämpfen. Aber wir sollen für jene Länder, die im Einflussbereich Russlands stehen, eintreten, wir sollen ihnen eine längerfristige Perspektive geben, wir sollen sie einbinden und an die EU anbinden – ohne sie zu Abenteuern anzuleiten. Es gilt, ihnen eine verantwortungsvolle Politik nahezulegen, für Georgien genauso wie für die Ukraine.
Wir sind von Putin einen Tag nach dessen Treffen mit der ukrainischen Premierministerin Timoschenko empfangen worden. Timoschenko hat viele Stunden mit Putin verbracht, nicht zuletzt, um mit ihm Details des Energie- des Gaslieferungsvertrages auszuhandeln. Wie ich gehört habe, hat ihr Präsident Juschtschenko das Flugzeug, mit dem sie nach Moskau fliegen wollte, „weggenommen“, weil es angeblich technische Probleme mit seinem Flieger gab. So musste die Premierministerin mit einer kleineren Propellermaschine nach Moskau fliegen, weil keine andere Maschine zur Verfügung stand. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Juschtschenko Timoschenko permanent Schwierigkeiten macht. Und es zeigt, dass hier keine besonders verantwortungsvolle Politik betrieben wird. Vor diesem Hintergrund muss die Botschaft aus der EU eine positive für das Land, aber eine Negative für die unverantwortliche Politik sein.

Klarer Widerspruch

Es hat sich gezeigt, dass manche in Russland eher gestaunt haben, als die EU eine gemeinsame Position gefunden hat, die ausbalanciert und nicht total einseitig ist. Trotzdem oder gerade deswegen sind wir hier in Moskau ernst genommen worden. Moskau führt gerne das Gespräch mit uns, übt große Kritik an Amerika, meint aber nicht, internationale und europäische Sicherheitsfragen könnten ohne Amerika diskutiert werden. Es will einen klaren, verantwortungsvollen Partner in der EU haben.
Viele wollen gerade jetzt kritisch gegenüber Russland auftreten. Allzu oft sind es dieselben, die zugleich den Reformvertrag von Lissabon ablehnen. Das ist ein absoluter Widerspruch. Wer klar auftreten möchte, wer eine starke Position auch in den Verhandlungsgesprächen mit Russland sucht – und Russland würde das anerkennen, wenn es sich um ein faires Verhalten handelt – der muss letztlich für den Reformvertrag sein, weil wir nur durch ihn auch unsere Stärke demonstrieren können.

Moskau, 3.10.2008